Posts mit dem Label Text werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Text werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Mittwoch, 27. April 2016

Albert Camus - Die Krise des Menschen - 1946

Ende März 1946 hielt Albert Camus einen Vortrag an der Columbia University in New York: Unter dem Titel »The Human Crisis« erschien die englische Übersetzung des Vortrags im selben Jahr in der New Yorker Zeitschrift Twice A Year. Das französische Original gilt als verschollen, so dass die Pariser Nouvelle Revue Française 1996 eine Rückübersetzung veröffentlichen musste, die Faust-Kultur hier erneut veröffentlicht.
100. Geburtstag von Albert Camus am 7. november 2013

Die Krise des Menschen

Von Albert Camus
Lassen Sie mich zuerst den Standort meiner Generation bestimmen. Die Menschen meines Alters wurden kurz vorm oder im Ersten Weltkrieg geboren, durch­leb­ten ihre Jugend in der Welt­wirt­schaftskrise und waren etwa zwanzig, als Hitler an die Macht kam. In Europa und Frank­reich erhielten sie zur Abrundung ihrer Bildung den Spanischen Bürgerkrieg, München, den Kriegs­aus­bruch 1939, die Nie­der­lage und vier Jahre Besatzung und Widerstand. Das dürfte gemeint sein, wenn man diese Generation als interessant bezeichnet. Deshalb dachte ich, dass nicht ich nur in meinem Namen zu Ihnen sprechen sollte, sondern im Namen von Franzosen, die heute dreißig Jahre alt sind und deren Hirne und Herzen sich in jenen furchtbaren Jahren gebildet haben, als sie und ihr Land sich von Schande nährten und lernten, nicht mehr mitzumachen.
Ja, eine interessante Generation ist es, vor allem deshalb, weil sie angesichts der absur­den Welt, die ihnen hinterlassen worden war, an nichts glaubte und in der Revolte lebte. Die Li­te­ratur ihrer Zeit revoltierte gegen Klarheit, Erzählung und sogar gegen den Satz. Die Malerei verwarf den Gegenstand, die Wirklichkeitstreue und sogar die Proportion. Die Musik schaffte die Me­lo­die ab. Die Philosophie schließlich lehrte, dass es keine Wahrheit gebe, son­dern nur Phänomene: dass es Mister Smith, Monsieur Durand und Herrn Vo­gel geben mochte, aber nichts diesen drei Ein­zel­phä­no­me­nen Gemeinsames. Die moralischen Vorstellungen dieser Ge­ne­ration gingen sogar noch weiter: Nationalismus hielt sie für über­leb­t, Religion für Flucht; die fünfundzwanzig Jahre politi­sches Weltgeschehen ­hatten sie gelehrt, jede echte Über­zeu­gung in Zweifel zu ziehen und zu mei­nen, dass nie­mand Unrecht habe, da jeder Recht haben könne­. Was die traditionelle Moral unserer Gesellschaft anbelangte, so war sie, was sie noch immer ist: eine mon­strö­se Heuchelei.
So verneinte diese Generation alles. Das war an und für sich nichts Neues. Andere Gene­ra­tio­nen in anderen Ländern hatten dieselbe Erfahrung in anderen Epochen gemacht. Neu war nur, dass Menschen, die allen Wertsetzungen entfremdet waren, sich zu einer Welt verhalten mussten, in der Mord und Terror herrschten. Die Widersprüche, in die sie dabei gerieten, waren so grau­sam, dass sie auf eine Krise des Menschen überhaupt schlossen. Sie traten in den Krieg ein, wie man in die Hölle eintritt, wenn es denn wahr ist, dass die Hölle die Verneinung von allem ist. Sie, die weder Krieg noch Gewalt suchten, mussten den Krieg mitmachen und Gewalt ausü­ben; sie, die nichts hassten als den Hass, mussten dessen strenge Disziplin lernen. In offenem Ge­gen­satz zu sich selbst, ohne jede Anleitung durch überlieferte Werte, hatten sie die schwersten menschli­chen Konflikte auszuhalten. So ist da auf der einen Seite diese besondere Generation, die ich eben beschrieben habe, und auf der anderen eine Krise von weltweiten Ausmaßen, eine Krise des Gewissens, die ich jetzt so klar wie möglich charakterisieren möchte.
Statt sie allgemein zu beschreiben, möchte ich sie durch vier kurze Geschichten illustrieren, Geschichten aus einer Zeit, die die Welt zu vergessen anfängt und die doch noch in unseren Herzen brennt.
1) In einer europäischen Hauptstadt findet die Hausmeisterin in einer von der Gestapo gemieteten Wohnung morgens zwei in der Nacht Verhörte vor, noch blutend und gefesselt; sorg­fäl­tig richtet sie den Raum wieder her – guter Dinge, sicher kommt sie gerade vom Früh­stück. Als einer der gefolterten Männer ihr Vorhaltungen macht, empört sie sich: “Ich mische mich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten meiner Mieter ein.”
2) In Lyon wird einer meiner Genossen zum dritten Verhör aus der Zelle geholt. Bei einem der beiden ersten Verhöre sind ihm die Ohren zerfetzt worden, und er trägt einen Verband um den Kopf. Der deutsche Offizier, der ihn hereinführt, derselbe, der an dem früheren Verhör teilgenommen hatte, fragt ihn wie mit besorgter Anteilnahme: “Was machen Ihre Ohren?”
3) In Griechenland hat ein deutscher Offizier nach einem Partisanenüberfall drei Brüder als Geiseln genommen und trifft Anstalten, sie erschießen zu lassen. Die alte Mutter der drei bit­tet um Gnade, und er erklärt sich bereit, einen der Söhne zu verschonen, aber unter der Bedin­gung, dass sie selber bestimme, welchen. Als sie sich dazu nicht entscheiden kann, machen sich die Soldaten schussbereit. Schließlich zeigt sie auf den Ältesten, weil der eine Familie zu ernähren hat, und verurteilt damit zugleich die beiden anderen Söhne – wie es der deutsche Offi­zier beabsichtigt.
4) Eine Gruppe deportierter Frauen, darunter eine Genossin, wird über die Schweiz nach Frankreich repatriiert. Kaum auf Schweizer Boden, sehen sie eine Beerdigung. Der bloße An­blick versetzt sie in hysterisches Lachen: ”So also geht man hier mit den Toten um”, sagen sie.
