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Sonntag, 1. Juli 2018

Dürer / Teschke / Melancholie

MELENCOLIA 1542

Inmitten der Trümmer Auf der Schwelle zum Goldenen Zeitalter
Inmitten der Instrumente Der Rechentafeln und Waagen
Ein grimmiger Engel mit neuen Waffen
Bücher und Zirkel Das Navigationsgerät der Gelehrten
Der Engel ist eine Frau Von Instrumenten umstellt
Im Gefieder die Asche der kommenden Schlachten
Das Erwachen der Vernunft gebiert noch nie gesehene Monster
Teufel in Menschengestalt Dämonen mit Karte und Kompass
Über dem Horizont ein blutiger Regenbogen
Die Fahne der geschlachteten Bauern Und ein verglühender Stern.

Holger Teschke 1994



































Albrecht Dürer

Die Felder auf diesem magischen Quadrat ergeben in alle Richtungen 34. Auch die vier Eckfelder und die vier Felder in der Mitte ergeben diese Summe. In der unteren Reihe ist außerdem die Jahreszahl des Stichs, 1514, enthalten. In der zweiten Reihe korrigierte Dürer eine 6 zu einer 5. Die 9 im Feld darunter geht auf eine ältere Schreibweise zurück.
https://www.albrecht-duerer-apokalypse.de/sein-werk/die-drei-meisterstiche/melencolia-i/

Das Todesdatum von Dürers Mutter Barbara, der 16.5.1514 ist auch zu finden.
Dürer sagte über seine Mutter, die achtzehn Kinder gebar, von denen nur drei überlebten:
„Diese meine fromme Mutter hat oft die Pestilenz gehabt und viele andere schwere Krankheiten, hat große Armut erlitten, Verspottung, Verachtung, höhnische Worte und andere Widerwärtigkeiten, doch ist sie nie rachsüchtig gewesen. Und in ihrem Tode sah sie viel lieblicher aus, als da sie noch das Leben hatte."

Auf einer Vorskizze hat Dürer notiert: "Schlüssel bedeutet Gewalt, Beutel bedeutet Reichtum."

Die Probleme beginnen mit der Identifizierung der Gegenstände auf dem Bild: Ist die sitzende Figur eine Frau, ein Engel, ein Mann, ein Genius? Ist das Bauwerk eine Baustelle, ein Pfeiler, ein Turm, ein Haus? Ist die kleine geflügelte Figur ein Putto, ein unschuldig kritzelndes Kind, ein böser Dämon, eine Assistenzfigur, die die höchsten Eingebungen der Melancholie notiert? Ist das Tier, auf dessen Flügel die Aufschrift "Melencolia I" steht, eine Fledermaus, ein Mischwesen aus Fledermaus und Echse oder der Drachen des Saturn? Ist das Zeichen "I" im Schriftzug der Flügel die Zahl "Eins", die Ordnungszahl "Erstens", der Buchstabe "I" in der Bedeutung des Imperativs des lateinischen "ire" (gehen), also: "Melencolia - geh weg!"? Ist der Bogen im Hintergrund ein Regenbogen, Mondbogen, der Saturnring? Ist die meteorartige Himmelserscheinung ein Komet oder Saturn? Welche Lichtquellen herrschen? Ist das Land im Hintergrund teilweise überschwemmt? Ist der Steinblock ein Säulenrest, die missratene Form von einem der Urkörper, die Konstruktion eines unregelmäßigen Polyeders oder die Darstellung der Kristallstruktur?


http://www.unterricht.kunstbrowser.de/theorie/interpretation/03c19899200b03c07/duerermelencolia.html

Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst. 
S. Freud

...der Zirkel ruht müßig in der Hand, zerstreutes, gramseliges Licht liegt auf zerstreuten Gegenständen, die Ordnung, welche sonst Gelehrtenstuben des sechzehnten Jahrhunderts auszeichnet, ist völlig fern, kein größerer Gegensatz als zwischen diesem Ensemble und dem aufgeräumten des Blatts "Hieronymus im Gehäuse". Das eben macht: Dürers Blatt "Melencolia" zeichnet, mit astrologischen Hilfsmitteln, die Angst als die Berührung mit einem möglichen Abgrund, der nicht einmal einen Boden hat, auf dem das Fallen zerschellt. Das Blatt zeichnet Stupor, worin eine in dauerndem Jetzt eröffnete Verzweiflung starrt; Dürers "Melencolia" ist so das unschätzbare Dokument negativen Staunens, gerade ohne Spuk und Hölle, selbst ohne die Bestimmtheit Saturn."
Ernst Bloch Das Prinzip Hoffnung Bd.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1985, S.350 f

"Ein gefügeltes Weib, das auf einer Stufe an der Mauer sitzt, ganz tief am Boden, ganz schwer, wie jemand, der nicht bald wieder aufzustehen gedenkt. Der Kopf ruht auf dem untergestützten Arm mit der Hand, die zur Faust geschlossen ist. In der anderen Hand hält sie einen Zirkel, aber nur mechanisch: sie macht nichts damit. Die Kugel, die zum Zirkel gehört, rollt am Boden. Das Buch auf dem Schoß bleibt ungeöffnet. Die Haare fallen in wirren Strähnen, trotz dem zierlichen Kränzchen, und düster-starr blicken die Augen aus dem schattendunklen Antlitz. Wohin geht der Blick? Auf den großen Block? Nein, er geht darüber hinweg ins Leere. Nur die Augen wandern, der Kopf folgt nicht der Blickrichtung. Alles scheint Unmut, Dumpfheit, Erstarrung.
Aber ringsherum ist alles lebendig. Ein Chaos von Dingen. Der geomertische Block steht da, groß, fast drohend; unheimlich, weil es aussieht, als ober fallen wolle. Ein halbverhngerter Hund liegt am Boden. Die Kugel. Und daneben eine Menge Werkzeuge: Hobel, Säge, Lineal, Nägel, Zange, ein Schnürtopf zum Farbenanrühren - alles ungenützt, unordentlich zerstreut.
Was soll das heißen? Als Erklärung steht oben, den Flügeln eines fledermausähnlichen Fabeltieres eingeschrieben, das Wort: Melencolia I."
Heinrich Wölfflin
Die Kunst Albrecht Dürers. München: Verlag F.Bruckmann, 1926, S. 247 f

http://www.unterricht.kunstbrowser.de/theorie/interpretation/03c19899200b03c07/duerermelencolia.html

Donnerstag, 18. Januar 2018

Max Beckmann findet Unterschlupf in Amsterdam

MAX BECKMANN. WELTTHEATER

Eine Ausstellung der Kunsthalle Bremen und des Museums Barberini, Potsdam. In Potsdam ist die Ausstellung vom 24. Februar bis 10. Juni 2018 zu sehen.


