Als ich Alexander Lang 1978 kennenlernte hatte er noch rote Haare und hieß nicht nur so, er war wirklich sehr lang. Mit vorgebeugten Schultern, den Blick nach unten oder innen gerichtet, eine Zigarette im Anschlag schob er sich jeden Morgen mit weiten Schritten die Reinhardtstraße entlang in Richtung DT.
"Philoktet" und "Die Insel" habe ich mindestens zehnmal gesehen. 100 Pfennig oder eine DDR-Mark für die Eintrittskarte, wenn Du am Theater engagiert warst.
Nach dem ersten Erleben von Grashof & Lang in der "Insel" konnte ich den Rest des Abends nicht sprechen, so sehr ist mir ihr Dialog in die Magengrube gehauen, die Musik, elektronischer Bach, die Intensität, die Zärtlichkeit zwischen den beiden gegen die Härte des Textes. Archaischer, körperlicher Widerstand getragen von der Nähe der beiden Spieler.
In einem Land ohne öffentlich sichtbarem Widerstand, erfuhr ich etwas über die Kraft des NEIN, mit all den erwartbaren schrecklichen Folgen, die solch ein Nein haben würde. Auch "Philoktets" Thema war das NEIN. In diesem Staat, der DDR, war NEIN ein gefährliches Wort, Zustimmung wurde erwünscht, gefordert, erpresst.
Das NEIN war sein Grundthema.
Er war mein Mentor. Ich, 20, verklemmt, verkopft und verkantet sprach ihm einen Antigone-Monolog vor und er reagierte mit der Frage: "Aber du weißt schon, dass sie sterben wird?" Wir rauchten gemeinsam eine Zigarette und er hat mich danach mit einem Stock durch die Probebühne gejagt, um mich aus meinem Kopf zu befreien. (Es war wildes Spiel, ohne echte Gewaltandrohung!) Er hat mich auch gefragt, ob ich mir, mit meinem Nachnamen, sicher bin, dass ich Schauspielerin werden will. Ich habe, ohne Kenntnis aller künftigen Kränkungen, aus voller Seele "JA" gesagt. Zu dem "JA" stehe ich heute noch.
"Miss Sara Sampson", "Ein Sommernachtstraum", "Danton's Tod", "Stella", "Karate Billi kehrt zurück" und "Die Dreigroschenoper" - viele, viele Proben, viele Krisen, viele Tränen, viel Gelächter, viel gelernt.
"Miss Sara Sampson" - Arabella, ein Kind, ich wurde in den Proben wegen meines lauten Hustens Bello genannt. Fred Düren, unvergleichlich, wunderbar, außerhalb der Proben schien es seine Hauptaufgabe zu sein, mich zum Lachen zu bringen. Es ist ihm immer gelungen, was Alex nicht mochte. Die Lachszene von Paryla und Ritter, Lachen geht extrem auf die Stimme, ein Ereignis. Zur Premiere drehte Chris ab, ins Universum.
"Stella", immer weinte einer. Gudrun Ritter meine persönliche Theatermama, keine konnte zarter wüten und besser rülpsen als sie. Margit Bendokat als Stella in der ersten Szene - "Er ist wieder da", Alex hatte uns nicht verraten, dass wir das Satyrspiel zur "Medea" sein würden. In der Premiere schockierte uns das Gelächter des Publikums, denn in den Proben gab es keine Zuschauer und so auch kein Gelächter.
"Ein Sommernachtstraum" - Hippolyta, ich musste lernen in Stöckelschuhen zu laufen, ein Vierteljahr Qual, aber dann konnte ich es, auch auf Schrägen. Die Aufführung wurde zur Generalprobe von der "Feuerwehr" verboten, wegen "Brandgefahr", denn unser wunderbarer Bühnenbildner Hans Brosch war im Westen geblieben. Dann ein neues Bühnenbild, Gero Troike erfand es, in der zweiten Generalprobe baute die Bühnentechnik, was wir, die Spieler vorher nicht wussten, das Bühnenbild ab, während wir noch spielten. Puck sprach:
Wenn wir Schatten nicht gefielen,
O! so denkt bey unsern Spielen,
Daß ein Schlummer euch befiel,
Daß ihr träumtet unser Spiel.
Eitel Blendwerk, leerer Schaum
War der Inhalt, wie ein Traum.
Und verzeiht ihr, was versehn:
So solls künftig besser gehn.
Ja! So wahr ich ehrlich bin!
Wenn wir bitterm Spott entfliehn,
Und der tadelnden Gewalt,
Wollen wir uns bessern bald.
Puck will sonst ein Lügner seyn.
Gute Nacht nun insgeheim!
Klatscht mir Beyfall! Ihr sollt sehn,
Künftig wirds schon besser gehen.
"Dantons Tod" - mein vibrierendes Grunderlebnis - Dialektik als sinnlich politisches Ereignis, im Osten war Robbespierre üblicherweise der Gute, im Westen war es Danton, und nun? Ein grandioser Schauspieler, Grashof kämpfte mit den so lieblich genannten zwei Seelen in seiner Brust, ganz akut, mit diametral entgegengesetzten Schlußfolgerungen und den daraus folgenden Aktionen. Roman Kaminski, Camille, wunderschön und wunderbar, auch am Klavier - das Kölner Konzert von Keith Jarrett - und Saint Justs mörderische Wut. Vor der Vorstellung hat er mich aber oft mit 'Anneliese' geärgert.
Zehn Jahre haben wir das Stück gespielt und geliebt. Die letzte Vorstellung, der nicht enden wollende Applaus und alle heulten.
