Ihr, die ihr gesichert lebet
In behaglicher Wohnung;
Ihr, die ihr abends beim Heimkehren
Warme Speise
findet und vertraute Gesichter:
Denket, ob dies ein Mann sei,
Der schuftet
im Schlamm,
Der Frieden nicht kennt,
Der kämpft um ein halbes Brot,
Der stirbt auf ein Ja oder Nein,
Denket, ob dies eine Frau sei,
Die kein
Haar mehr hat und keinen Namen,
Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat.
Leer die Augen und kalt ihr Schoß
Wie im Winter die Kröte.
Denket,
daß solches gewesen,
Es sollen sein diese Worte in euren Herzen.
Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet
In einem Hause, wenn ihr
geht auf euren Wegen,
Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht;
Ihr
sollt sie einschärfen euern Kindern.
Oder eure Wohnstatt soll
zerbrechen,
Krankheit soll euch niederringen,
Eure Kinder sollen das Antlitz
von euch wenden.
Aus: Primo Levi "Ist das ein Mensch?"
Wikipedia schreibt:
Zwischen dem 17. Januar 1945 und dem 23. Januar wurden etwa 60.000 Häftlinge aus Ausschwitz evakuiert und in Todesmärschen nach Westen getrieben. In den Lagern und Außenstellen blieben etwa 7500 Häftlinge zurück, die zu schwach oder zu krank zum Marschieren waren. Mehr als 300 wurden erschossen; man nimmt an, dass eine geplante Vernichtungsaktion nur durch das rasche Vorrücken der Roten Armee verhindert wurde.
Zuerst wurde das Hauptlager Monowitz am Vormittag des 27. Januar 1945 durch die sowjetischen Truppen (322. Infanteriedivision der 60. Armee der I. Ukrainischen Front unter dem Oberbefehl von Generaloberst Kutotschkin) befreit. Von den dort zurückgelassenen Gefangenen — die Angaben reichen von 600 bis 850 Personen — starben trotz medizinischer Hilfe 200 in den Folgetagen an Entkräftung.
Das Stammlager und Auschwitz-Birkenau wurden – auch durch die Soldaten der 322. Division – schließlich am frühen Nachmittag des 27. Januar befreit. In Birkenau waren fast 5.800 entkräftete und kranke Häftlinge, darunter fast 4.000 Frauen, unversorgt zurückgeblieben. In den desinfizierten Baracken wurden Feldlazarette eingerichtet, in denen die an Unterernährung und Infektionen leidenden und traumatisierten Häftlinge versorgt wurden.
Einige Tage später wurde die Weltöffentlichkeit über die Gräueltaten informiert. Die Ermittler fanden über eine Million Kleider, ca. 45.000 Paar Schuhe und sieben Tonnen Menschenhaar, die von den KZ-Wächtern zurückgelassen wurden.
In den Jahren 1940 bis 1945 wurden in die Konzentrationslager Auschwitz mindestens 1,1 Millionen Juden, 140.000 Polen, 20.000 Sinti und Roma sowie mehr als 10.000 sowjetische Kriegsgefangene deportiert. Knapp über 400.000 Häftlinge wurden registriert. Von den registrierten Häftlingen sind mehr als die Hälfte aufgrund der Arbeitsbedingungen, Hunger, Krankheiten, medizinischen Versuchen und Exekutionen gestorben.
Die nicht registrierten 900.000 nach Birkenau Deportierten wurden kurz nach der Ankunft ermordet.
Als Obergrenze der Todesopfer im Konzentrationslager- und Vernichtungslagerkomplex Auschwitz wird die Zahl von 1,5 Millionen Opfern angegeben.
Ein Artikel aus der Zeitschrift "Die Zeit"
Mein Jahrhundertbuch (46)
Günter Kunert: "Ist das ein Mensch?" von Primo Levi
(Originaltitel: Se questo è un uomo)
Ist das ein Mensch?