1884 -1950

Er war 30, als der Erste und 49, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. "Meine Kunst kriegt hier zu fressen", sagte er 1919. Er erlebte das Grauen als Ambulanzfahrer und feuerte nie einen Schuß ab. 1937 nach der Rundfunkübertragung von Hitlers Rede zur Eröffnung der Großen Deutschen Kunstausstellung in München, die auch seine Arbeiten zu entarteter Kunst erklärte, verließ er Deutschland für immer und "unterschlüpfte" in Amsterdam. Nach New York ließ man ihn erst 1947 reisen. 
Meine Familie fuhr zurück, er fuhr westwärts. 
Diese Kriege haben ihn Kraft gekostet, er starb an einem Herzinfarkt auf der Straße, genauer Central Park West, 61st Street. Gemalt, gezeichnet, geschaffen hat er immer, auch wenn er rein gar nichts verkaufen durfte und konnte. 

DWDS: schlüpfen = 'sich gleitend (durch enge Öffnungen) fortbewegen, sich schnell und geschmeidig bewegen', ahd. intsluphen 'entkommen, entschwinden'.

 Les Artistes mit Gemüse 
1943

Da sitzen sie, schauen ernst und frieren, als Gastgeschenk Lebensmittel in den Händen, nur Beckmann selbst hält einen Spiegel, der aber spiegelt nicht ihn, sondern etwas Fremdes, Bedrohliches. Ihre Kleider sind einmal elegant gewesen, bis auf die rote Wollmütze des Mannes mit dem Fisch. Im Bild hinten an der Wand brennt es. 
Wie unvorstellbar. Dein Land schließt dich aus, verneint dich, macht dich verächtlich. Du, ein Deutscher, bist nun ein Ungewollter, ein Fremder. Du gehst, rennst, fliehst. Und schaust aus der Fremde zu, wie dein Land die Welt mit Krieg überzieht. Und du malst, zeichnest, holzschneidest. Keiner kauft deine Bilder. Keiner wagt es.

Totentanz

Ich frag mich oft, bin das denn ich,
Dem dieses alles widerfährt.
Nur Schatten sind wir unser selbst,
[...] Schatten gehen viel,
Ganz langsam, schlürfend Schritt für Schritt,
Gesenkten Kopfes schleichen wir.
Doch viele liegen stumpf im Bett,
Zum Lesen fehlt uns das Buch,
Zum Denken fehlt uns die Kraft.
Die trüben Augen sehen nicht,
Die Ohren hören nur ein Wort.
Gamellen kommen, Essenszeit:
Dann kommt Bewegung in den Leib,
Die keiner Kapo Schlag erzwingt.
Doch vielen fehlt auch jetzt die Kraft,
Die meisten holt Durchfall und Laus,
Und täglich schafft man sieben weg
Mit Karre und Wagen im offnen Sarg.
Ein Trüppchen Frauen hinterdrein,
Ein kurz Gebet, das ist der Schluß.

Felix Oestreicher
Naderhand - Nachher - Afterward
 

  
Im Jahr 1937 beginnt Felix Östreicher mit dem Schreiben seiner „Drillingsberichte“; Briefe, die seine Familie über die Entwicklung seiner Töchter auf dem Laufenden halten. In diesen unsicheren Zeiten zieht die Familie von Karlsbad in die Niederlande. Der Versuch, eine Auswanderung über die Grenzen Europas hinweg zu regeln, scheitert. Im November 1943 wird die Familie verhaftet und gemeinsam mit Felix´ Mutter, jedoch ohne seine Tochter Helli, nach Westerbork und später nach Bergen-Belsen deportiert. Felix beginnt in Westerbork mit einem Tagebuch, das auch selbstverfasste Gedichte enthält. Später wurden das Tagebuch und die Gedichte in Buchform veröffentlicht. Kurz vor der Befreiung aus Bergen-Belsen wird die Familie zusammen mit vielen anderen Juden aus Bergen-Belsen in einen Transport Richtung Osten gesetzt. Der Zug strandet in Tröbitz und wird Ende April 1945 von den Russen befreit. Felix, Gerda, Maria und Beate leben dort für einige Zeit in Freiheit. Geschwächt durch das Konzentrationslager stirbt Gerda jedoch am 31. Mai an Fleckfieber. Ihr Mann Felix folgt ihr einige Tage später, am 9. Juni 1945 und stirbt ebenfalls an Fleckfieber.


WIKI sagt: Als der Verlorene Zug wird der letzte von drei Zügen bezeichnet, mit denen während der Zeit des Nationalsozialismus in der Endphase des Zweiten Weltkrieges Häftlinge vom Konzentrationslager Bergen-Belsen abtransportiert wurden, als sich die britischen Truppen dem Lager näherten...

Der letzte dieser drei Züge fuhr am 13. April 1945 ab und hielt schließlich nach einer Irrfahrt durch noch unbesetzte Teile Deutschlands in der Nähe der brandenburgischen Gemeinde Tröbitz auf offener Strecke an. Am 23. April 1945 fanden vorrückende Truppen der Roten Armee den Zug und befreiten die Häftlinge aus den Waggons. Etwa 200 von ihnen hatten die Fahrt nicht überlebt. In den nachfolgenden Wochen starben weitere 320 Menschen an den Nachwirkungen des Todestransports durch eine Epidemie.

Freitag, 24. November 2017

Ägypten 7 - Grabmalereien

Im Tal der Könige und anderen Tälern

In unwirtlicher steiniger Hitze, nur eine kurze Taxifahrt von Luxor entfernt, dem historischen Theben, das aber nicht das griechische ist, dieses hat einhundert Tore, das andere die berüchtigten sieben, also hier liegen die Gräber vieler Pharaonen, das Tal der Königinnen ist nicht weit, und dann gibt es noch das Tal der Noblen und das der Arbeiter. Das letzte ist das schönste. 
In den kahlen Bergen sieht man Löcher, viele. Manchmal geht es dann tief und steil hinunter, manchmal ist ein Raum eingestürzt, der Sandstein zerbröselt leicht. Es ist dunkel, die Lichtquellen schwach und unregelmäßig aufgestellt. Eigentlich ist photographieren verboten, aber für ein paar Pfund, sieht jeder freundlichst woanders hin.



Die Uräusschlange ist ein Symbol der altägyptischen Ikonografie. Der altgriechische Begriff ouraĩos, latinisiert Uraeus, geht vermutlich auf das altägyptische uaret zurück, was im Allgemeinen mit „die sich Aufbäumende“ übersetzt wird. Im Alten Ägypten gilt diese goldene, in Form einer sich aufreckenden, blähenden und Gift sprühenden Kobra dargestellte Stirnschlange Göttern wie Pharaonen als abwehrendes Schutzsymbol, indem Uräus mit dem Gluthauch seines Feueratems die Feinde seines Trägers abwehrt. In gleicher Eigenschaft wird das Symbol mindestens seit der 3. Dynastie auch zum Schutz von Bauwerken an deren Fassaden und über Eingängen angebracht. (Wiki)


 Aus dem Buch der Toten

O Amon, Amon! Vom Himmelsgewölbe
Schaust du zur Erde herab.
Wende dein strahlendes Antlitz zur starren, leblosen Hülle
Deines Sohnes, des vielgeliebten!
Mache ihn kräftig und siegesbewusstIn den Unteren Welten!