Ich habe diese Geschichten nicht wegen ihres Sensationsgehalts ausgewählt. Ich weiß, wie zartbesaitet die Welt ist und dass man lieber die Augen verschließt, als sich stören zu lassen. Diese Geschichten habe ich auswählt, weil ich nun anders als mit einem konventionellen ja auf die Frage ant­worten kann: “Ist der Mensch in einer Krise?” Nun kann ich so antworten, wie es diejenigen, von denen ich sprach, getan haben: Ja, der Mensch ist in einer Krise, weil Tod oder Folter eines Menschen in unserer Welt mit Gleichgültigkeit, mit wissenschaft­li­cher Neugier oder auch ganz ohne Reaktion mit­an­ge­­se­hen werden. Ja, der Mensch ist in einer Krise, weil die Tötung eines Menschen anders als mit Abscheu und Scham, die sie hervorrufen sollte, betrachtet werden kann. W­eil Trauer wie eine leidige Verpflichtung empfunden wird, etwas ­wie der Um­stand, um Lebensmittel anstehen zu müssen ­– deshalb ist der Mensch in einer Krise.
Es ist zu leicht, einfach Hitler die Schuld daran zu geben und zu sagen, da die Schlange zertreten sei, sei auch das Gift aus der Welt. Denn wir wissen ganz genau, dass dieses Gift nicht aus der Welt ist, dass wir alle es in unseren eigenen Herzen tragen, wie sich an dem Argwohn zeigt, mit dem Nationen, Parteien und Individuen sich unverändert begegnen. Ich war immer der Auffassung, dass eine Nation für ihre Verräter ebenso verantwortlich sei wie für ihre Helden. Aber das gilt auch für eine Zivilisation, und die Zivilisation des weißen Mannes insbesondere ist für ihre Perversionen genauso verantwortlich wie für ihre Ruhmes­taten. So gesehen ­sind wir alle für den Hitlerismus verantwortlich und verpflichtet, den tieferen Ursachen dieser Pest nachzufor­schen, die das Gesicht Europas entstellt hat.
Versuchen wir nun, anhand der vier Geschichten, die ich erzählt habe, die deut­lich­sten Symptome der Krise aufzuzählen. Es sind die folgenden:
1) Gewaltherrschaft als Folge einer derartigen Pervertierung von Werten, ­dass ein ein­zel­ner oder eine historische Kraft heute nicht nach ihrer Menschenwürde, son­dern nach ihrem Er­folg beurteilt werden. Die Krise der Moderne ist deutlich daran abzulesen, dass im Westen keiner sei­ner unmittelbaren Zukunft mehr sicher ist, während jeder mit der Gewissheit zurecht­kom­men muss­, so oder so unter die Räder der Geschichte zu geraten. Soll der Hiob unserer Zeit nicht an seinen Wunden auf dem Misthaufen verenden, muss erst einmal die Hypothek von Furcht und Angst getilgt werden, damit er die geistige Freiheit wiederfindet kann, ohne die keins der Probleme, vor denen unsere Gewissen heute steht, zu lösen ist;
2) das Unvermögen, zu überzeugen. Menschen leben ­– und können nur leben – in dem Glau­ben an etwas allen Gemeinsames, etwas, auf das sie sich immer zurückbeziehen können. Wenn man zu einem Menschen menschlich spricht, erwartet man Reaktionen, die ebenfalls mensch­lich sind. Stattdessen haben wir erlebt, dass es Menschen gibt, die man nicht überzeugen kann. Ein KZ-Häftling konnte unmöglich die SS-Männer, die ihn schlugen, vom Unrecht ihres Tuns überzeu­gen. Die griechische Mutter, von der ich sprach, konnte unmöglich den deutschen Offizier davon überzeugen, dass er ihr mit seiner Grausamkeit das Herz brach. Denn SS-Leute und deutsche Offiziere waren keine Menschen mehr, keine Vertreter der Spezies Mensch, sondern zur Idee oder Theorie erhobener Instinkt. Lei­den­schaft, selbst mörderische, wäre weni­ger teuf­lisch gewesen, denn Leidenschaft erschöpft sich irgendwann. Hingegen ein Mensch, der imstande ist, nach dem Zustand der Ohren zu fragen, die er vorher selber zerfetzt hat, der ist nicht von Leidenschaft getrieben, der ist wie ein mathe­ma­­ti­­sches Theorem, das durch nichts aufgehalten oder umgelenkt werden kann;
3) die Ersetzung der natürlichen Sache durch bedrucktes Papier, womit ich das Über­hand­­neh­­men der Bürokratie meine. Der moderne Mensch schiebt zwischen sich und die Na­tur eine immer ab­straktere und kompliziertere Maschinerie, die ihn in die Einsamkeit stößt. Aus Papier, Büros und Beamten ist eine Welt entstanden, aus der alle menschliche Wärme geschwun­den ist und wo der Kontakt von einem zum andern nur noch durch ein Labyrinth von Formali­tä­ten führt. Der deutsche Offizier, der meinem Genossen besänftigend in die geschun­de­nen Ohren sprach, glaubte so handeln zu dürfen, weil der Schmerz, den er ihm zugefügt hatte, zu seinen Dienstaufgaben gehörte, folglich eigentlich nichts Böses geschehen war. Kurz, wir sterben, lieben oder töten nur noch im Auftrag;
4) die Ersetzung des Menschlichen durch das Politische. Individuelle Leidenschaften gibt es nicht mehr, nur noch kollektive, also abstrakte Leidenschaften. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen politisch sein. Was heute zählt, ist nicht, ob man eine Mutter achtet und ihr Leid erspart – was heute zählt, ist nur noch, ob man einer Doktrin zum Triumph verholfen hat oder nicht. Menschliches Leiden ist kein Skandal mehr, sondern nur noch ein Posten auf einer Rechnung, deren Schreckenssumme erst noch gezogen werden muss;
5) der all diesen Symptomen gemeinsame Nenner, den wir als den Kult von Effizienz und Abstraktion beschreiben können. Das ist der Grund, warum der europäische Mensch heute nichts als Einsamkeit und Schweigen erfährt. Er kann sich anderen Menschen nicht mitteilen, weil es keine Werte mehr gibt, die alle teilten. Deshalb kann er nicht mehr der Achtung durch andere sicher sein, und ihm bleibt nur noch die Wahl, Opfer oder Henker zu werden;

II.

