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Montag, 18. September 2023

Gedicht aus der Ukraine

Ich schreibe kein Lyrik

Ich bin Prosa-Autorin

Es ist nur so, dass die Realität des Krieges

die Interpunktion auffrisst

die Kohärenz der Handlung

Kohärenz

zerfrisst

Als ob eine Granate

von einer Granate getroffen


Das Zersplittern der Sprache 

sieht aus wie Lyrik

ist aber keine


Victoria Amelina

Victoria Amelina erlitt einem russischen Raketenangriff am 27. Juni 2023 auf eine Pizzeria in Kramatorsk schwere Verletzungen, denen sie am 1. Juli 2023 erlag. Sie war mit einem IT-Mann verheiratet, Mutter eines Sohnes und wurde 37 Jahre alt.(Das sagt Wikipedia)

Mittwoch, 19. April 2023

Ein Maler schreibt ein Gedicht

Gefunden in

Paris Magnétique

einer Ausstellung über jüdische Künstler in Paris 1905 bis 1940

im Jüdischen Museum Berlin

 

Den ermordeten Künstlern


Ob ich sie alle gekannt habe? Ob ich in ihrem Atelier gewesen bin?

Ob ich ihre Kunst von nah und fern gesehen habe?

Und jetzt trete ich aus mir heraus, aus meinen Jahren,

und gehe an ihr unbekanntes Grab.

Sie rufen mich, sie ziehen mich in ihre Grube – mich

Den Unschuldigen, den Schuldigen.

Sie fragen mich: Wo bist Du gewesen?

- Ich bin entflohen ...

Sie hat man zu den Todes-Duschen geführt,

wo sie ihren Schweiß schmeckten.

Da sahen sie das Licht

Ihrer ungemalten Bilder.

Sie haben die ungelebten Jahre nicht gezählt,

welche sie gespart und aufbewahrt hatten,

für die Erfüllung ihrer Träume

schlaflose, verschlafene.

Sie haben in ihrem Kopf jenen Kindheitswinkel –

gesucht, in dem der sternumkränzte Mond

ihnen eine helle Zukunft versprach.

Die junge Liebe im finsteren Zimmer, im Gras

Auf Bergen und Tälern, die aufgeschnittene Frucht,

mit Milch begossen, mit Blumen bedeckt,

verkündete ihnen ein Paradies.

Die Hände ihrer Mutter, ihre Augen,

begleiteten sie zur Bahn,

zu fernem Ruhm.

Ich sehe: Da schleppen sie sich nun – in Lumpen

barfuß, auf stummen Wegen.

Die Brüder von Israëls, Pissaro und Modigliano, unsere Brüder.

Es führen sie in Stricken, die Brüder von Dürer, Cranach und

Holbein – zum Tode in die Krematorien.

Wie kann ich, wie soll ich Tränen vergießen.

...

Marc Chagall


 

Sonntag, 13. März 2022

DER HORATIER - HEINER MÜLLER - 1968


Heiner Müller
DER HORATIER (1968)

Zwischen der Stadt Rom und der Stadt Alba

War ein Streit um Herrschaft. 

Gegen die Streitenden

Standen in Waffen die Etrusker, mächtig.

Ihren Streit auszumachen vor dem erwarteten Angriff

Stellten sich gegeneinander in Schlachtordnung

Die gemeinsam Bedrohten. Die Heerführer

Traten jeder vor sein Heer und sagten

Einer dem andern: Weil die Schlacht schwächt

Sieger und Besiegte, laßt uns das Los werfen

Damit ein Mann kämpfe für unsere Stadt

Gegen einen Mann, kämpfend für eure Stadt

Aufsparend die andern für den gemeinsamen Feind

Und die Heere schlugen die Schwerter gegen die Schilde 

Zum Zeichen der Zustimmung und die Lose wurden geworfen. 

Die Lose bestimmten zu kämpfen

Für Rom einen Horatier, für Alba einen Kuriatier.

Der Kuriatier war verlobt der Schwester des Horatiers

Und der Horatier und der Kuriatier

Wurden gefragt jeder von seinem Heer:

Er ist/Du bist verlobt deiner/seiner Schwester. 

Soll das Los Geworfen werden noch einmal?

Und der Horatier und der Kuriatier sagten: Nein

Und sie kämpften zwischen den Schlachtreihen

Und der Horatier verwundete den Kuriatier

Und der Kuriatier sagte mit schwindender Stimme:

Schone den Besiegten. Ich bin

Deiner Schwester verlobt.

Und der Horatier schrie:

Meine Braut heißt Rom

Und der Horatier stieß dem Kuriatier

Sein Schwert in den Hals, daß das Blut auf die Erde fiel.

Als nach Rom heimkehrte der Horatier

Auf den Schilden der unverwundeten Mannschaft

Über die Schulter geworfen das Schlachtkleid

Des Kuriatiers, den er getötet hatte

Am Gürtel das Beuteschwert, in Händen das blutige eigne 

Kam ihm entgegen am östlichen Stadttor

Mit schnellem Schritt seine Schwester und hinter ihr

Sein alter Vater, langsam

Und der Sieger sprang von den Schilden, im Jubel des Volks 

Entgegenzunehmen die Umarmung der Schwester.

Aber die Schwester erkannte das blutige Schlachtkleid

Werk ihrer Hände, und schrie und löste ihr Haar auf.

Und der Horatier schalt die trauernde Schwester:

Was schreist du und lösest dein Haar auf.

Rom hat gesiegt. Vor dir steht der Sieger.

Und die Schwester küßte das blutige Schlachtkleid und schrie: Rom.

Gib mir wieder, was in diesem Kleid war.