Verrückt, aus Angst vor Grabräubern hat man schon in alter Zeit viele Mumien großer Herrscher aus ihren Gräbern geschleppt und in einer Art Sammelgrab untergebracht. Für Prunkgrab bezahlt, im Massengrab gelandet.

Isis schützt. Wer da nicht an Engel denkt.

Die Arbeiter, die in einer Art Reihenhaussiedlung untergebracht waren, gruben sich ebenfalls Gräber, die Bildsprache der Oberen war ihnen verboten, also malten sie eigene Mythen.

Kampfaffen

 Eine Eule

 Im alten Ägypten trugen die Pharaonen und andere Herrscher plissierte Kleidung, sie war ein Symbol von Macht und Reichtum. Dem gewöhnlichen Volk war diese Art der Kleiderverziehrung vorenthalten, da die Herstellung sehr teuer und äußerst zeitintensiv war. Damals wurden Naturstoffe plissiert, dies geschah per Hand. Die Stoffe wurden befeuchtet und gefaltet, anschließend wurden sie zur Plissierung zwischen zwei Steinplatten gelegt. Diese Steine erhitzten sich in der Sonne und fixierten so die Stofffalten.
http://ratgeber.schattendiscount24.de/der-ursprung-des-plissees/

Im ägyptischen Museum in Kairo habe ich altägyptische Perücken gesehen, 
sie waren aus dicken schwarzen Wollfäden gemacht. Müssen die geschwitzt haben.

 Gigantisch

 Wiederbelebungsmaßnahme

 Ein aggressiver Hase? Ein Tiger mit übergroßen Ohren?

Musik

Gedichte eines Lebensmüden

um 1800 v. Chr.
Gespräch eines Mannes mit seinem Ba

Der Ba, auch Exkursionsseele, ist in der Ägyptischen Mythologie eine Bezeichnung für einen bestimmten Aspekt des Seelischen, der sich trotz einer engen Bindung an den Körper von diesem ablösen und entfernen kann. Solche Seelen, die den Körper verlassen und eigenständig agieren, werden in der Ethnologie und Religionswissenschaft „Freiseelen“ genannt. 

Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank von Aasgeiern an Sommertagen, wenn der Himmel glüht.
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, [mehr als der Gestank] beim Fischempfang am Tage des Fischfangs, wenn der Himmel glüht.
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank von Vögeln, als ein Sumpfdickicht mit Wasservögeln.
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank der Fischer und als die Lagunen, in denen sie fischen
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank von Krokodilen, als ein ganzer Wohnplatz von Krokodilen.
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als eine Ehefrau, über die man ]lügen verbreitet wegen eines Mannes.
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als das Kind eines Angesehenen, von dem gesagt wird, es gehöre dem, den er haßt.
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, [mehr als] eine Siedlung des Königs, die auf Empörung sinnt, wenn sein Rücken gesehen wird.
Der Mann klagt über seine Lage:
Zu wem soll ich heute sprechen? Die Angehörigen sind schlecht, die Freunde von heute kann man nicht lieben.
Zu wem soll ich heute sprechen? Habgierig sind die Herzen, ein jeder beraubt seinen Nächsten.
Zu wem soll ich heute sprechen? Die Milde ist zugrunde gegangen, Gewalttätigkeit ergreift Besitz von jedermann.
Zu wem soll ich heute sprechen? Das Antlitz des Schlechten glänzt zufrieden, das Gute ist zu Boden geworfen überall.
Zu wem soll ich heute sprechen? Wer einen Mann wegen seiner schlechten Tat zur Rede stellt, bringt alle Bösewichter zum Lachen.
Zu wem soll ich heute sprechen? Man plündert. Jeder bestiehlt seinen Nächsten.
Zu wem soll ich heute sprechen? Der Verbrecher ist ein Vertrauensmann, der Bruder, mit dem man lebte, ist zum Feind geworden.
Zu wem soll ich heute sprechen? Man erinnert sich nicht an Gestern und vergilt (auch) nicht dem, der jetzt (Gutes) tut.
Zu wem soll ich heute sprechen? Die Angehörigen sind böse, man wendet sich zu Fremden, um Redlichkeit zu finden.
Zu wem soll ich heute sprechen? Die Herzen sind zugrunde gerichtet, jedermann wendet den Blick zu Boden vor seinen Angehörigen.
Zu wem soll ich heute sprechen? Die Herzen sind habgierig, man kann sich auf keines Menschen Herz (mehr) verlassen.
Zu wem soll ich heute sprechen? Es gibt keine Gerechten, die Welt bleibt denen überlassen, die Unrecht tun.
Zu wem soll ich heute sprechen? Es mangelt an Vertrauten, man nimmt Zuflucht zum Unbekannten, um ihm zu klagen.
Zu wem soll ich heute sprechen? Es gibt keinen Glücklichen, und jener, mit dem man (früher) ging, ist nicht mehr.
Zu wem soll ich heute sprechen? Ich bin mit Elend beladen, weil mir ein Vertrauter fehlt.
Zu wem soll ich heute sprechen? Das Übel, welches die Welt schlägt -kein Ende hat es!

Der Mann preist den Tod:
Der Tod steht heute vor mir wie das Genesen eines Kranken, wie wenn man ins Freie tritt nach einem Leiden.
Der Tod steht heute vor mir wie der Duft von Weihrauch, wie Sitzen unter dem Segel am Tag des Windes.
Der Tod steht heute vor mir wie Duft der Lotosblüten, wie Wohnen am Rand der Trunkenheit.
Der Tod steht heute vor mir wie das Aufhören des Regens, wie die Heimkehr eines Mannes vom Feldzug nach Hause.
Der Tod steht heute vor mir wie die Klarheit des Himmels, wie wenn ein Mensch die Lösung eines Rätsels findet.
Der Tod steht heute vor mir wie der Wunsch eines Menschen, sein Heim wiederzusehen, nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbrachte.

Der Mann sehnt sich nach dem Jenseits:
Wahrlich, wer dort ist, ist ein lebendiger Gott, der die Sünde bestraft an dem, der sie tut.
Wahrlich, wer dort ist, der steht im Sonnenschiff, Erlesenes verteilt er daraus für die Tempel.
Wahrlich, wer dort ist, der ist ein Weiser der nicht gehindert werden kann, zum Sonnengott zu gelangen, wenn er spricht.