Das ist die Erfahrung meiner Generation, und das ist die Krise, in der sie sich befand und immer noch befindet. Ihr mussten wir uns stellen und dabei Orientierungshilfe suchen, wo wir sie fan­den, also nirgends, außer im Bewusstsein von der Absurdität unserer Situation. So mussten wir in den Krieg und dem Grauen ins Auge sehen, ohne den Trost letzter Gewissheiten zu haben. Wir wussten nur, ­dass wir den Bestien, die in Europa die Macht an sich gerissen hatten, nicht nach­geben durf­ten, aber nicht, wie wir, was wir für unsere Pflicht hielten, in der Lage, in der wir uns be­fan­den, rechtfertigen sollten. Selbst die Nachdenklichsten unter uns wussten nicht, im Na­men was für eines Prinzips sie sich dem Terror widersetzen und Mord als Mittel zum Zweck ablehnen sollten.
Denn wenn man an nichts glaubt, wenn nichts Sinn hat und es keine Werte mehr gibt, dann ist alles erlaubt und nichts hat Bedeutung. Dann gibt es weder Gut noch Böse, und Hitler hatte weder Unrecht noch Recht. Man kann Millionen Unschuldiger ins Krematorium schicken oder sich für die Krankenpflege aufopfern. Man kann einem Mann mit der einen Hand die Ohren zerfetzen, um sie mit der andern zu streicheln. Man kann in der Gegenwart von Folteropfern die Wohnung aufräumen. Man kann die Toten ehren oder sie beseitigen wie Müll. Das eine ist so gut wie das andere. Und weil alles sinnlos zu sein schien, mussten wir schließen, dass der Erfolg allein zähle. Solche Skeptiker gibt es ja noch heute, die Ihnen erzählen, dass, wenn Hitler diesen Krieg zufällig gewonnen hätte, die Geschichte das, was er verkörperte, gutgeheißen und dem widerli­chen Postament, auf dem er dann thronte, ihre Reverenz erweisen würde. In der Tat hät­te die Geschichte, so wie sie sich heute darstellt, Hitler dann heiliggesprochen und Mord und Terror gerechtfertigt, so wie wir alle Mord und Terror rechtfertigen, wenn wir dem Gedanken nachge­ben, alles sei sinn­los.
Gewiss, einige von uns ließen sich davon überzeugen, dass man in Erman­ge­lung höherer Werte immer noch an einen Sinn der Geschichte glauben könne, jedenfalls handelten sie immer so, als sei das ihre Über­zeugung. Sie erklärten den Krieg für notwendig, weil er die Epo­che der Na­tionalismen beenden und ein Zeitalter herbeiführen würde, in dem die Imperien un­frei­willig oder freiwillig einer Weltgesellschaft und dem Paradies auf Erden Platz machen würden.
Aber damit kamen sie zu Schlussfolgerungen, zu denen sie auch ge­kom­men wären, wenn sie wie wir anderen alles für sinnlos gehalten hätten. Denn wenn die Ge­schich­te überhaupt Sinn hat, dann muss dieser alles umfassen, oder es wäre keiner. Diese Menschen dachten und han­del­ten, als gehorche die Geschichte irgendeiner transzendentalen Dialektik und als bewegten wir uns alle auf irgendein bestimmtes Ziel zu. Sie dachten und handelten nach dem schrecklichen Grund­satz He­gels, der Mensch sei für die Geschichte gemacht, nicht die Geschichte für den Menschen. Tatsa­che ist, dass der ganze politische und moralische Pragmatismus, der heute in der Welt herrscht, oft durchaus ungewollt jener deutschen Geschichtsphilosophie entstammt, nach der die ganze Mensch­heit mit rationalen Schritten auf einen harmonischen Endzustand zumarschiert. Der Nihilismus ist einer Art von absolutem Rationalismus gewichen, aber beide führen zu denselben Ergebnissen. Denn wenn es wahr ist, dass die Geschichte durch eine unfehlbare und fatale Logik bestimmt ist, wenn es wahr ist, wie diese deutsche Philosophie behauptet, dass auf die Anarchie der Feudalstaat, auf den Feu­dalstaat der Nationalstaat und auf die Nationen Imperien mit dem Endziel einer Welt­gesellschaft folgen, dann ist alles, was diesem vorbestimm­ten Endziel dient, gut, und die Er­folge der Geschichte sind unabweisbare Wahrheiten. Und da diese Erfolge nur in üblicher Weise ­durch Kriege und Intrigen, durch die Ermordung Einzelner und ganzer Völker ­erreicht werden können, so können Handlungen nicht nach gut oder schlecht beurteilt werden, sondern nur nach zweck­dienlich oder zwecklos.
Die Versuchung der Menschen meiner Generation war eine doppelte: entweder nichts für wahr zu halten oder die Wahrheit allein in der Unterwerfung unter eine historische Vorbe­stim­­mung zu sehen. Weil viele einer dieser beiden Versuchungen erlegen sind, konnte die Welt Usurpatoren in die Hände fallen und schließlich von Terror regiert werden. Denn wenn nichts wahr oder falsch ist, gut oder böse, wenn Effizienz der einzige Wert ist, dann ist die einzige Regel, an die man sich halten kann, die, der Effizienteste zu sein, und das heißt: der Mächtigste. Dann ist die Welt nicht mehr in Gerechte und Ungerechte eingeteilt, son­dern in Herren und Sklaven. Recht hat, wer die Macht hat. Die Hausmeisterin hat Recht, die Gefolterten ­Unrecht. Der deutsche Offizier, der die Folter anordnet, und derjenige, der sie ausführt – die zu Totengrä­bern gewordenen SS-Leute –, das sind die Vernünftigen dieser neuen Welt. Sehen Sie nur einmal um sich, ob es nicht noch immer so ist. Immer noch stecken wir mit dem Kopf in der Schlinge der Gewalt und werden erdrosselt. Im Innern jeder Nation wie in der ganzen Welt sind Miss­trau­en, Rachsucht, Habgier und Machtwille dabei, ein Reich der Finsternis und Verzweiflung zu errichten, wo jeder in den Grenzen des Jetzt zu leben gezwungen ist – das bloße Wort “Zukunft” macht ihm schon Angst –, abstrakten Mächten ausgeliefert, hilflos und durch die Hast des Daseins abgestumpft, ohne selbstverständliche Wahr­heiten, reflektierte Muße und einfache Freu­den.

III.