Und der Horatier, im Arm noch den Schwertschwung

Mit dem er getötet hatte den Kuriatier

Um den seine Schwester weinte jetzt

Stieß das Schwert, auf dem das Blut des Beweinten

Noch nicht getrocknet war

In die Brust der Weinenden

Daß das Blut auf die Erde fiel. Er sagte:

Geh zu ihm, den du mehr liebst als Rom.

Das jeder Römerin

Die den Feind betrauert.

Und er zeigte das zweimal blutige Schwert allen Römern

Und der Jubel verstummte. Nur aus den hinteren Reihen

Der zuschauenden Menge hörte man noch

Heil rufen. Dort war noch nicht bemerkt worden

Das Schreckliche. 

Als im Schweigen des Volks der Vater 

Angekommen war bei seinen Kindern

Hatte er nur noch ein Kind. Er sagte:

Du hast deine Schwester getötet.

Und der Horatier verbarg das zweimal blutige Schwert nicht

Und der Vater des Horatiers

Sah das zweimal blutige Schwert an und sagte:

Du hast gesiegt. Rom Herrscht über Alba.

Er beweinte die Tochter, verdeckten Gesichts

Breitete auf ihre Wunde das Schlachtkleid

Werk ihrer Hände, blutig vom gleichen Schwert

Und umarmte den Sieger.

Zu den Horatiern jetzt

Traten die Liktoren, trennten mit Rutenbündel und Beil

Die Umarmung, nahmen das Beuteschwert

Vom Gürtel dem Sieger und dem Mörder aus der Hand das zweifach Blutige eigne.

Und von den Römern einer rief:

Er hat gesiegt. Rom Herrscht über Alba.

Und von den Römern ein andrer entgegnete:

Er hat seine Schwester getötet.

Und die Römer riefen gegeneinander:

Ehrt den Sieger.

Richtet den Mörder.

Und Römer nahmen das Schwert gegen Römer im Streit

Ob als Sieger geehrt werden sollte

Oder gerichtet werden als Mörder der Horatier.

Die Liktoren

Trennten die Streitenden mit Rutenbündel und Beil

Und beriefen das Volk in die Versammlung

Und das Volk bestimmte aus seiner Mitte zwei

Recht zu sprechen über den Horatier

Und gab dem einen in die Hand

Den Lorbeer für den Sieger

Und dem andern das Richtbeil, dem Mörder bestimmt

Und der Horatier stand

Zwischen Lorbeer und Beil.

Aber sein Vater stellte sich zu ihm

Der erste im Verlust, und sagte:

Schändliches Schauspiel, das der Albaner selbst

Nicht ansäh ohne Scham.

Gegen die Stadt stehn die Etrusker

Und Rom zerbricht sein bestes Schwert.

Um eine sorgt ihr.

Sorgt um Rom.

Und von den Römern einer entgegnete ihm

Rom hat viele Schwerter.

Kein Römer

Ist weniger als Rom oder Rom ist nicht.

Und von den Römern ein anderer sagte

Und zeigte mit Fingern die Richtung des Feinds: 

Zweifach mächtig

Ist der Etrusker, wenn entzweit ist Rom

Durch verschiedne Meinung

In unzeitigem Gericht.

Und der erste begründete so seine Meinung:

Ungesprochenes Gespräch

Beschwert den Schwertarm.

Verhehlter Zwiespalt

Macht die Schlachtreihe schütter.

Und die Liktoren trennten zum zweiten Mal

Die Umarmung der Horatier, und die Römer bewaffneten sich

Jeder mit seinem Schwert.

Der den Lorbeer hielt und der das Beil hielt

Jeder mit seinem Schwert, so daß die Linke jetzt

Den Lorbeer oder das Beil hielt und das Schwert

Die Rechte. Die Liktoren selbst

Legten aus der Hand einen Blick lang

Die Insignien ihres Amts und steckten

In den Gürtel jeder sein Schwert und nahmen

In die Hand wieder Rutenbündel und Beil

Und der Horatier bückte sich

Nach seinem Schwert, dem blutigen, das im Staub lag. 

Aber die Liktoren Verwehrten es ihm mit Rutenbündel und Beil.

Und der Vater des Horatiers nahm sein Schwert auch und ging 

Aufzuheben mit der Linken das blutige

Des Siegers, der ein Mörder war

Und die Liktoren verwehrten es ihm auch

Und die Wachen wurden verstärkt an den vier Toren

Und das Gericht wurde fortgesetzt

In Erwartung des Feinds.

Und der Lorbeerträger sagte:

Sein Verdienst löscht seine Schuld

Und der Beilträger sagte:

Seine Schuld löscht sein Verdienst

Und der Lorbeerträger fragte:

Soll der Sieger gerichtet werden? 

Und der Beilträger fragte:

Soll der Mörder geehrt werden?

Und der Lorbeerträger sagte:

Wenn der Mörder gerichtet wird

Wird der Sieger gerichtet

Und der Beilträger sagte:

Wenn der Sieger geehrt wird

Wird der Mörder geehrt.

Und das Volk blickte auf den unteilbaren einen

Täter der verschiedenen Taten und schwieg.

Und der Lorbeerträger und der Beilträger fragten:

Wenn das eine nicht getan werden kann

Ohne das andere, das es ungetan macht

Weil der Sieger/Mörder und der Mörder/Sieger sind ein Mann, unteilbar 

Sollen wir also von beidem keines tun

So daß da ein Sieg/Mord ist, aber kein Sieger/Mörder

Sondern der Sieger/Mörder heißt Niemand?

Und das Volk antwortete mit einer Stimme

(Aber der Vater des Horatiers schwieg): 

Da ist der Sieger. Sein Name: Horatius. 