Sonntag, 30. April 2017

Ein feiner Sonntag in Berlin

350 Galerien öffnen ihre Türen für drei Tage, ein langes Wochenende lang, in Mitte, in Kreuzberg, in Charlottenburg und auf der Potsdamer Straße - ich war nur in zehn davon und nur in Mitte. Ich bin Lokalpatriot. Der Tag war kühl und sonnig, das was Berliner Kniestrumpfwetter nennen. Im Gropiusbau zeigt Jürgen Teller sehr viele Teller und Menschen mit Tellern und Bilder seiner Mutter und gekritzelte Notizen und ein tolles dreidimensional wirkendes Waldbild. Enjoy your life! Ich bleibe kühl wie das Wetter und nicht so sonnig.
Daniel Richter bietet politische Plakate, die er an John Heartfield anlehnt, die sich mir aber nur partiell erschließen und er kuratiert im Erdgeschoß eine Ausstellung von Jack Bilbo, aka Hugo Cyrill Kulp Baruch; geboren am 13. April 1907 in Berlin; gestorben am 19. Dezember 1967 ebenda. Kneipier, Antifaschist, Maler, Reisender, Fliehender und Lebemann.

TAZ-Artikel zu Jack Bilbo 

Anekdotisches zum Liebermann Haus am Pariser Platz:
Der nach seinen eigenen Worten "eingefleischte Jude", aufrechte Liberale und Berliner Großbürger Max Liebermann war ein selbstbewusster Hausherr. Zwei Mal musste er seinen Besitz gegen die allerhöchste Stelle verteidigen - gegen Kaiser Wilhelm II. Gleich nach dem Einzug gab Liebermann beim Berliner Architekten Hans Grisebach den Entwurf eines Ateliers im Dachgeschoss in Auftrag. Der Maler wollte am Pariser Platz nicht nur mit seiner Frau Martha und seiner Tochter Käthe leben, sondern dort auch arbeiteten. Aber der Kaiser fand den gläsernen Aufbau, den Grisebach als Oberlicht für das Dachatelier entwarf, "scheußlich". Erst nach einem vierjährigen Behördenmarathon konnte Liebermann das Atelier beziehen. Tagesspiegel 29.03.2000

 Jack Bilbo

Danach einmal die Linienstrasse herauf und die Auguststrasse herunter, in jedem Kellerloch, einst sicher die Werkstatt eines ostjüdischen Schusters oder Flickschneiders, hängt Kunst, oder was sich dafür ausgibt. Viele junge Leute, uniform individuell bekleidet und dazwischen reiche ältere Sammler, deren chauffeurbetriebenen Automobile mit laufenden Motoren auf ihre nach frischer Beute suchenden Besitzer warten.
In der Gallerie Rasche Ripken in der Linienstrasse 148 Rik de Bo und Hein Spellmann, der eine malt, immer im gleichen Format, Fenster, hypnotisierend, der andere photographiert Häuserfronten und klebt die Photos auf konvexe Formen. Sehr viel traurige Orte von außen. In einer anderen Gallerie Polixeni Papapetrou, eine australische Griechin, die erleidende Figuren in Camouflage in Landschaften stellt. Was für ein Name.


Und dann noch Luca Lanzi, gequälte, böse Kinder und verwischte Spielzeuge.



Dazwischen Kunsthandwerk und pretentiöser Quatsch, aber auch die Islandbilder von Michael Najjar.  
Michael Najjar verfolgt Naturphänomene wie den Klimawandel und führt uns dessen Brisanz in großformatigen Fotokompositionen vor Augen. Neue Aufnahmen von Spalten und Eishöhlen des Breidamerkurjökull-Gletschers in Island, der sich jährlich bis zu 100 Meter zurückzieht, kombiniert er mit Satellitenbildern desselben Gletschers und verdeutlicht so seine Vergänglichkeit. Zugleich nimmt er Bezug auf das Werk Alfred Ehrhardts, der genau am selben Ort bereits 1938 die Gletscherlandschaft dokumentierte. 
art das kunstmagazin

 
Ein feiner Sonntag, der durch meine kluge Freundin und einen Eisbecher mit Sahne und Würstchen mit Senf vervollkommnet wurde.
Danach zurück an den Computer und in die Bibel. Mein Leben ist wahrhaft voller Kontraste. Schön.

Samstag, 2. Mai 2015

SONNTAGNACHMITTAG AUF DER INSEL LA GRANDE JATTE


    GEORGES SEURAT
    SONNTAGNACHMITTAG AUF DER INSEL

      LA GRANDE JATTE


      Un dimanche après-midi à l'Île de la Grande Jatte 
      1884-1886 Art Institute of Chicago





Des kleinen Mannes höllisches Utopia


Der Kunstkritiker Jules Christophe schrieb 1890 in der Seurat gewidmeten Nummer 368 der Zeitschrift Les Hommes d'aujourd'hui  
(Die Menschen von heute) in einem von Seurat persönlich mitgestalteten Artikel:

„An einem Nachmittag unter flimmerndem Sommerhimmel sehen wir die 
 glitzernde Seine, elegante Villen am gegenüberliegenden Ufer, kleine, 
auf dem Fluß dahingleitende Dampfschiffe, Segelboote und ein Ruderboot. 
Unter den Bäumen, ganz in unserer Nähe, gehen Leute spazieren, andere sitzen 
oder liegen faul im bläulichen Gras. Einige angeln. Wir sehen junge Mädchen, ein Kinderfräulein, eine alte Großmutter unter einem Sonnenschirm, die aussieht 
wie Dante, einen Bootsmann, der faul hingestreckt seine Pfeife raucht und dessen Hosenbeine von der hellen Sonne regelrecht verschlungen werden. 
Ein dunkelvioletter Hund schnuppert am Gras, ein roter Schmetterling fliegt umher, 
eine junge Mutter geht mit ihrer kleinen Tochter spazieren, die ganz in 
Weiß gekleidet ist und eine lachsfarbene Schärpe trägt. Nahe dem Wasser 
stehen zwei Kadetten der Militärschule Saint-Cyr. Ein junges Mädchen bindet 
einen Strauß; ein Kind mit rotem Haar und blauem Kleid sitzt im Gras. 
Wir sehen ein Ehepaar mit seinem Baby und ganz rechts das hieratische, aufsehenerregende Paar, einen jungen Geck mit seiner eleganten Begleiterin 
am Arm, die einen purpur-ultramarinfarbenen Affen an der Leine führt.“


Ernst Bloch in "Das Prizip Hoffnung":
Dieses Bild ist ein einziges Mosaik der Langeweile, eine meisterhafte Darstellung 
der enttäuschten Hoffnung des süßen faulen Lebens ... 
Das Gemälde zeigt einen Mittelstands-Sonntag-Morgen auf einer Insel 
in der Seine bei Paris ... der, trotz der Erholung, die hier stattfindet, 
eher zum Hades gehört als zu einem Sonntag ... 
Das Ergebnis ist endlose Langeweile, des kleinen Mannes höllisches Utopia, 
den Sabbath zu umgehen und doch an ihm festzuhalten; 
sein Sonntag wird zu einem lästigen Muss, statt einer kurzen Kostprobe des Paradieses.