Wenn die Symptome der Krise wirklich Machtgier, Terror, Verdrängung des wirklichen Men­schen durch den politischen und historischen Menschen, Herrschaft von Abstraktion und Fatum, Einsamkeit ohne Zukunft sind und wir diese Krise überwinden wollen, so müssen wir bei den Symptomen ansetzen. Das ist die ungeheure Aufgabe, vor der unsere Generation steht, ohne sich dabei an irgendetwas halten zu können. Ja, gerade aus der Verneinung muss sie die Kraft für diese Aufgabe schöpfen. Man brauchte uns gar nicht erst zu sagen: du musst an Gott, an Plato oder an Marx glauben, denn das Problem war, dass wir zu keinerlei Glauben imstande waren. Unsere Frage war einzig und allein, ob wir uns auf eine Welt, in der man nur Op­fer oder Henker sein konnte, einlassen sollten oder nicht. Dabei versteht sich von selbst, dass wir weder Opfer noch Henker sein wollten, weil wir tief in unseren Herzen wussten, dass selbst diese Unterscheidung nur eine scheinbare war und wir im Grunde genommen alle Opfer waren und dass Mörder und Ermordete schließlich in derselben Niederlage vereint sein würden. Insofern ging es also gar nicht mehr da­rum, ob wir uns auf diese Situation und diese Welt einlassen sollten oder nicht, sondern darum, festzustellen, mit was für ­Gründen wir uns dagegen widersetzen könnten.
Darum haben wir unsere Gründe in unserer Revolte selbst gesucht, die uns unwillkürlich ­­dazu getrieben hatte, den Kampf gegen das Unrecht zu wählen. Uns wurde klar, dass wir nicht nur um unser selbst willen revoltiert hatten, sondern für etwas allen Menschen Gemein­sames.
Aber was bedeutete in einer Welt ohne Werte, die unsere Herzen verwüstet hatte, eigent­lich unsere Revolte? Sie hat Menschen aus uns gemacht, die nein sagten. Gleichzeitig aber waren wir auch Jasager. Wir sagten nein zu dieser Welt, zu ihrer Absurdität, zu den Abstraktio­nen, die uns bedrohten, zu der Zivilisation des Todes, die uns da angerichtet wurde. Indem wir nein sag­ten, erklärten wir, dass es so nicht mehr weitergehen konnte, dass es eine Grenze des Hinnehmba­ren gab. Damit bejahten wir alles, was diesseits jener Grenze lag, bejahten, dass da etwas in uns war, das die Zumutung zurückwies und das nicht für immer unterdrückt werden konnte. Natür­lich lag da ein Widerspruch, der uns zum Nachdenken bringen musste. Wir hatten geglaubt, dass die Welt eigentlich für nichts lebte und kämpfte, und da kamen wir und kämpften trotzdem gegen Deutschland. Die Franzosen, de­nen ich in der Widerstandsbewegung begegnet bin, bewiesen, indem sie in den Zügen, mit denen sie ihr Propagandamaterial transportierten, Montaigne lasen, dass man für die Skeptiker Verständnis und doch einen Ehrbegriff haben konnte. Irgendetwas bejahten wir schließlich alle, schon dadurch, dass wir lebten, hofften und kämpften.
War aber dieses Irgendetwas von allgemeiner Bedeutung, ging es über die persönliche Stellungnahme hinaus, konnte es anderen zum Maßstab ihres Verhaltens werden? Die Antwort ist ganz einfach. Die Menschen, von denen ich spreche, waren bereit, ihre Revolte mit dem Leben zu bezahlen. Ihr Tod würde bewei­sen, dass sie sich für eine Wahrheit geopfert hatten, die ihre eigene Existenz, ihr Einzel­schick­sal überstieg. Was sie in ihrer Revolte gegen ein feind­se­liges Schicksal ver­tei­digten, das war ein universeller Wert. Wo Menschen in der Anwesenheit der Haus­mei­ste­rin gefoltert wurden, wo Menschenohren mit Methode zerfetzt wurden, wo Müt­­ter gezwungen wurden, ihre Kinder zum Tode zu verurteilen, wo die Gerechten verscharrt wurden wie ver­reck­te Tiere, da haben sie in ihrer Revolte gezeigt, dass etwas in ihnen verneint wurde, das nicht ihnen allein gehörte, sondern allen Menschen, die zur Solidarität bereit sind.
Als das einmal feststand, wussten wir, wie wir zu handeln hatten, und wir machten die Erfahrung, wie der Mensch noch in der allergrößten moralischen Verarmung Werte wieder­fin­den kann, um sein Han­­deln danach auszurichten. Denn wenn die Wahrheit in der Solidarität zwischen den Men­schen lag, in der wechselseitigen Anerkennung ihrer Menschenwürde, dann war die Solidarität selbst der Wert, den es zu behaupten galt.
Und damit diese Solidarität Bestand hat, müssen die Menschen frei sein, denn Herr und Sklave können nicht miteinander reden. Ja, Sklaverei ist ein Schweigen, und zwar das schreck­lich­­ste überhaupt.
Und um diese Solidarität dauerhaft zu machen, müssen wir die Ungerechtigkeit beseiti­gen, denn zwischen dem Unterdrückten und dem, der aus der Unterdrückung Profit zieht, gibt es kein Gespräch ­– auch der Neid wohnt im Reich des Schweigens.
Um diese Solidarität zu einer bleibenden zu machen, müssen wir Gewalt und Lüge äch­ten, denn wer lügt, verschließt sich vor den anderen, und wer foltert und Gewalt antut, bewirkt ein Schweigen, das sich nie wieder brechen lässt. Ja, auf der Verneinung, die unsere Revolte war, müssen wir eine Moral der Freiheit und Aufrichtigkeit gründen.
Soviel wissen wir jetzt: dass wir dem Morden mit Solidarität entgegentreten müssen, dass wir gegen Ungerechtigkeit, Sklaverei und Gewaltherrschaft kämpfen müssen, denn das sind die drei Plagen, die die Menschen zum Schweigen bringen, Barrieren zwischen ihnen errichten, sie namenlos machen und sie hindern, den einen Wert zu erkennen, der sie in dieser verzweifelnden Welt retten kann: Brüderlichkeit im Kampf gegen das Fatum. Am Ende dieser langen Nacht, jetzt und in Zukunft, wissen wir, was wir in dieser von krisengeschüttelten Welt zu tun haben.
1) Wir müssen die Dinge bei ihrem Namen nennen und uns klarmachen, dass wir jedesmal Millionen von Menschen um­brin­gen, wenn wir bestimmten Gedanken freien Lauf lassen. Nicht der Mörder macht Denkfehler, sondern Denkfehler machen Mörder. So kann man Mörder sein, ohne jemand wirklich umgebracht zu haben. Und in diesem Sinne sind wir alle mehr oder minder Mörder. Deshalb ist als erstes ­­jede Art von Pragmatismus und Fatalismus in Tun und Denken unumwunden zu verwerfen.
2) Wir müssen die Welt von der Gewalt reinigen, von der sie befallen ist, einer Gewalt, die alles beherrscht und den Verstand außer Kraft setzt.
3) Die Politik muss wieder in ihre Schranken gewiesen werden. Ihr Ziel sollte nicht sein dürfen, die Welt mit einem Evangelium oder einem Katechismus zu versorgen, weder einem po­li­ti­schen noch einem moralischen. Das große Unglück unserer Zeit ist gerade, dass die Politik sich anmaßt, uns mit einer ganzen Weltanschauung und manchmal sogar mit Vorschriften für unser Liebesleben zu beglücken. Die Aufgabe der Politik ist es, unser Haus in Ordnung zu bringen, nicht, sich mit unseren persönlichen Problemen zu beschäftigen. Ich für mein Teil weiß nicht, ob es ein Absolutes gibt oder nicht, aber ich weiß genau, dass das die Politik nichts angeht. Das Ab­so­lute ist nichts, das alle angeht ­ es geht jeden einzelnen an, und jedem muss von der Gemein­schaft die innere Muße gelassen werden, sich nach dem Absoluten zu fragen. Wenn unser Leben auch anderen gehört und wir es notfalls für andere hingeben müssen – unser Tod gehört nur uns allein. Das ist meine Definition von Freiheit.
4) Ausgehend von einer Position der Verneinung müssen wir als viertes positive Werte su­chen und schaffen, die verneinendes Denken mit der Möglichkeit bejahender Tat versöhnen kön­nen. Hierin liegt eine Aufgabe für Philosophen, die ich nur andeuten kann.
5) Dazu muss die Einsicht in die Notwendigkeit eines Universalismus kommen, durch den alle Men­schen guten Willens sich solidarisch fühlen können. Um aus seiner Vereinzelung heraus­zu­kommen, muss man sprechen, aufrichtig, nie lügen, aus welchem Grund auch immer, und die ganze Wahrheit sagen, die man kennt. Aber die Wahrheit kann man nur in einer Welt sagen, in der sie definiert und auf Werte gegründet ist, die allen Menschen gemeinsam sind. Kein Hitler kann bestimmen, was wahr und was falsch ist. Kein Sterblicher darf, weder heute noch morgen, seine Wahrheit für allgemeingültig erklären, um sie anderen aufzuzwingen; solche Allgemeingül­tig­keit könnte allein das menschliche Gewissen beanspruchen, und sie zu begründen, müssen erst die Werte wiedergefunden werden. Die Freiheit, die wir schließlich gewinnen müssen, ist die Freiheit, nie zu lügen. Nur so können wir zur Erkenntnis unserer Gründe gelan­gen, warum wir leben und warum wir sterben.
An diesem Punkt sind wir immerhin angekommen, und vielleicht war er des langen Wegs nicht wert. Aber die Geschichte der Menschen ist ja die Geschichte ihrer Irrtümer und nicht die ihrer Wahrheiten. Die Wahrheit ist vermutlich wie das Glück: ganz einfach und ohne Ge­schich­te.
Heißt das nun, dass all unsere Probleme auf dem Weg zur Lösung sind? Kein­es­wegs. Die Welt ist weder besser noch vernünftiger geworden, und wir sind aus der Absurdität nicht heraus. Aber wir haben wenigstens einen Grund, unser Verhalten zu ändern, und ein solcher Grund hat uns bisher gefehlt. Gäbe es den Menschen nicht, könnte die Welt nur ver­zwei­feln; aber der Mensch mit seinen Leidenschaften, seinen Träumen, seinen Beziehungen zu anderen existiert. So haben einige von uns in Europa ein pessimistisches Weltbild mit einem zu­tiefst optimistischen Menschenbild zu versöhnen versucht. Was wir vorschlagen, ist nicht, aus der Geschichte zu fliehen, denn wir sind Teil der Geschichte.
Unser Vorschlag ist nur, innerhalb der Geschichte zu kämpfen, um den Teil des Men­schen vor ihr zu bewahren, der ihr nicht gehört. Wir möchten nur unseren Weg zu der Art von Zivilisation finden, in der der Mensch weder der Geschichte den Rücken kehrt noch länger ihr Sklave ist; in der der Dienst, den jeder den anderen schuldet, durch das Nachdenken, die Muße und die Teilhabe am Glück aufgewogen wird, die ihm selber zustehen.
So lebt heute in Frankreich und Europa eine Generation, die jeden, der auf die condi­tio humana ver­traut, für verrückt erklärt, und jeden, der an den Verhältnissen verzweifelt, für einen Feig­ling. Sie verwirft absolute Erklärungen und die Herrschaft politischer Ideologien, aber den lebendigen Men­schen in seinem Streben nach Freiheit bejaht sie. Zwar glaubt sie nicht an die Verwirklichung allgemeiner Glückseligkeit, wohl aber an die Möglichkeit, das Leid der Mensch­heit zu lindern. Gerade weil die Welt eigentlich unglücklich ist, glaubt diese Generation, dass wir ein bisschen Glück auf ihr schaffen müssen: Gerade weil die Welt ungerecht ist, müssen wir für Ge­rech­tigkeit wirken; gerade weil sie letzten Endes absurd ist, müssen wir ihr Sinn geben.