Da ist der Mörder. Sein Name: Horatius. 

Viele Männer sind in einem Mann.

Einer hat gesiegt für Rom im Schwertkampf.

Ein andrer hat seine Schwester getötet

Ohne Notwendigkeit. Jedem das Seine.

Dem Sieger den Lorbeer. Dem Mörder das Beil. 

Und der Horatier wurde gekrönt mit dem Lorbeer 

Und der Lorbeerträger hielt sein Schwert hoch 

Mit gestrecktem Arm und ehrte den Sieger

Und die Liktoren legten aus der Hand

Rutenbündel und Beil und hoben das Schwert auf

Das zweimal blutige mit verschiedenem Blut

Das im Staub lag und reichten es dem Sieger

Und der Horatier mit gekrönter Schläfe

Hielt sein Schwert hoch so daß für alle sichtbar war

Das zweimal blutige mit verschiedenem Blut

Und der Beilträger legte das Beil aus der Hand, und die Römer alle 

Hielten jeder sein Schwert hoch drei Herzschläge lang

Mit gestrecktem Arm und ehrten den Sieger.

Und die Liktoren steckten ihre Schwerter

In den Gürtel wieder, nahmen das Schwert

Des Siegers aus der Hand dem Mörder und warfen es

In den vorigen Staub, und der Beilträger riß

Dem Mörder von der Schläfe den Lorbeer

Mit dem der Sieger gekrönt worden war und gab ihn

Wieder in die Hand dem Lorbeerträger und warf dem Horatier 

Über den Kopf das Tuch in der Farbe der Nacht

In die zu gehen er verurteilt war

Weil er einen Menschen getötet hatte

Ohne Notwendigkeit, und die Römer alle

Steckten jeder sein Schwert in die Scheide

So daß die Schneiden alle bedeckt waren

Damit nicht teilhatten die Waffen

Mit denen der Sieger geehrt worden war

An der Richtung des Mörders. Aber die Wachen

An den vier Toren in Erwartung des Feinds

Bedeckten ihre Schwerter nicht

Und die Schneiden der Beile blieben unbedeckt

Und das Schwert des Siegers, das im Staub lag, blutig.

Und der Vater des Horatiers sagte:

Dieser ist mein letztes. Tötet mich für ihn.

Und das Volk antwortete mit einer Stimme:

Kein Mann ist ein andrer Mann

Und der Horatier wurde gerichtet mit dem Beil

Daß das Blut auf die Erde fiel

Und der Lorbeerträger, in der Hand

Wieder den Lorbeer des Siegers, zerrauft jetzt

Weil von der Schläfe gerissen dem Mörder

Fragte das Volk:

Was soll geschehn mit dem Leichnam des Siegers?

Und das Volk antwortete mit einer Stimme:

Der Leichnam des Siegers soll aufgebahrt werden

Auf den Schilden der Mannschaft, heil durch sein Schwert.

Und sie fügten zusammen ungefähr

Das natürlich nicht mehr Vereinbare

Den Kopf des Mörders und den Leib des Mörders 

Getrennt voneinander mit dem Richtbeil

Blutig aus eigenem beide, zum Leichnam des Siegers

Auf den Schilden der Mannschaft, heil durch sein Schwert 

Nicht achtend sein Blut, das über die Schilde floß

Nicht achtend sein Blut auf den Händen, und drückten ihm 

Auf die Schläfe den zerrauften Lorbeer

Und steckten in die Hand mit den gekrümmten Fingern 

Vom letzten Krampf sein staubig blutiges Schwert ihm 

Und kreuzten über ihm die nackten Schwerter

Andeutend, daß nichts versehren solle den Leichnam 

Des Horatiers, der gesiegt hatte für Rom

Nicht Regen noch Zeit, nicht Schnee noch Vergessen 

Und betrauerten ihn mit verdecktem Gesicht.

Aber die Wachen an den vier Toren

In Erwartung des Feinds

Verdeckten ihre Gesichter nicht.

Und der Beilträger, in Händen wieder das Richtbeil

Auf dem das Blut des Siegers noch nicht getrocknet war 

Fragte das Volk:

Was soll geschehn mit dem Leichnam des Mörders? 

Und das Volk antwortete mit einer Stimme

(Aber der letzte Horatier schwieg) :

Der Leichnam des Mörders

Soll vor die Hunde geworfen werden 

Damit sie ihn zerreißen

Also daß nichts bleibt von ihm

Der einen Menschen getötet hat 

Ohne Notwendigkeit.

Und der letzte Horatier, im Gesicht

Zweifach die Tränenspur, sagte:

Der Sieger ist tot, der nicht zu vergessende

Solange Rom über Alba herrschen wird.

Vergeßt den Mörder, wie ich ihn vergessen habe

Der erste im Verlust.

Und von den Römern einer antwortete ihm:

Länger als Rom über Alba herrschen wird

Wird nicht zu vergessen sein Rom und das Beispiel

Das es gegeben hat oder nicht gegeben

Abwägend mit der Waage des Händlers gegen einander

Oder reinlich scheidend Schuld und Verdienst

Des unteilbaren Täters verschiedener Taten

Fürchtend die unreine Wahrheit oder nicht fürchtend

Und das halbe Beispiel ist kein Beispiel

Was nicht getan wird ganz bis zum wirklichen Ende

Kehrt ins Nichts am Zügel der Zeit im Krebsgang.

Und der Lorbeer wurde dem Sieger abgenommen

Und von den Römern einer verneigte sich

Vor dem Leichnam und sagte:

Gestatte, daß wir aus der Hand brechen, Sieger

Dir nicht mehr Empfindendem

Das Schwert, das gebraucht wird.