This picture is one single mosaic of boredom, a masterful rendering of the disappointed longing 
and the incongruities of a dolce far niente ... The painting depicts a middle-class Sunday morning 
on an island in the Seine near Paris…despite the recreation going on there, seems to belong more to 
Hades than to a Sunday…The result is endless boredom, the little man's hellish utopia of skirting 
the Sabbath and holding onto it too; his Sunday succeeds only as a bothersome must, not as a 
brief taste of the Promised Land.


Sonntag im Park mit George
(Sunday in the Park with George)


Sunday, by the blue purple yellow red water
On the green purple yellow red grass
Let us pass through our perfect park
Pausing on a Sunday

By the cool blue triangular water
On the soft green elliptical grass
As we pass through arrangements of shadow
Toward the verticals of trees
Forever

By the blue purple yellow red water
On the green orange violet mass of the grass
In our perfect park

Made of flecks of light
And dark
And parasols
Bum bum bum bum bum bum
Bum bum bum

People strolling through the trees
Of a small suburban park
On an island in the river
On and ordinary Sunday
Sunday
Sunday

Stephen Sondheim 
Das Buch stammt von James Lapine 



Anderes Lied aus demselben Musical, es singt Bernadette Peters!

    Im Paradies der Kleinbürger sind alle Menschen Fremde


Als "Mosaik von Langeweile" beschrieb der Philosoph Ernst Bloch das Bild. Der 1977 gestorbene Marxist sah nur "Sonntagselend" und "Landschaft des gemalten Selbstmordes" auf dem Gemälde "Grande Jatte" von Georges Seurat ( 1859 bis 1891 ).

Für den Kunstkriker Felix Feneon dagegen, einen Zeitgenossen des Malers, war es ein heiteres Werk: "Eine sonntägliche zusammengewürfelte Menge", erblickte er auf der Leinwand, "die sich im Freien vergnügt, unter einem hochsommerlichen Himmel." Feneon bewunderte die zwischen 1884 und 1886 gemalte "Grande Jatte"; in seinen Artikeln warb er für Seurat und seinen "neuen Weg, die Wirklichkeit zu entschlüsseln" _ aufgerastert nämlich in unzählige, winzige Lichtpunkte; Das Bild dokumentiert die Erfindung des Pointillismus. Das Publikum folgte dem Kritiker nicht, das Bild blieb im Besitz des Malers bis zu dessen frühem Tod 1891 " "So gerne", notierte der Maler Paul Signac in seinem Tagebuch, hätte Seurats Mutter "die großen Werke ihres Sohnes den Museen vermacht, doch welches Museum wäre heute bereit, sie anzunehmen?" Neun Jahre nach Seurats Tod veranstalteten Signac und seine Freunde im Auftrag der Familie eine Verkaufsschau. Ungerahmt kosteten Seurats Zeichnungen zehn Franc, mit Rahmen 100. Die "Grande Jatte" ging tür 800 Franc an einen Pariser Großbürger. 1911 weigerte sich der Vorstand des Metropolitan Museum in New York, den Ankauf zu bewilligen; mehr Kunstsinn und Mut bewies 1924 der reiche Frederic Clay Bartlett aus Chicago: In Paris erstand er das Gemälde für 20000 Dollar. Kurz danach stiftete er es dem Art Institute of Chicago, wo es als Schlüsselwerk der europäischen Moderne gehütet wird. 1931 bot ein französisches Konsortium 400000 Dollar, um es zurückzukaufen. Vergeblich. Die Leinwand mißt 207 mal 308 Zentimeter und paßte nur knapp in das Atelier des 25 Jahre alten Malers. Ein Kollege beschrieb ihn als "unendlich hartnäckig", er sei "von einer Energie, die nicht minder extrem ist als seine Schüchternheit". Künstlerische Experimente konnte sich der 1859 geborene Seurat leisten; Sein Vater, ein durch Grundstücksspekulation reich gewordener Gerichtsbeamter, unterstützte ihn großzügig. Die Kunstakademie hatte er schon mit 21 verlassen, er wollte keines der üblichen Historienbilder malen, auch keine Nixen und Nymphen _ er verzichtete auf eine der üblichen Künstlerkarrieren. Bei der vierten Impressionisten-Ausstellung 1879 habe er einen "tiefen, unerwarteten Schock" erlitten, schreibt der Ausstellungsmacher Robert L. Herbert im Katalog der Seurat-Retrospektive 1991 im Pariser Grand Palais. Danach arbeitete der Künstler allein, zeichnete mit dem fetten, schwarzen Conte-Stift Porträts und Figuren von einfachen Leuten, malte kleinformatige Landschaften und ging, wie die Impressionisten, ins Freie, besonders gern ans Wasser. Das Licht einzufangen wurde Seurat wichtig, und nirgends sprach es ihn so an wie an der Seine in Asnieres, einem Vorort im Nordwesten von Paris. "Die Badenden, Asnieres" heißt sein erstes großformatiges Gemälde, das 1884 vom offiziellen Salon zurückgewiesen wurde, dafür aber bei der Ausstellung der "Unabhängigen Künstler" auffiel. Es zeigt badende Männer und )ungen am Ufer der Seine, sie blicken hinüber zu einer nahen Insel im Fluß: Es ist die Grande Jatte, der Schauplatz seines nächsten Werkes. Die Impressionisten, bestrebt, den Augenblick einzufangen, malten meist spontan in der Matur. Seurat dagegen bereitete sein Gemälde sorgfältig vor. An Ort und Stelle fixierte er aufvielen Holztäfelchen das Ufer, Rasen und Bäume, teilweise ohne Menschen. Die zeichnete er parallel dazu in unterschiedlichen Positionen als Studien in Schwarzweiß, Im Atelier fügte er beides zusammen. Etwa 40 Figuren, so beschreibt Feneon die Menschen auf dem Bild, "steif dasitzend, horizontal ausgestreckt, kerzengerade aufgerichtet". Zeitgenossen sprachen gar von einer "pharaonischen Prozession", und Seurat selbst bezeichnet den Tempelfries des griechischen Bildhauers Phidias als Vorbild: "Die Panathenäen des Phidias bildeten eine Prozession. Ich möchte moderne Menschen darstellen, die sich wie aufdiesem Fries ergehen, in ihrem Wesentlichen erfaßt." Als modernes Arkadien zeigt Seurat die Insel in der Vorstadt: Weder Flaschen noch Picknickkörbe sind auf dem gepflegten Rasen zu sehen. Unsichtbar bleiben auch die Restaurants, Cafes, Bootswerften und Wohnhäuser, die Anfang der achtziger Jahre bereits zwei Drittel der Inselfläche bedeckten. Die Besucher, Seurats "moderne Menschen", ergehen sich gesittet oder lagern im Schatten. Keiner badet, niemand hat sich seiner Kleidung entledigt. Feneon nennt sie eine "zusammengewürfelte" Gesellschaft, und wirklich trafen sich damals auf der schmalen Landzunge in der Seine Angehörige verschiedener sozialer Schichten - für den heutigen Betrachter ist jedoch schwer zu erkennen, ob der hingestreckte Mann mit Mütze und Pfeife ein Arbeiter aus dem nahen Industrie-Vorort Clichy ist oder ein Wassersportler aus Paris im zünftigen Outfit. Für die Bürger der Hauptstadt war Asnieres, von wo eine Fähre zur Grande Jatte übersetzte, dank der neuen Eisenbahnlinie bequem und schnell zu erreichen. Doch Technik und Fortschritt ver-änderten die idyllischen Erholungszentren, überzogen sie mit Fabriken und Billigquartieren für Arbeitskräfte _ sie wurden zum Eldorado für Spekulanten wie Seurats Vater. Auch das ländliche Asnieres hatte in den letzten Jahren seine Bevölkerung verdoppelt und sich zur Schlafstadt für Kleinbürger entwickelt _ jene aufstrebende Schicht, die von der Regierung der Dritten Republik als sozialer Stabilitätsfaktor gefördert wurde. So dürfte denn die Grande Jatte am Sonntag vorwiegend von kleinen Kaufleuten, Verkäuferinnen, Angestellten und Beamten samt ihren Familien besucht worden sein. Im Hintergrund des Bildes sind zwei Soldaten zu erkennen und - am weißen Umhang und an der Haube mit den langen Bändern - eine Krankenschwester in Rückenansicht, neben der alten Frau unter dem Schirm. Alle anderen haben ihre Berufskleidung mit dem Sonntagsstaat vertauscht. Die Frauen auf dem Bild sind ins enge Korsett geschnürt, die meisten tragen den modischen, die weiblichen Formen betonenden "cul de Paris" unter dem weiten Rock und den Hut, ohne den _ und ohne männliche Begleitung _ sich keine ehrbare Frau in der Öffentlichkeit zeigte. Vielen hat das Bild Rätsel aufgegeben: Sollten die zwei Mädchen zu Füßen des Trompeters leichte Beute für die herannahenden Soldaten darstellen? Sollte die Anglerin nach einem Mann fischen? Immerhin klingen die französischen Wörter für "fischen" (pecher) und "sündigen" (pecher) fast gleich. Und signalisieren Hund und Affe, von der Dame im Vordergrund an der Leine geführt, nur modische Extravaganz oder (nach traditioneller Symbolik) niedere Wollust? Der Begleiter dieser Dame trägt Zylinder, Stock und Monokel, typische Attribute des Großbürgers, der für gewöhnlich im Bois de Boulogne promenierte, einem Ort, der im Unterschied zur Grande Jatte nicht als gemischt, sondern als exklusiv galt. Dorthin gehörte der "wohlbekannte Pariser Herr aus den besten Kreisen", dessen Gattin - so berichtet das Journal "Autour de Paris" 1887 - einen Skandal machte, als sie herausfand, daß er mit ihrem Kammermädchen den Sonntag auf der Grande Jatte verbracht hatte. Doch Seurat erzählt keine Anekdoten, seine Protagonisten haben weder Gesicht noch Körpersprache, weder eigene Geschichte noch Individualität. Die "modernen Menschen", die er "in ihrem Wesentlichen erfassen" wollte, hat er auf typische Attribute wie Zylinderhut, Stöckchen oder Korsett reduziert - sie sind Zeichen in seinem Fries. Der Schlüssel zur Moral der Arbeiterklasse liegt in einem sonntäglichen Ruhetag", lautete 1874 das Fazit eines von der Academie des Sciences Morales et Politiques preisgekrönten Textes. Statt unter sich zu bleiben wie die Männer auf Seurats "Die Badenden, Asnieres", sollten die Arbeiter den Sonntag mit ihren Familien verbringen. So empfahl es auch die Regierung der Dritten Republik: Proletarier sollten Kneipen und Protestversammlungen meiden und durch bürgerliche Verhaltensweisen Ordnung und Stabilität sichern. Zwar war ein arbeitsfreier Tag in der Woche üblich, aber nicht durch Gesetze garantiert - die gab es erst 1892 für Frauen und Kinder und 1906 für Männer. Besonders in den achtziger Jahren wurde leidenschaftlich darüber debattiert: Seurats Thema war aktuell. Ob die Arbeiter oder Kleinbürger mit dem ihnen verordneten "bürgerlichen Familiensonntag" viel anfangen konnten, ist fraglich; es gibt wenig Männer auf Seurats Grande Jatte. "Lauter glückloses Nichtstun" sieht Ernst Bloch darauf, "Puppen, intensiv mit starrem Lustwandel beschäftigt". In den Augen des Marxisten kündet Seurats Bild vor allem von der Malaise der Arbeiter und Kleinbürger, von der Entfremdung in der industriellen Gesellschaft.