Dienstag, 7. April 2015

Hugo von Hofmannsthal - Ein Brief



Euer Brief
Ist uns süße Rhetorik, ein Zwiegespräch unter Toten, ein Trost
Durs Grünbein in seinem Antwort-Fax an Lord Chandos

Hugo von Hofmannsthal 1902


EIN BRIEF

Brief des Lord Chandos an Francis Bacon

Dies ist der Brief, den Philip Lord Chandos, jüngerer Sohn des Earl of Bath, an Francis Bacon, später Lord Verulam und Viscount St. Albans, schrieb, um sich bei diesem Freunde wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen.

Es ist gütig von Ihnen, mein hochverehrter Freund, mein zweijähriges Stillschweigen zu übersehen und so an mich zu schreiben. Es ist mehr als gütig, Ihrer Besorgnis um mich, Ihrer Befremdung über die geistige Starrnis, in der ich Ihnen zu versinken scheine, den Ausdruck der Leichtigkeit und des Scherzes zu geben, den nur große Menschen, die von der Gefährlichkeit des Lebens durchdrungen und dennoch nicht entmutigt sind, in ihrer Gewalt haben.
Sie schließen mit dem Aphorisma des Hippokrates: »Qui gravi morbo correpti dolores non sentiunt, iis mens aegrotat« * und meinen, ich bedürfe der Medizin nicht nur, um mein Übel zu bändigen, sondern noch mehr, um meinen Sinn für den Zustand meines Innern zu schärfen. Ich möchte Ihnen so antworten, wie Sie es um mich verdienen, möchte mich Ihnen ganz aufschließen, und weiß nicht, wie ich mich dazu nehmen soll. Kaum weiß ich, ob ich noch derselbe bin, an den Ihr kostbarer Brief sich wendet; bin denn ich's, der nun Sechsundzwanzigjährige, der mit neunzehn jenen »neuen Paris«, jenen »Traum der Daphne«, jenes »Epithalamium« hinschrieb, diese unter dem Prunk ihrer Worte hintaumelnden Schäferspiele, deren eine himmlische Königin und einige allzu nachsichtige Lords und Herren sich noch zu entsinnen gnädig genug sind?