Und von den Römern ein andrer spie auf den Leichnam und sagte: 

Mörder, gib das Schwert heraus.

Und das Schwert wurde ihm aus der Hand gebrochen

Nämlich seine Hand mit der Totenstarre

Hatte sich geschlossen um den Schwertknauf

So daß die Finger gebrochen werden mußten 

Dem Horatier, damit er das Schwert herausgab 

Mit dem er getötet hatte für Rom und einmal 

Nicht für Rom, das blutige einmal zu viel

Damit gebraucht werden konnte von andern besser 

Was gut gebraucht hatte er und einmal nicht gut.

Und der Leichnam des Mörders, entzweit vom Richtbeil

Wurde vor die Hunde geworfen, damit sie

Ganz ihn zerrissen, so daß nichts bleibe von ihm

Der einen Menschen getötet hatte 

Ohne Notwendigkeit, oder so viel wie nichts.

Und von den Römern einer fragte die andern: 

Wie soll der Horatier genannt werden der Nachwelt? 

Und das Volk antwortete mit einer Stimme: 

Er soll genannt werden der Sieger über Alba

Er soll genannt werden der Mörder seiner Schwester

Mit einem Atem sein Verdienst und seine Schuld.

Und wer seine Schuld nennt und nennt sein Verdienst nicht 

Der soll mit den Hunden wohnen als ein Hund

Und wer sein Verdienst nennt und nennt seine Schuld nicht 

Der soll auch mit den Hunden wohnen.

Wer aber seine Schuld nennt zu einer Zeit

Und nennt sein Verdienst zu anderer Zeit

Redend aus einem Mund zu verschiedner Zeit anders 

Oder für verschiedne Ohren anders

Dem soll die Zunge ausgerissen werden.

Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn

Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann

Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte

Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar

Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich.

Tödlich dem Menschen ist das Unkenntliche.

So stellten sie auf, nicht fürchtend die unreine Wahrheit

In Erwartung des Feinds ein vorläufiges Beispiel

Reinlicher Scheidung, nicht verbergend den Rest

Der nicht aufging im unaufhaltbaren Wandel

Und gingen jeder an seine Arbeit wieder, im Griff

Neben Pflug, Hammer, Ahle, Schreibgriffel das Schwert.





Freitag, 15. Januar 2021

i like my body when it is with your body

ich mag meinen körper when er mit deinem körper ist

 von e. e. cummings


ich mag meinen körper wen er mit deinem

körper ist. er ist so ein ganz neues ding.

muskeln besser und nerven mehr.

ich mag deinen körper. ich mag was er tut.

ich mag seine wies. ich mag das rückgrat zu fühlen

deines körpers und seine knochen, und das zittern

- feste weichheit und die werde ich

wieder und wieder und wieder

küssen ich mag dies zu küssen und das von dir

ich mag es langsam zu streicheln den, schockierenden flaum

deines elektrischen pelzes, und was-ist-es das kommt

über geöffnetem fleisch... und sieht große liebesbrosamen

und möglicherweise mag ich den kitzel

von unter mir du so ganz neu

 

 

Gustave Courbet "Der Ursprung der Welt"  

 

i like my body when it is with your body

by e. e. cummings

 

i like my body when it is with your
body. it is so quite new a thing.
muscles better and nerves more.
i like your body. i like what it does,
i like its hows. i like to feel the spine
of your body and its bones, and the trembling
-firm-smoothness and which i will
again and again and again
kiss, i like kissing this and that of you,
i like, slowly stroking the, shocking fuzz
of your electric fur, and what-is-it comes
over parting flesh… and eyes big love-crumbs,

and possibly i like the thrill

of under me you so quite new

Montag, 1. Juli 2019

WAITING FOR THE BARBARIANS

Ich hatte den Namen Constantine Peter Cavafy noch nie gehört, stieß auf ihn in einem Essay über Popkultur und war überrascht. In Alexandria geboren, hat er zeitweise in Liverpool, Konstantinopel und irgendwo in Frankreich gelebt und sich dann für ein Leben in Alexandria als Beamter im ägyptischen Staatsdienst des ausgehenden 19. Jahrhunderts entschieden. 
Kühle weht einem entgegen, Ironie und eine ganz unsentimentale Melancholie. Die Strenge in der Form kann ich aus den Übersetzungen nur vermuten. 
Ein kleiner Fund.
Was ich für Gedichte verpasse, weil ich so wenig Fremdsprachen verstehe! 

WARTEN AUF DIE BARBAREN

Worauf warten wir, versammelt auf dem Marktplatz?

Auf die Barbaren, die heute kommen.

Warum solche Untätigkeit im Senat?
Warum sitzen die Senatoren da, ohne Gesetze zu machen?

Weil die Barbaren heute kommen.
Welche Gesetze sollten die Senatoren jetzt machen?
Wenn die Barbaren kommen, werden diese Gesetze machen.

Warum ist unser Kaiser so früh aufgestanden?
Warum sitzt er mit der Krone am größten Tor der Stadt
Hoch auf seinem Thron?

Weil die Barbaren heute kommen
Und der Kaiser wartet, um ihren Führer
zu empfangen. Er will ihm sogar eine Urkunde
Überreichen, worauf viele Titel
Und Namen geschrieben sind.

Warum tragen unsere zwei Konsuln und die Prätoren
Heute ihre roten, bestickten Togen?
Warum tragen sie Armbänder mit vielen Amethysten
Und Ringe mit funkelnden Smaragden?
Warum tragen sie heute die wertvollen Amtsstäbe,
Fein gemeißelt, mit Silber und Gold?

Weil die Barbaren heute erscheinen,
Und solche Dinge blenden die Barbaren.

Warum kommen die besten Redner nicht, um wie üblich
Ihre Reden zu halten?