Auszug eines Artikels in art, das Kunstmagazin:

 

Donnerstag, 30. April 2015

Für Ö. anstelle einer Zigarette: e.e. cummings - XVII



XVII

Madame,ich werde dich mit meiner seele berühren.
dich berühren und berühren und berühren
bis du mir
plötzlich ein lächeln gibst, schüchtern obszön

(Madame,ich werde 
dich mit meiner seele berühren.)Dich
berühren, das ist alles,

leicht und du wirst gänzlich
mit unendlicher fürsorge

das gedicht werden das ich nicht schreibe. 

Michael Triegel Schlafende Ariadne 2010

Lady, i will touch you with my mind.

Touch you and touch and touch
until you give
me suddenly a smile,shyly obscene


(lady i will
touch you with my mind.)Touch
you,that is all,

lightly and you utterly will become
with infinite care

the poem which i do not write.












Mittwoch, 25. März 2015

Heimlich & unheimlich

Denn nichts ist verborgen, das nicht offenbar werde, 
auch nichts Heimliches, das nicht kund werde 
und an den Tag komme. Lukas 8/17
 
    HEIMLICH
-------------------------
 ------------------------- 
UNHEIMLICH

Willst du dein Herz mir schenken,
So fang es heimlich an,
Dass unser beider Denken
Niemand erraten kann.
Die Liebe muss bei beiden
Allzeit verschwiegen sein,
Drum schließ die größten Freuden
In deinem Herzen ein.

unbekannter Dichter 

Ich hab Dich insgeheim unheimlich lieb. Wie sehr? Es ist mir fast unheimlich wie sehr. Ich fühle mich bei Dir so heimelig. Heimlich, still und leise ist es geschehen. Wir wollen es aber es aber noch geheim halten.