Und bin ich's wiederum, der mit dreiundzwanzig unter den steinernen Lauben des großen Platzes von Venedig in sich jenes Gefüge lateinischer Perioden fand, dessen geistiger Grundriß und Aufbau ihn im Innern mehr entzückte als die aus dem Meer auftauchenden Bauten des Palladio und Sansovin? Und konnte ich, wenn ich anders derselbe bin, alle Spuren und Narben dieser Ausgeburt meines angespanntesten Denkens so völlig aus meinem unbegreiflichen Inneren verlieren, daß mich in Ihrem Brief, der vor mir liegt, der Titel jenes kleinen Traktates fremd und kalt anstarrt, ja daß ich ihn nicht als ein geläufiges Bild zusammengefaßter Worte sogleich auffassen, sondern nur Wort für Wort verstehen konnte, als träten mir diese lateinischen Wörter, so verbunden, zum ersten Mal vors Auge?
Allein ich bin es ja doch, und es ist Rhetorik in diesen Fragen, Rhetorik, die gut ist für Frauen oder für das Haus der Gemeinen, deren von unsrer Zeit so überschätzte Machtmittel aber nicht hinreichen, ins Innere der Dinge zu dringen.

Mein Innres aber muß ich Ihnen darlegen, eine Sonderbarkeit, eine Unart, wenn Sie wollen eine Krankheit meines Geistes, wenn Sie begreifen sollen, daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt, als von denen, die hinter mir sind und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere.

Ich weiß nicht, ob ich mehr die Eindringlichkeit Ihres Wohlwollens oder die unglaubliche Schärfe Ihres Gedächtnisses bewundern soll, wenn Sie mir die verschiedenen kleinen Pläne wieder hervorrufen, mit denen ich mich in den gemeinsamen Tagen schöner Begeisterung trug. Wirklich, ich wollte die ersten Regierungsjahre unseres verstorbenen glorreichen Souveräns, des achten Heinrich, darstellen!
Die hinterlassenen Aufzeichnungen meines Großvaters, des Herzogs von Exeter, über seine Negoziationen mit Frankreich und Portugal gaben mir eine Art von Grundlage. Und aus dem Sallust floß in jenen glücklichen belebten Tagen wie durch nie verstopfte Röhren die Erkenntnis der Form in mich herüber, jener tiefen wahren inneren Form, die jenseits des Geheges der rhetorischen Kunststücke erst geahnt werden kann, die, von welcher man nicht mehr sagen kann, daß sie das Stoffliche anordne, denn sie durchdringt es, sie hebt es auf und schafft Dichtung und Wahrheit zugleich, ein Widerspiel ewiger Kräfte, ein Ding, herrlich wie Musik und Algebra. Dies war mein Lieblingsplan.
Was ist der Mensch, daß er Pläne macht!

Ich spielte auch mit anderen Plänen. Ihr gütiger Brief läßt auch diese heraufschweben. Jedweder vollgesogen mit einem Tropfen meines Blutes, tanzen sie vor mir wie traurige Mücken an einer düsteren Mauer, auf der nicht mehr die grelle Sonne der glücklichen Tage liegt.
Ich wollte die Fabeln und mythischen Erzählungen, welche die Alten uns hinterlassen haben, und an denen die Maler und Bildhauer ein endloses und gedankenloses Gefallen finden, aufschließen als die Hieroglyphen einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit, deren Anhauch ich manchmal, wie hinter einem Schleier zu spüren meinte.
Ich entsinne mich dieses Planes. Es lag ihm ich weiß nicht welche sinnliche und geistige Lust zugrunde: wie der gehetzte Hirsch ins Wasser, sehnte ich mich hinein in diese nackten glänzenden Leiber, in diese Sirenen und Dryaden, diesen Narcissus und Proteus, Perseus und Actäon: verschwinden wollte ich in ihnen, und aus ihnen heraus mit Zungen reden. Ich wollte. Ich wollte noch vielerlei. Ich gedachte eine Sammlung »Apophthegmata« anzulegen, wie deren eine Julius Caesar verfaßt hat: Sie erinnern die Erwähnung in einem Brief des Cicero.
Hier gedachte ich die merkwürdigsten Aussprüche nebeneinander zu setzen, welche mir im Verkehr mit den gelehrten Männern und den geistreichen Frauen unserer Zeit, oder mit besonderen Leuten aus dem Volk, oder mit gebildeten und ausgezeichneten Personen auf meinen Reisen zu sammeln gelungen wäre; damit wollte ich schöne Sentenzen und Reflexionen aus den Werken der Alten und der Italiener vereinigen und was mir sonst an geistigem Zierathen in Büchern, Handschriften oder Gesprächen entgegenträte; ferner die Anordnung besonders schöner Feste und Aufzüge, merkwürdige Verbrechen und Fälle von Raserei, die Beschreibung der größten und eigentümlichsten Bauwerke in den Niederlanden, in Frankreich und Italien und noch vieles andere. Das ganze Werk aber sollte den Titel 'Nosce te ipsum' * * führen.

Um mich kurz zu fassen: Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden, ebensowenig höfisches und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst, Einsamkeit und Gesellschaft; in allem fühlte ich Natur, in den Verirrungen des Wahnsinns ebensowohl wie in den äußersten Verfeinerungen eines spanischen Zeremoniells; in den Tölpelhaftigkeiten junger Bauern nicht minder als in den süßesten Allegorien; und in aller Natur fühlte ich mich selber; wenn ich auf meiner Jagdhütte die schäumende laue Milch in mich hineintrank, die ein struppiges Mensch einer schönen sanftäugigen Kuh aus dem strotzenden Euter in einen Holzeimer niedermolk, so war mir das nichts anderes, als wenn ich, in der dem Fenster eingebauten Bank meines studio sitzend, aus einem Folianten süße und schäumende Nahrung des Geistes in mich sog.
Das eine war wie das andere; keines gab dem andern weder an traumhafter überirdischer Natur, noch an leiblicher Gewalt nach, und so gings fort durch die ganze Breite des Lebens, rechter und linker Hand; überall war ich mitten drinnen, wurde nie ein Scheinhaftes gewahr: Oder es ahnte mir, alles wäre Gleichnis und jede Kreatur ein Schlüssel der anderen, und ich fühlte mich wohl den, der im Stande wäre, eine nach der andern bei der Krone zu packen und mit ihr so viele der andern aufzusperren, als sie aufsperren könnte. Soweit erklärt sich der Titel, den ich jenem enzyklopädischen Buch zu geben gedachte.