Ich war Lucille, sie taucht zu Beginn zweimal auf und dann erst wieder am Ende. Zwischendurch saß ich mehr als eine Stunde in der Garderobe und hörte zu. Noch immer kann ich die meisten Texte auswendig. Wenn mein Finale begann, hörte ich jeden Abend wie die bereits "guillotinierten" Kollegen ihre Sehnsucht nach einem kühlen Bier äußerten. Roman Kaminski, mein Camille, hatte über viele Jahre einen Ausreiseantrag laufen, auf Gastspielen hielt man seine Familie als Geiseln, Er bekam die Ausreiseerlaubnis erst am 4. November 1989.
Dann ging Alex in den Westen, wo er als Thüringer und die Reibung brauchender Ostler, meiner Meinung nach, nie wirklich heimisch wurde, auch wenn er erfolgreich war und ich die trommelnden "Räuber" am Schillertheater sehr mochte.
Dann Alex Rückkehr ans Deutsche Theater 1991 mit dem Stück eines Wessis über den Osten, "Karate Billy kehrt zurück". Alex war verändert, mißtrauischer. Wenn wir lachten, war er nicht sicher, ob über ihn oder mit ihm. Rauchend und Kamillentee trinkend, machte er nie Pause, ich erfand schließlich Blasenentzündungen, um uns Rauchpausen zu erschleichen.
So klug, so belesen, so leidenschaftlich, ein Clown, ein Schauspielzauberer und ein manchmal Mistkerl.
"Die Dreigroschenoper" - Frage in einer Zuschauerdiskussion: Haben sie absichtlich nur Schauspieler besetzt, die nicht singen können? Uff. 120 ausverkaufte Vorstellungen und er hat mich wirklich gequält, mehr als nötig. Die Premiere am Bodensee, Gudrun Ritter, unsere Mrs. Peachum hatte eine allergische Reaktion auf eine Ischiasspritze und wir, halbgeschminkt und halbverkleidet, haben das Stück erzählt und die Lieder gesungen, so entspannt war wir nie wieder.
Nebenbemerkung. Ich bin keine gute Sängerin, aber sobald ich das besagte Lied erwähnte, das ich einmal "in einer kleine Kneipe in Soho" gehört hatte, war der Saal bereit und willig.
Er war Thüringer mit einem sehr speziellen Humor, aber wenn nicht thüringisch, gelegentlich auch gänzlich humorlos.
In "Solo Sunny" gibt es eine Szene, in der Sunny von sich erzählt und ihr Philosoph sie anschaut, sie sagt: "Du siehst mich an, wie durch ein Fenster".
Heute habe wir uns an ihn erinnert, im Deutschen Theater, seinem Spielplatz, nicht voll, aber auch nicht leer, wir leben in einer geschichtsvergessenen Zeit, oder? Es war ein guter Vornittag, Simone von Zglinicki brachte es, bezogen auf das Theater, auf den Punkt: "Ich wusste nicht, dass ich glücklich war, damals".
Ein normaler, sehr trauriger Vorgang, wir treffen uns zu Beerdigungen und um der Gestorbenen zu gedenken - Wer wird noch kommen? Wer ist inzwischen gesorben? Der Dorotheenstädtische Friedhof ist übersät mit Menschen, die ich bewundert habe, mit denen ich gespielt habe, die ich lieb hatte.
"Dantons Tod": Es ist doch was wie Ernst darin. Ich will einmal nachdenken. Ich fange an, so was zu begreifen. Sterben – Sterben –! – Es darf ja alles leben, alles, die kleine Mücke da, der Vogel. Warum denn er nicht? Der Strom des Lebens müßte stocken, wenn nur der eine Tropfen verschüttet würde. Die Erde müßte eine Wunde bekommen von dem Streich. Es regt sich alles, die Uhren gehen, die Glocken schlagen, die Leute laufen, das Wasser rinnt, und so alles weiter bis da, dahin – nein, es darf nicht geschehen, nein, ich will mich auf den Boden setzen und schreien, dass erschrocken alles stehn bleibt, alles stockt, sich nichts mehr regt. (Sie setzt sich nieder, verhüllt sich die Augen und stößt einen Schrei aus. Nach einer Pause erhebt sie sich:) Das hilft nichts, da ist noch alles wie sonst; die Häuser, die Gasse, der Wind geht, die Wolken ziehen. Wir müssen's wohl leiden.
NEIN!
Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung schreibt in seinem Nachruf:
Seinen schwärzlichen, aber doch herzlichen Humor hat er nie verloren. Auf die Frage, ob er verbittert sei, da in seiner Pankower Bude: „Was? Um Gottes willen! Nein, ich bin äußerst dankbar. Ich hatte eine tolle Zeit. Ich konnte noch richtig leben, mich auseinandersetzen, kämpfen. Ich musste mich nicht nur mit mir selbst beschäftigen, sondern mit den Umständen. Da wuchs man dran, das war toll und spannend und schlichtweg erfüllend.“Wenn man so etwas hört, bleibt man nun nachdenklich in der Gegenwart zurück, fühlt sich alleingelassen mit den irren Kriegen, dem Gesundheitswahn, der politischen Korrektheit, den ganzen selbstgebastelten Scherereien, die einen vom Eigentlichen abhalten. Und mit dem ganzen Theater. Er fehlt schon jetzt, aber sein Gemecker, das immer wieder ins Lachen und das wiederum ins Husten kippte, bleibt im Ohr.