Der Duden schreibt:
mittelhochdeutsch heim(e)lich = vertraut; einheimisch; vertraulich, geheim; verborgen, althochdeutsch heimilīh = zum Hause gehörend, vertraut, zu Heim

Das Heim und die Heimat, selbst die Heimsuchung, die ursprünglich nur ein Hausfriedensbruch war, und also war auch Mariä Heimsuchung nur der Besuch bei ihrer Verwandten Elisabeth, um von ihrer überraschenden Schwangerschaft zu berichten. Sie bricht wohl Elisabeths Hausfrieden. Und erst später wurde der Schicksalsschlag, die Prüfung daraus. Was für Wandlungen so ein Wort durchläuft, so viele bis es seine eigene Herkunft kaum noch kennt. 

Und da heimlich einmal einfach zu Hause, einheimisch, hierher gehörend bedeutete, war heimlich auch der von gespensterhaftem freie Ort und aus dem heimatlichen, häuslichen entwickelt sich weiter der Begriff des fremden Augen Entzogenen, Verborgenen, Geheimen sagt Grimm. Etwas, das nicht geheim ist ungeheim zu nennen, klingt verquast, unheimlich ist aber auch nicht zu diesem Zwecke verwendbar. 

Unheimlich ist, tja was? Etwas das uns in unserem Heimlichsten anrührt, was uns schaudern macht. Die Härchen auf der Haut stellen sich auf, Gänsehaut, wohl ein instinktiver, wenn auch mitlerweile nutzloser Versuch durch aufgeplustertetes Fell größer und gefährlicher auszusehen, um den "Feind" zu verschrecken. Aber wer ist der Feind im Unheimlichen?


Aus: TRAUMLAND

An den Felsen neben den düstern,
Unheimlichen Wellen, die ewig flüstern,
An den Wäldern neben den Teichen,
Wo die eklen Gezüchte schleichen,
In jedem Winkel, dunkel, unselig,
An allen Sümpfen und Pfuhlen, unzählig,
Wo die Geister hausen –
Trifft der Wandrer mit Grausen
Verhülltes Volk aus dem Totenlande,
Erinnerungen im Leichengewande,
Weiße Gestalten der Schatteninseln,
Bleiche Schemen aus toten Zeiten,
Die verzweiflungsvoll stöhnen und winseln,
Wie sie am Wandrer vorübergleiten.

Edgar Allen Poe

Cornelisz. van Oostsanen, Jacob (vielleicht)
Lachender Narr
ca. 1500

Die Nacht holt heimlich durch des Vorhangs Falten
aus deinem Haar vergeßnen Sonnenschein.
Schau, ich will nichts, als deine Hände halten
und still und gut und voller Frieden sein.

Da wächst die Seele mir, bis sie in Scherben
den Alltag sprengt; sie wird so wunderweit:
An ihren morgenroten Molen sterben
die ersten Wellen der Unendlichkeit.  

Rainer Maria Rilke
aus: Erste Gedichte

Das Unheimliche.
Sigmund Freud

Es mag zutreffen, daß das Unheimliche das Heimliche-Heimische ist, 
das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist...

oder

ZWIELICHT

Dämmrung will die Flügel spreiten,
Schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken zieh’n wie schwere Träume -
Was will dieses Grau´n bedeuten?

Hast ein Reh du lieb vor andern,
Laß es nicht alleine grasen,
Jäger zieh’n im Wald’ und blasen,
Stimmen hin und wider wandern.

Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug’ und Munde,
Sinnt er Krieg im tück’schen Frieden.

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neu geboren.
Manches bleibt in Nacht verloren -
Hüte dich, bleib’ wach und munter!

Joseph von Eichendorff

Etymologie des Wortes "heimlich"
http://woerterbuchnetz.de/DWB/?lemma=heimlich

Klammheimlich - vermutlich eine tautologische und scherzhafte Wortbildung aus lateinisch: clam‚ heimlich, verhohlen und heimlich

Das Heimlich-Manöver
http://de.wikipedia.org/wiki/Heimlich-Man%C3%B6ver 

Sonntag, 22. Februar 2015

Wie ein Schwert durchs Herz der Nacht - Rilke übersetzt Jacobsen


 
Arabeske.
Zu einer Handzeichnung von Michelangelo
Frauenprofil mit gesenktem Blick in den Uffizien


Griff die Woge Land?
Griff sie Land und versickerte langsam
rollend mit den Perlen des Kieses
wieder hinaus in der Wogen Welt?
Nein. Steil steigend wie ein Streitroß
hob sie hoch ihre nasse Brust.
Durch die Mähne sprühte Schaum hin,
schneeweiß wie ein Schwanenrücken.
Strahlender Staub und regenbogiger Nebel
zitterten auf durch die Luft:
und ihn verwerfend
und teilend
flog sie, breit, auf Schwanenschwingen
in der Sonne weißes Licht.

Ich kenn deinen Flug, du fliegende Woge.
Aber der goldne Tag wird sinken,
wird, in der Nacht dunklen Mantel geschlagen,
müde sich legen zu Ruh.
Tau wird glitzern in seinem Hauch,
die Blumen zu sein rings um sein Lager,
eh du dein Ziel noch erreichst.

--- Und bist du heran an das goldene Gitter
und streifst leis, ausspannend den Flug,
hin über die breiten Gänge des Gartens,
hin über Wogen von Lorbeer und Myrten,
über der Magnolien dunkle Krone,
unter dem Nachschaun ihrer hellen, ruhig-scheinenden,
unter dem Nachschaun ihrer starrenden Blumenaugen,
niedriger hin über verschwiegen flüsternde Iris,
getragen, gewiegt in erleichtert weinende Träume
von der Geranien Duft,
von der Tuberosen und des Jasmins schweratmendem Duft,
getragen heran an die weiße Villa
mit den mondhellen Scheiben,
mit ihrer Wache von hohen dunklen,
hohen treuen Zypressen:
so vergehst du in der Ahnungen Angst,
brennst auf in deiner bebenden Sehnsucht,
gleitest weiter wie ein Luftstrich vom Meer,
und du stirbst in der Weinranken Laub,
rauschendem Laub von Weinranken
am marmornen Rand des Balkons.
Während die kalte Seide der Balkongardine
langsam sich in schweren Falten schaukelt,
und die goldnen Traubenbüschel
aus den angstvoll bösen Ranken
fallen in des Gartens Gras.