Weil die Barbaren heute erscheinen,
Und vor solcher Beredtheit langweilen sie sich.

Warum jetzt plötzlich diese Unruhe und Verwirrung?
(Wie ernst diese Gesichter geworden sind.) Warum leeren
Sich die Straßen und Plätze so schnell, und
Warum gehen alle so nachdenklich nach Hause?

Weil die Nacht gekommen ist und die Barbaren doch nicht
Erschienen sind. Einige Leute sind von der Grenze gekommen
Und haben berichtet, es gebe sie nicht mehr, die Barbaren.

Und was wird nun aus uns ohne Barbaren?
Diese Leute waren eine Art Lösung.  


 
Übersetzt aus dem Griechischen Robert Elsi. Und von mir leicht verändert.
Aus: Das Gesamtwerk Amman Verlag 1997

 
WAITING FOR THE BARBARIANS

By C. P. Cavafy 
Translated by Edmund Keeley
What are we waiting for, assembled in the forum?

The barbarians are due here today.

Why isn’t anything going on in the senate?
Why are the senators sitting there without legislating?

Because the barbarians are coming today.
What’s the point of senators making laws now?
Once the barbarians are here, they’ll do the legislating.

Why did our emperor get up so early,
and why is he sitting enthroned at the city’s main gate,
in state, wearing the crown?

Because the barbarians are coming today
and the emperor’s waiting to receive their leader.
He’s even got a scroll to give him,
loaded with titles, with imposing names.

Why have our two consuls and praetors come out today
wearing their embroidered, their scarlet togas?
Why have they put on bracelets with so many amethysts,
rings sparkling with magnificent emeralds?
Why are they carrying elegant canes
beautifully worked in silver and gold?

Because the barbarians are coming today
and things like that dazzle the barbarians.

Why don’t our distinguished orators turn up as usual
to make their speeches, say what they have to say?

Because the barbarians are coming today
and they’re bored by rhetoric and public speaking.

Why this sudden bewilderment, this confusion?
(How serious people’s faces have become.)
Why are the streets and squares emptying so rapidly,
everyone going home lost in thought?

Because night has fallen and the barbarians haven't come.
And some of our men just in from the border say
there are no barbarians any longer.

Now what’s going to happen to us without barbarians?
Those people were a kind of solution.

Geschrieben 1898 und veröffentlicht 1904.

Constantine Peter Cavafy, auch bekannt als Konstantin oder Konstantinos Petrou Kavafis; geboren am 29. April 1863 – gestorben am 29. April 1933 war ein ägyptisch-griechischer Poet, Jurnalist und Beamter.

Montag, 31. Dezember 2018

Auld Lang Syne - Längst Vergangene Zeit

Meine Mama ist nun schon ziemlich lang tot, aber als sie noch lebte, hat sie zu Silvester um Mitternacht immer eine Trompeten-Version eines alten schottischen Liedes gespielt. Eines über "alte Zeiten", und dass wir ein Glas voll Freundlichkeit trinken sollten, for the sake of auld lang syne, um der alten Zeiten willen, weil es einst gut war und weil wir vergessen könnten und unser Vergessen die guten Leute zum zweiten Mal töten würde. Mein Liebling Annette ist mit 42 Jahren gestorben, völlig widersinnig mitten im vollen Leben an bösem Krebs, ich möchte auf sie ein Glas Freundlichkeit trinken und auf meine Mama und auf meinen Vater und auf meine Oma Helli und auf die vielen guten Leute, die früher starben, als es mir nötig erschien. Der Tod ist demokratisch, aber er ist auch kalt und grausam. Da ich nicht den Trost gläubiger Menschen habe, ist das wirklich ein existentielles Problem für mich. Wir sind auf dieser Welt für eine beschränkte Zeit und eine undurchsichtige Lebenslotterie entscheidet wie eng diese Beschränkung seien wird. Pinochet stirbt mit über 90 Jahren im Kreis seiner Familie, meine wunderbare Tante Gerda starb mit 60 Jahren, bevor sie, als DDR-Bürgerin, endlich den Rhein sehen konnte, wo ist da Gerechtigkeit?  Das macht für mich  überhaupt keinen Sinn. Sterben ist endgültig und ohne jede begreifbare Auswahlkriterien. Ich will nicht sterben und werde es doch. Weniger rauchen, trinken könnte helfen, muß es aber nicht. 

The very old grandmother of my cousin twice removed said: “If things go too smoothly in life, you get dull!”



https://www.focus.de/kultur/musik/silvesterhit-auld-lang-syne-denn-sie-wissen-nicht-was-sie-singen_aid_698134.html

Lasst uns ein Glas Freundlichkeit miteinander trinken.

Sollen alte Freunde vergessen werden und nicht mehr in unseren Gedanken sein? Sollen alte Freunde vergessen werden und die lang vergangenen Zeiten? Auf die lang vergangenen Zeiten, mein Lieb, auf die die lang vergangenen Zeiten, wir werden ein Glas Freundlichkeit trinken, auf die lang vergangenen Zeiten. Und gewiss wirst Du dir ein Glas bestellen und sicher wirst du meins bezahlen. und gewiss werden wir ein Glas Freundlichkeit trinken, auf die alten Zeiten.


Auld Lang Syne

Robert Burns 1788

Should old acquaintance be forgot,
And never brought to mind?
Should old acquaintance be forgot,
And old lang syne?

CHORUS:

For auld lang syne, my dear,
For auld lang syne,
We’ll take a cup of kindness yet,
For auld lang syne.
And surely you’ll buy your pint cup!
And surely I’ll buy mine!
And we’ll take a cup o’ kindness yet,
For auld lang syne.