Es möchte dem, der solchen Gesinnungen zugänglich ist, als der wohlangelegte Plan einer göttlichen Vorsehung erscheinen, daß mein Geist aus einer so aufgeschwollenen Anmaßung in dieses Äußerste von Kleinmuth und Kraftlosigkeit zusammensinken mußte, welches nun die bleibende Verfassung meines Inneren ist. Aber dergleichen religiöse Auffassungen haben keine Kraft über mich; sie gehören zu den Spinnennetzen, durch welche meine Gedanken durchschießen, hinaus ins Leere, während so viele ihrer Gefährten dort hangen bleiben und zu einer Ruhe kommen. Mir haben sich die Geheimnisse des Glaubens zu einer erhabenen Allegorie verdichtet, die über den Feldern meines Lebens steht wie ein leuchtender Regenbogen, in einer stetigen Ferne, immer bereit, zurückzuweichen, wenn ich mir einfallen ließe, hinzueilen und mich in den Saum meines Mantels hüllen zu wollen.

Aber, mein verehrter Freund, auch die irdischen Begriffe entziehen sich mir in der gleichen Weise. Wie soll ich es versuchen, Ihnen diese seltsamen geistigen Qualen zu schildern, dies Emporschnellen der Fruchtzweige über meinen ausgereckten Händen, dies Zurückweichen des murmelnden Wassers vor meinen dürstenden Lippen?
Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.
 
Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urtheil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.
 
Es begegnete mir, daß ich meiner vierjährigen Tochter Catarina Pompilia eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hatte, verweisen und sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hinführen wollte, und dabei die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen, daß ich, den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ, die Tür hinter mir zuschlug und mich erst zu Pferde, auf der einsamen Hutweide einen guten Galopp nehmend, wieder einigermaßen herstellte.
 
Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urtheile, die leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, daß ich aufhören mußte, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen.
 
Mit einem unerklärlichen Zorn, den ich nur mit Mühe notdürftig verbarg, erfüllte es mich, dergleichen zu hören wie: diese Sache ist für den oder jenen gut oder schlecht ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern, seine Söhne sind Verschwender; ein anderer ist zu beneiden, weil seine Töchter haushälterisch sind; eine Familie kommt in die Höhe, eine andere ist am Hinabsinken. Dies alles erschien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und Handlungen.
 
Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.
 
Ich machte einen Versuch, mich aus diesem Zustand in die geistige Welt der Alten hinüberzuretten. Platon vermied ich, denn mir graute vor der Gefährlichkeit seines bildlichen Fluges. Am meisten gedachte ich mich an Seneca und Cicero zu halten. An dieser Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe hoffte ich zu gesunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen hinüber. Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben und sehen wie sie zueinander spielten; aber sie hatten es nur miteinander zu tun und das Tiefste, das persönliche meines Denkens blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen. Es überkam mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war zumuth wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre; ich flüchtete wieder ins Freie.
 
Seither führe ich ein Dasein, das Sie, fürchte ich, kaum begreifen können, so geistlos, ja gedankenlos fließt es dahin; ein Dasein, das sich freilich von dem meiner Nachbarn, meiner Verwandten und der meisten landbesitzenden Edelleute dieses Königreiches kaum unterscheidet, und das nicht ganz ohne freudige und belebende Augenblicke ist. Es wird mir nicht leicht, Ihnen anzudeuten, worin diese guten Augenblicke bestehen; die Worte lassen mich wiederum im Stich. Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes, und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Leben wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet.
 
Ich kann nicht erwarten, daß Sie mich ohne Beispiel verstehen, und ich muß Sie um Nachsicht für die Kläglichkeit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.
Ja, es kann auch die bestimmte Vorstellung eines abwesenden Gegenstandes sein, der die unbegreifliche Auserwählung zu Theil wird, mit jener sanft oder jäh steigenden Flut göttlichen Gefühles bis an den Rand gefüllt zu werden. So hatte ich unlängst den Auftrag gegeben, den Ratten in den Milchkellern eines meiner Meierhöfe ausgiebig Gift zu streuen. Ich ritt gegen Abend aus und dachte, wie Sie vermuten können, nicht weiter an diese Sache. Da, wie ich im tiefen aufgeworfenen Ackerboden Schritt reite, nichts Schlimmeres in meiner Nähe als eine aufgescheuchte Wachtelbrut und in der Ferne über den welligen Feldern die große sinkende Sonne, tut sich mir im Innern plötzlich dieser Keller auf, erfüllt mit dem Todeskampf dieses Volks von Ratten.
Alles war in mir: die mit dem süßlich scharfen Geruch des Giftes angefüllte kühl-dumpfe Kellerluft und das Gellen der Todesschreie, die sich an modrigen Mauern brachen; diese ineinander geknäulten Krämpfe der Ohnmacht, durcheinander hinjagenden Verzweiflungen; das wahnwitzige Suchen der Ausgänge; der kalte Blick der Wut, wenn zwei einander an der verstopften Ritze begegnen. Aber was versuche ich wiederum Worte, die ich verschworen habe!
 
Sie entsinnen sich, mein Freund, der wundervollen Schilderung von den Stunden, die der Zerstörung von Alba Longa vorhergehen, aus dem Livius? Wie sie die Straßen durchirren, die sie nicht mehr sehen sollen ... wie sie von den Steinen des Bodens Abschied nehmen ... Ich sage Ihnen, mein Freund, dieses trug ich in mir und das brennende Karthago zugleich; aber es war mehr, es war göttlicher, tierischer; und es war Gegenwart, die vollste erhabenste Gegenwart.
 
Da war eine Mutter, die ihre sterbenden Jungen um sich zucken hatte und nicht auf die Verendenden, nicht auf die unerbittlichen steinernen Mauern, sondern in die leere Luft, oder durch die Luft ins Unendliche hin Blicke schickte, und diese Blicke mit einem Knirschen begleitete! - wenn ein dienender Sklave voll ohnmächtigen Schauders in der Nähe der erstarrenden Niobe stand, der muß das durchgemacht haben, was ich durchmachte, als in mir die Seele dieses Tieres gegen das ungeheure Verhängnis die Zähne bleckte.
 