Glühende Nacht.
Langsam brennst du hin über die Erde.
Der Träume seltsam wechselnder Qualm
wallt und wirbelt auf deiner Spur dir nach,
glühende Nacht.
Die Willen sind Wachs in deiner weichen Hand,
und Treue biegt wie Schilf in deinem Wehen,
und was ist Einsicht, lehnt sie sich an dich,
und was ist Unschuld unter deinem Blick,
der zwar nichts sieht, doch wild den roten Strom
in allen Adern so zur Sturmflut ansaugt,
wie es der Mond tut mit des Meeres Wassern.
---Glühende Nacht.
Gewaltige blinde Mänade.
Her durch das Dunkel blitzen und schäumen
seltsame Wellen von seltsamem Laut,
Anklingen von Bechern
und des Stahls hurtiger singender Klang,
austropfendes Blut und Röcheln von Blutenden
und das schwere Brüllen des Wahnsinns vermischt
mit dem heiseren Schrei purpurroter Begier.
--Aber der Seufzer, glühende Nacht?
der Seufzer, der anschwillt und stirbt,
stirbt, um neu zu erstehn,
der Seufzer, du glühende Nacht!

Sieh, die seidne Welle der Gardine teilt sich,
eine Frau, hoch und herrlich,
hebt sich dunkel von der dunklen Luft ab.
-- Heiliges Leid in deinem Blick,
Leid, das Hilfe nicht kennt,
hoffnungsloses
brennendes, zweifelndes Leid.
-----Nächte und Tage schwirren über die Erde.
Jahreszeiten wechseln wie Farben und Wangen,
Geschlecht auf Geschlecht in langen dunklen Wogen
rollt über die Erde,
rollt und vergeht,
indes die Zeit langsam stirbt.
Wozu das Leben?
Wozu der Tod?
Wozu leben, wenn wir doch sterben sollen?
Wozu kämpfen, wissend, daß das Schwert
dennoch uns entwunden wird einmal?
Dieser Scheiterhaufen von Qual, wozu?
Tausend Stunden Lebens langsam leidend,
langsam ausgehn in des Todes Leiden.

Ist dies dein Gedanke, hohe Frau?

Ruhig stumm steht sie auf dem Balkone,
hat kein Wort, kein Seufzen, keine Klage,
hebt sich dunkel von der dunklen Luft ab
wie ein Schwert durchs Herz der Nacht.

J.P. Jacobsen übersetzt von Rainer Maria Rilke
 

Arabesk. 
Til en Haandtegning af Michel Angelo.
(Kvindeprofil med sænkede Blikke i Gangen mellem Pitti og Ufficierne)


Tog Bølgen Land?
Tog den Land og sived langsomt,
Rallende med Grusets Perler,
Atter ud i Bølgers Verden?
Nej! den stejled som en Ganger,
Løfted højt sin vaade Bringe;
Gjennem Manken gnistred' Skummet
Snehvidt som en Svanes Ryg.
Straalestøv og Regnbu'taage
Sitred op igjennem Luften:
Ham den kasted',
Ham den skifted',
Fløj paa brede Svanevinger
Gjennem Solens hvide Lys.

Jeg kjender din Flugt, du flyvende Bølge;
Men den gyldne Dag vil segne,
Vil, svøbt i Nattens dunkle Kappe,
Lægge sig træt til Hvile,
Og Duggen vil glimte i hans Aande,
Blomsterne lukke sig om hans leje,
Før du naa'r dit Maal.

— Og har du naa't det gyldne Gitter
Og stryger tyst paa spredte Vinger
Henover Havens brede Gange,
Henover Laurers og Myrthers Vover,
Over Magnoliens dunkle Krone,
Fulgt af dens lyse, roligt blinkende,
Fulgt af dens stirrende Blomsterøjne,
Nedover hemmeligt-hviskende Iris,
Baaret og dysset i graadmilde Drømme
Af Geraniernes Duft,
Af Tuberosers og Jasminers tungtaandende Duft

Baaret mod den hvide Villa
Med de maanelyse Ruder,
Med dens Vagt af høje, dunkle,
Høje, trolige Cypresser,
Da forgaar du i Anelsers Angst,
Brændes op af din skjælvende Længsel,
Glider frem som en Luftning fra Havet,
Og du dør mellem Vinrankens Løv,
Vinrankens susende Løv,
Paa Balkonens Marmortærskel,
Mens Balkongardinets kolde Silke
Langsomt vugger sig i tunge Folder,
Og de gyldne Drueklaser
Fra de angstfuldt-vredne Ranker
Fældes ned i Havens Græs.

Glødende Nat!
Langsomt brænder du henover Jorden;
Drømmenes sælsomt skiftende Røg
Flakker og hvirvles afsted i det Spor,
Glødende Nat!
— Viljer er Voks i din bløde Haand,
Og Troskab Siv kun for din Aandes Pust!
Og hvad er Klogskab lænet mod din Barm?
Og hvad er Uskyld daaret af dit Blik,
Det intet ser, men suger vildt
Til Stormflod Aarens røde Strøm,
Som Maanen suger Havets kolde Vande?
— Glødende Nat!
Vældige, blinde Mænade!
Frem gjennem Mulmet blinker og skummer
Sælsomme Bølger af sælsom Lyd:
Bægeres Klang,
Staalets hurtige, syngende Klang,
Blodets Dryppen og Blødendes Rallen
Og tykmælt Vanvids Brølen blandet
Med purpurrøde Attraas hæse Skrig ...
— Men Sukket, glødende Nat?
Sukket, der svulmer og dør,
Dør for at fødes paany,
Sukket, du glødende Nat!

Se, Gardinets Silkevover skilles,
Og en Kvinde høj og herlig
Tegner mørk sig mod den mørke Luft.
— Hellige Sorg i dit Blik,
Sorg, der ej kan hjælpes,
Haabløs Sorg,
Brændende, tvivlende Sorg.
— Nætter og Dage summer over Jorden,
Aarstider skifte som Farver paa Kind,
Slægter paa Slægt i lange, mørke Bølger
Rulle over Jord,
Rulle og forgaa,
Medens langsomt Tiden dør.
Hvorfor Livet?
Hvorfor Døden?
Hvorfor leve, naar vi dog skal dø?
Hvorfor kæmpe, naar vi veed, at Sværdet
Dog skal vristes af vor Haand en Gang?
Hvortil disse Baal af Kval og Smerte:
Tusind Timers Liv i langsom Liden,
Langsom Løben ud i Dødens Liden

Er det din tanke, høje Kvinde?

Tavs og rolig staar hun paa Balkonen,
Har ej Ord, ej Suk, ej Klage,
Tegner mørk sig mod den mørke Luft
Som et Sværd igjennem Nattens Hjærte.

J.P. Jacobsen



Rilke schreibt in sein Exemplar von 'Marie Grubbe' das Gedicht an 'Jens Peter Jacobsen'. Rilke besitzt den Band seit 1896 und sendet ihn am 18.10. 1900 als Geschenk an Paula Becker.
 
An Jens Peter Jacobsen

Er war ein einsamer Dichter,
ein blasser Mondpoet,
ein stiller Sturmverzichter,
vor dem die Sehnsucht lichter
als vor den Lauten geht.

Ein Weihen war sein Kranken.
Er sah versöhnt und ohne Gram,
wie früh ein Fremdes ihm die schlanken
Hände aus den Ranken
des Lebens lösen kam ...