We two have run about the slopes,
And picked the daisies fine;
But we’ve wandered many a weary foot,
Since auld lang syne.

CHORUS

We two have paddled in the stream,
From morning sun till dine;
But seas between us broad have roared
Since auld lang syne.

CHORUS

And there’s a hand my trusty friend!
And give me a hand o’ thine!
And we’ll take a right good-will draught,
For auld lang syne.


CHORUS

ODER ABER

Kleines Lied

Es war einmal ein Mann
Der fing das Trinken an
Mit achtzehn Jahren und -
Daran ging er zugrund.
Er starb mit achtzig Jahr
Woran, ist sonnenklar.

Es war einmal ein Kind
Das starb viel zu geschwind
Mit einem Jahr und -
Daran ging es zugrund.
Nie trank es: das ist klar
Und starb mit einem Jahr.

Daraus erkennt ihr wohl
Wie harmlos Alkohol...


Bertolt Brecht

Sonntag, 23. September 2018

60

Ein komisch Ding so ein sechzigster Geburtstag. 

Mein sechzigster Geburtstag!

Damals, als ich jung war, ein skurriler Satzanfang, gingen Leute mit Sechzig in Rente und die Vorstellung jemals soooo alt zu werden, schien mir völlig absurd. Alte liefen nicht, sie tapperten, tranken dünnen Kaffee und aßen große Stücke Margarinetorte, hatten blasse Augen, dünne Stimmen und unpassend neue Zähne. Sie redeten von früher, als es besser oder härter war, und kniffen dich zärtlich in die Wange. Aliens wären mir näher gewesen, als diese halbtoten Wackelgreise. Was für hochmütige Augen ich hatte. Alt waren die anderen. Die Ausnahme: meine Großmutter.

1986. 

Meine Freundin Annette und ich entwickeln eines Nachts in der Kantine des DT die Vision einer allmächtigen Seniorenabfangstasi, die am späten Abend deines sechzigsten Geburtstages mit einem unauffälligen Barkas vor Deinem Haus parkt, (die Idee entstand in der DDR, der Barkas war das DDR-Equivalent zum VW-Bus), Dich kidnappt, an einen geheimen Ort verfrachtet und in einen Rentner umformt. Die Haare werden ausgedünnt, mittelkurz geschnitten, violett-blau-weiß getönt und dauergewellt, die Garderobe wird entsprechend zusammengestellt: labrige Rippenunterwäsche, hautfarbenen Strumpfhosen, Blousons in greige, die losen Oberteile dezent geblümt, dazu helle Stoffhosen mit exakter Bügelfalte und bequeme flache Schuhe, die heute Marga Schöller liefert. Und am nächsten Morgen wirst du wach, hast die Ereignisse der Nacht vergessen, quälst dich ächzend aus deinem Bett, setzt das Gebiß ein und kochst dir erstmal einen Blümchenkaffee.
Nettie ist unerhörterweise und gänzlich gottverneinend so früh gestorben, dass sie den Gegenbeweis nicht erleben durfte. Bei unserem letzten Zusammensein, schon sehr krank und schwach, hat sie mich hart am Kragen gegriffen und mit schwacher Stimme gesagt: "Wage es nicht, dein Leben nicht zu geniessen!"

Jetzt bin ich 60.

Diese letzte Drohung hab ich mir gemerkt. 60 Jahre Welt. 60 Jahre lernen. Und da bin ich nun, ein wandelnder Widerspruch. Wache auf und bin stark und unternehmungslustig, mein Spiegel bestätigt mir meist freundlich diesen Eindruck. Und manchmal kenne ich das mir entgegenblickende Gesicht kaum, es ist alt, müde, irgendwie unscharf. Aber solang die Gesundheit mitspielt, bleibt die Entscheidung bei mir. Interessiere ich mich für die Welt? Bleibe ich widerständig? Kann ich noch über mich lachen? Liebe ich noch? Solang es Freunde und Widersacher gibt: Lets dance!


P.S. Am Abend des Geburts-Tages der Anruf von der Mutter einer Freundin: "91 an 60, 91 an 60!" Sie hat noch eine Jahreskarte fürs Schwimmbad! 

P.P.S. Übrigens kriege ich die nächste Bahncard als Senior zu ermäßigtem Preis, juchuh!

Gestutzte Eiche
 
Wie haben sie dich, Baum, verschnitten
Wie stehst du fremd und sonderbar!
Wie hast du hundertmal gelitten,
Bis nichts in dir als Trotz und Wille war!
Ich bin wie du, mit dem verschnittnen,
Gequälten Leben brach ich nicht
Und tauche täglich aus durchlittnen
Roheiten neu die Stirn ins Licht.
Was in mir weich und zart gewesen,
Hat mir die Welt zu Tod gehöhnt,
Doch unzerstörbar ist mein Wesen,
Ich bin zufrieden, bin versöhnt,
Geduldig neue Blätter treib ich
Aus Ästen hundertmal zerspellt,
Und allem Weh zu Trotze bleib ich
Verliebt in die verrückte Welt.

Hermann Hesse 1919

Sonntag, 2. September 2018

Milo Rau - Die Wiederholung

Die Rekonstruktion eines Mordes, die Wiederholung einer unerklärlichen Untat.

Ein junger, homosexueller Mann wird, soweit wir es wissen können, anlaßlos von drei anderen Männern getötet. Der Ort ist Lüttich, einst Standort einer blühenden Stahlinsustrie, heute, bewohnt von Arbeitslosen. ZAm Abend der Tötung, zwei Geburtstagsfeiern, das Opfer besuchte die eine, die Täter kommen von einer anderen, Alkohol ist im Spiel.