So hieß das erste von Primo
Levi in Deutschland veröffentlichte Buch. Die Aufmerksamkeit
war, wie ich mich erinnere, nicht übermäßig
groß. Das Thema behagte nicht so recht. Denn Levi berichtete
über die Hölle, in der er selber gewesen war und die nun
einen Namen trug: Auschwitz. Im Gegensatz zu anderen Berichten
Überlebender macht Levis Buch, machen seine Bücher eine
Ausnahme. Sie sind nicht nur stilistisch eindrucksvoll, weil dieser
Mann ein Schriftsteller von hohen Graden gewesen ist, von einer
bedeutenden sprachlichen Kraft, sondern weil seine Ausgangsposition
eine gänzlich andere Basis als die anderer Geretteter
besaß. Primo Levi war studierter Chemiker, ein
wissenschaftlich gebildeter, analytischer Kopf, der seine
Erfahrungen unter anderen als nur moralischen Gesichtspunkten
protokollierte. Seine Biografie belegt den Zivilisationsbruch
unseres Jahrhunderts auf besondere Weise.
Mit einer unerhörten und erschreckenden Akribie notiert
Levi die Entmenschung der zum Tode verurteilten Juden Europas. Er
selber gerät, fast durch Zufall, in die Ungeheuerlichkeit.
Nachdem er sich in Italien einer Widerstandsgruppe, die von den
Faschisten ausgehoben wird, angeschlossen hatte, erklärt er
den Häschern, er sei nicht der Resistenzia wegen in die Berge
gegangen, sondern weil er Jude sei. Damit, so meint er, habe er das
kleinere Übel gewählt. Von Auschwitz wissen die
italienischen Juden nichts, einem Ort irgendwo in der Ferne, der
sich bald entpuppt, als was wir ihn kennen: die Stätte des
unvorstellbarsten Massenmordes in der europäischen Geschichte.
Levi hat "Glück" im Unglück. Er übersteht die
Selektion, da er ein Fachmann ist, dessen Kenntnisse man verwerten
kann. So gehört er zu den "Privilegierten", deren Sterben
aufgeschoben wird.
Haben wir nicht durch die Vorgänge im Kosovo die
Vergangenheit aufflackern sehen? Das Unheil lauert vor unserer
Haustür, und noch halten wir uns für dagegen gefeit,
bloß eine Garantie besitzen wir keineswegs.
Überleben ist Zufall, schreibt Levi. Eine eigene Leistung
ist es keineswegs. Und wer überlebt hat, kann mitnichten
aufatmen. Denn das Erlebte und Erlittene lässt sich nicht
vergessen. Primo Levi ist diese Vergangenheit durch seine
literarische "Erinnerungsarbeit" nie losgeworden. Die
eintätowierte Nummer hat das Gedächtnis wie die Psyche
stigmatisiert. Früher oder später erscheint dem
Überlebenden sein Dasein, das Dasein überhaupt sinnlos.
Die Schatten von gestern mehren sich, die Last des Gewesenen wird
schwerer bis zur Unerträglichkeit. "Ich weiß auch,
daß ich es immer gewußt habe", schrieb er rund 15 Jahre
nach Auschwitz, im Dezember 1961, "ich bin wieder im Lager, nichts
ist wirklich außer dem Lager, alles andere waren kurze Ferien
oder Sinnestäuschung, Traum ..." Im Jahr 1986 nimmt sich Primo
Levi das Leben.
Wer statt freundlicher Illusionen die Wahrheit über die
Menschen zu ertragen vermag, der lese seine Bücher.
Primo Levi:Ist das ein Mensch?
Ein autobiographischer Bericht;
aus dem Italienischen von Heinz Riedt; Deutscher Taschenbuch
Verlag, München 1992
Aus:
An die Nachgeborenen
von Bertolt Brecht
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist,
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst!
Der dort ruhig über die Strasse geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?
Ich wäre gerne auch weise,
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen.
Aber ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten.
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
Sassen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.
Die Kräfte waren gering. Das Ziel
Lag in grosser Ferne.
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.