Milo Rau, der Regisseur, hat neulich ein Manifest veröffentlicht, das Genter Manifest (https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=15410:das-genter-manifest-das-neue-leitungsteam-des-ntgent-um-milo-rau-gibt-sich-zehn-radikale-regeln&catid=101:debatte&Itemid=84), so wie Marx und Engels einst ihres oder später dänische Filmemacher das Dogma 95.

Wiki sagt: Ein Manifest (lateinisch manifestus, handgreiflich gemacht‘) ist eine öffentliche Erklärung von Zielen und Absichten, oftmals politischer Natur.

Theater ist Wiederholung, man probiert, diskutiert, wagt, aber dann muß man es an jedem Abend wiederholen, um 20.00 Uhr oder 19.30, mal hier mal da, die Stimmung stimmt oder nicht, egal, das Publikum darf Kunst erwarten für 20, 30 oder mehr Euros, die es bezahlt hat.

Milo Rau ist, scheint mir, größenwahnsinniger Rechthaber und ein suchender Künstler, ein verwöhnter Schweizer und ein penibler Rechercheur zu sein, und manchesmal, für Momente, ein Poet. Er kämpft mit dem Theater, dass er liebt und hasst. Er empört sich über die Stärke alter Texte, denen er nicht entkommt, also verbietet er sie, bzw. er erlaubt nurmehr einen 20 prozentigen Anteil klassischer Texte in seinen Produktionen.

Er ist klug. Er weiß viel über das Theater.

Der stärkste Moment heute Abend, war, für mich, als, nachdem ich viel Videoübertragung des aktuellen Bühnengeschehens gesehen hatte, als das Video plötzlich ein Eigenleben entwickelte, denn der Hund, der von einem Darsteller spazieren geführt wurde, war nur im Video real, auf der Bühne führte er pantomimisch ein unsichtbares Tier an der Leine. Oder als die Laiendarstellerin (Hundetrainerin), die im Bühnen-Interview zweifelte, ob sie sich auf der Bühne ausziehen würde, in der Filmszene nackt war und dann scheu der Video-Vorlage auf der Bühne folgte.

Poesie ist, wenn ein Gabelstaplerfahrer den Gabelstapler elegant fahrend mit einem singenden Schauspieler tanzt, der "The Cold Song" singt.

Ernüchterung ist, wenn versucht wird, einen vier Stunden dauernden, brutalen Mord auf der Bühne naturalistisch nachzuspielen. Das bleibt im harmlosen Bühnenkampf hängen, das kann Film besser, oder auch Theater, wenn es die grauenhaften Vorgänge im Off beläßt.

Gut, dass ich an diesem Abend dauernd denken muß. Schade, dass er, Milo Rau, nicht zugeben kann, wo die alten Texte schlauer sind als er. Er baut großartige Collagen, aber er ist kein kein Dichter. Er ist wunderbar, aber es mangelt ihm an Demut. Vielleicht aber habe ich auch zu viel davon. 


Eindrücke aus dem Theater

Für mich ist das wichtigste in einer Tragödie der sechste Aufzug:
die Auferstehung vom Schlachtfeld der Bühne,
das Zupfen an den Perücken, Gewändern,
das Entfernen des Dolchs aus der Brust,
das Lösen der Schlinge vom Hals,
der muntere Auftritt in einer Reihe
mit dem Gesicht zum Parkett.
Verbeugung, einzeln, gemeinsam:
die weiße Hand auf der Wunde des Herzens,
die Knickse der Selbstmörderin,
das Nicken geköpfter Häupter.

Verbeugungen paarweise:
die Wut Arm in Arm mit der Sanftmut,
das Opfer blickt selig ins Auge des Henkers,
Rebell und Tyrann gehen friedlich nebeneinander.

Der Tritt der Ewigkeit mit der Spitze des goldnen Pantoffels.
Das Fortfegen der Moral mit der Krempe des Hutes.
Die unverbesserliche Bereitschaft, alles zu wiederholen.

Der Einzug im Gänsemarsch der früher Verstorbenen,
im zweiten, im vierten Akt, auch zwischen den Akten.

Die wunderbare Rückkehr der spurlos Verschollnen.
Zu denken, daß sie geduldig hinter Kulissen warteten,
immer noch kostümiert,
ohne sich abzuschminken,
rührt mich stärker als alle Tiraden des Dramas.

Wahrhaft erhaben aber ist das Fallen des Vorhangs
und was man noch durch den unteren Spalt sieht:
da hebt eine Hand die Blume eilig vom Boden,
dort eine andere das liegengelassene Schwert.
Erst dann erfüllt sich die unsichtbare dritte
ihre Verpflichtung:
sie schnürt mir die Kehle.

Wislawa Szymborska

Milo Rau Photo: Thomas Muller

Sooft war ich noch nie in der Schaubühne. Alles außer Ostermeier, seine Arbeiten lösen bei mir Respekt aus und Kühlschrankkälte. Warum? Ich weiß nicht so recht. Die Seelenprobleme der bürgerlichen Mitte sind nicht mein Thema? Dabei bin ich selbst irgendwie ein Teil davon. Ibsen nee, Strindberg immer, Tschechow ja. Ich will die Volksbühne wiederhaben! Wiederholung. Unmöglich, aber ersehnt.

Dienstag, 31. Juli 2018

Hitze, Witze, Ritze, Sitze, Kitze, Blitze, Spitze, Schwitze, Spritze, Zitze, Litze, Sitze, ...

Was reimt sich auf Hitze? Witze, Ritze, Sitze, Kitze, Blitze, Spitze, Schwitze, Spritze, Zitze, Litze, Sitze. und für schlechte Reime ginge auch noch Mütze und Grütze.

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 Ein sehr schwaches Hitzegedicht

Seit Tagen, Wochen nichts als Hitze,
Selbst wenn ich am Computer sitze,
Tiefnachts, spür ich, wie ich schwitze.

Vor Tagen gab es plötzlich Blitze,
Ein Atemholen, doch nur klitze-
klein, schon wieder Schweiß in jeder Ritze.
Der Sommer treibt es auf die Spitze,
Mir fehlen langsam selbst die Witze,
Denn mein Gehirn ist nur noch Grütze.

Wie bau ich ein die armen Kitze,
Die sicher leiden in der Hitze?
Nur Kochmilch fließt aus Rickes Zitze.

Ach, gebt mir doch 'ne fette Spritze
Eiskalten Wassers, ich dusch euch hitze-
frei. Seht, staunt dann wie ich flitze

Zum nächste See. Nur noch 'ne Pfütze.
Ach ja, die Litze.
Kein Platz, 

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Sommerabend
(Schönes Hitzegedicht)

Die große Sonne ist versprüht,
der Sommerabend liegt im Fieber,
und seine heiße Wange glüht.
Jach seufzt er auf: "Ich möchte lieber ..."
Und wieder dann: "Ich bin so müd ..."

Die Büsche beten Litanein,
Glühwürmchen hangt, das regungslose,
dort wie ein ewiges Licht hinein;
und eine kleine weiße Rose
trägt einen roten Heiligenschein.
Rainer Maria Rilke 

Sonntag, 29. Juli 2018

Landleben, Bulldoggen und Kirschdiebe

Eine ganze Woche Landleben mit einer wunderbaren Freundin - Housesitting mit gemeinsamer Verantwortung für einen großen Garten und zwei Hunde. Mal was ganz anderes. So viel Grün, trotz der Hitze. So viel notwendige Arbeit. Aber auch: Starren aufs abgemähte Feld, frischgepflückte Brombeeren von der Nachbarin, Schnittlauch vom Kräuterbeet, unendliche Ballspiele mit den schwarz-weiß gepunkteten Hunden, ein Gewitter, wie es sich gehört, träges Schwimmen im trüben, aber seidenweichen See zusammen mit vielen hinreißenden Kindern. Werden unsere Kinder immer übergewichtiger, oder bilde ich mir das ein?
Ich bin keine Gärtnerin, meine Freundin ist es, Gott sei Dank, und ich bin ein außergewöhnlich begabter Hundebespaßer.  
Genauer, ein pubertärer, hechelnder, wilder, kleiner Bully und eine alte, schnaufende, kuschelsüchtige französische Bulldogge haben mein Herz erobert. Ich vermute, ich habe mich verliebt. Als wir die beiden Rabauken heute in der Hundepension abgegeben haben, kam ich mir vor, wie die böse Stiefmutter, die die süßen Kleinen ins lieblose Heim abschiebt. Die können vielleicht mitleiderregend gucken! Oh weh!
Und dann, mit schlechtem Gewissen in die Stadt zurückkehrend und einer umständlichen Umleitung folgend, habe ich zufällig eine Wandmalerei an einem Haus in Weißensee entdeckt. 
Während ich dies schreibe, schwitze ich im Sitzen.
Der Kirschdieb

An einem frühen Morgen, lange vor Hahnenschrei
Wurde ich geweckt durch ein Pfeifen und ging zum Fenster.
Auf meinem Kirschbaum - Dämmerung füllte den Garten -
Saß ein junger Mann mit geflickter Hose
Und pflückte lustig meine Kirschen. Mich sehend
Nickte er mir zu, mit beiden Händen
Holte er die Kirschen von den Zweigen in seine Taschen.
Noch eine ganze Zeitlang, als ich wieder in meiner Bettstatt lag
Hörte ich ihn sein lustiges kleines Lied pfeifen.

Bertolt Brecht 1938
© 44Pinguine

Donnerstag, 12. Juli 2018

FLEISCH im Alten Museum

Ich liebe Fleisch. Rindersteak möglichst blutig. Die Kuh muß nur langsam durch einen warmen Raum laufen. 
Aber ich liebe auch Schabefleisch, Leberwurst, Speck, Leber, Bierschinken, Blutwurst, Schweinebraten, Lammnierchen, Rouladen, Salami, Schnitzel. Ein kläglicher Versuch mich zum Vegetarier umzuformen, endete wegen purer Fleischeslust nach nur zwei Wochen. Meine Schwäche, meine Schande. Ich versuche, um mein Gewissen zu beruhigen, nur ökologisch abgesegnetes Fleisch zu kaufen. Aber mein Körper verlangt nach dem Verzehr von Fleisch.
Mein Körper ist (zu Teilen) auch Fleisch, er isst es und ist es. 

Das Alte Museum, das eigentlich das Neue ist, hat einen Raum einer kleinen, etwas zufälligen und dennoch feinen Sammlung zum Thema Fleisch gewidmet.


 
Priaposstatuette mit hahnartigem Kopf
Tintinabulum / Kopie

Jeder hat seine Last zu tragen.

Büste eines toten Mannes
Johann Christoph Ludwig Lücke
1732

Opfer für Konfuzius im Frühjahr & Herbst
China 1929-34

Fröhlich vom Fleisch zu essen, das saftige Lendenstück
Und mit dem Roggenbrot, dem ausgebackenen, duftenden
Den Käse vom großen Laib und aus dem Krug
Das kalte Bier zu trinken, das wird
Niedrig gescholten, aber ich meine, in die Grube gelegt werden
Ohne einen Mundvoll guten Fleisches genossen zu haben
Ist unmenschlich, und das sage ich, der ich
Ein schlechter Esser bin.
b.b.