Vergeben Sie mir diese Schilderung, aber denken Sie nicht, daß es Mitleid war, was mich erfüllte. Das dürfen Sie ja nicht denken, sonst hätte ich mein Beispiel ungeschickt gewählt. Es war viel mehr und viel weniger als Mitleid: ein ungeheures Anteilnehmen, ein Hinüberfließen in jene Geschöpfe oder ein Fühlen, daß ein Fluidum des Lebens und Todes, des Traumes und Wachens für einen Augenblick in sie hinübergeflossen ist - von woher? Denn was hätte es mit Mitleid zu tun, was mit begreiflicher menschlicher Gedankenverknüpfung, wenn ich an einem anderen Abend unter einem Nußbaum eine halbvolle Gießkanne finde, die ein Gärtnerbursche dort vergessen hat, und wenn mich diese Gießkanne und das Wasser in ihr, das vom Schatten des Baumes finster ist, und ein Schwimmkäfer, der auf dem Spiegel dieses Wassers von einem dunklen Ufer zum andern rudert, wenn diese Zusammensetzung von Nichtigkeiten mich mit einer solchen Gegenwart des Unendlichen durchschauert, von den Wurzeln der Haare bis ins Mark der Fersen mich durchschauert, daß ich in Worte ausbrechen möchte, von denen ich weiß, fände ich sie, so würden sie jene Cherubim, an die ich nicht glaube, niederzwingen, und daß ich dann von jener Stelle schweigend mich wegkehre, und nun nach Wochen, wenn ich dieses Nußbaums ansichtig werde, mit scheuem seitlichen Blick daran vorübergehe, weil ich das Nachgefühl des Wundervollen, das dort um den Stamm weht, nicht verscheuchen will, nicht vertreiben die mehr als irdischen Schauer, die um das Buschwerk in jener Nähe immer noch nachwogen.
 
In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkrümmter Apfelbaum, ein sich über den Hügel schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr als die schönste hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist. Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag.
Es erscheint mir alles, was es gibt, alles, dessen ich mich entsinne, alles, was meine verworrensten Gedanken berühren, etwas zu sein. Auch die eigene Schwere, die sonstige Dumpfheit meines Hirnes erscheint mir als etwas; ich fühle ein entzückendes, schlechthin unendliches Widerspiel in mir und um mich, und es gibt unter den gegeneinander spielenden Materien keine, in die ich nicht hinüberzufließen vermöchte.
Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffern, die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken. Fällt aber diese sonderbare Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen; ich könnte dann ebensowenig in vernünftigen Worten darstellen, worin diese mich und die ganze Welt durchwebende Harmonie bestanden und wie sie sich mir fühlbar gemacht habe, als ich ein Genaueres über die inneren Bewegungen meiner Eingeweide oder die Stauungen meines Blutes anzugeben vermöchte.
 
Von diesen sonderbaren Zufällen abgesehen, von denen ich übrigens kaum weiß, ob ich sie dem Geist oder dem Körper zurechnen soll, lebe ich ein Leben von kaum glaublicher innerer Leere und habe Mühe, die Starre meines Innern vor meiner Frau und vor meinen Leuten die Gleichgültigkeit zu verbergen, welche mir die Angelegenheiten des Besitzes einflößen. Die gute und strenge Erziehung, welche ich meinem seligen Vater verdanke, und die frühzeitige Gewöhnung, keine Stunde des Tages unausgefüllt zu lassen, sind es, scheint mir, allein, welche meinem Leben nach außen hin einen genügenden Halt und den meinem Stande und meiner Person angemessenen Anschein bewahren.
Ich baue einen Flügel meines Hauses um und bringe es zustande, mich mit dem Architekten hie und da über die Fortschritte seiner Arbeit zu unterhalten; ich bewirtschafte meine Güter, und meine Pächter und Beamten werden mich wohl etwas wortkarger, aber nicht ungütiger als früher finden. Keiner von ihnen, der mit abgezogener Mütze vor seiner Haustür steht, wenn ich abends vorüberreite, wird eine Ahnung haben, daß mein Blick, den er respektvoll aufzufangen gewohnt ist, mit stiller Sehnsucht über die morschen Bretter hinstreicht, unter denen er nach Regenwürmern zum Angeln zu suchen pflegt, durchs enge vergitterte Fenster in die dumpfe Stube taucht, wo in der Ecke das niedrige Bett mit bunten Laken immer auf einen zu warten scheint, der sterben will, oder auf einen, der geboren werden soll; daß mein Auge lange an den häßlichen jungen Hunden hängt oder an der Katze, die geschmeidig zwischen Blumenscherben durchkriecht, und daß es unter allen den ärmlichen und plumpen Gegenständen einer bäurischen Lebensweise nach jenem einen sucht, dessen unscheinbare Form, dessen von niemand beachtetes Daliegen oder -lehnen, dessen stumme Wesenheit zur Quelle jenes rätselhaften, wortlosen, schrankenlosen Entzückens werden kann.
 
Denn mein unbenanntes seliges Gefühl wird eher aus einem fernen einsamen Hirtenfeuer mir hervorbrechen als aus dem Anblick des gestirnten Himmels; eher aus dem Zirpen einer letzten, dem Tode nahen Grille, wenn schon der Herbstwind winterliche Wolken über die öden Felder hintreibt, als aus dem majestätischen Dröhnen der Orgel. Und ich vergleiche mich manchmal in Gedanken mit jenem Crassus, dem Redner, von dem berichtet wird, daß er eine zahme Muräne, einen dumpfen, rotäugigen, stummen Fisch seines Zierteiches, so über alle Maßen lieb gewann, daß es zum Stadtgespräch wurde; und als ihm einmal im Senat Domitius vorwarf, er habe über den Tod dieses Fisches Tränen vergossen, und ihn dadurch als einen halben Narren hinstellen wollte, gab ihm Crassus zur Antwort: »So habe ich beim Tod meines Fisches getan, was Ihr weder bei Eurer ersten noch Eurer zweiten Frau Tod getan habt.«
Ich weiß nicht wie oft mir dieser Crassus mit seiner Muräne als ein Spiegelbild meiner Selbst, über den Abgrund der Jahrhunderte hergeworfen, in den Sinn kommt. Nicht aber wegen dieser Antwort, die er dem Domitius gab. Die Antwort brachte die Lacher auf seine Seite, so daß die Sache in einen Witz aufgelöst war. Mir aber geht die Sache nahe, die Sache, welche dieselbe geblieben wäre, auch wenn Domitius um seine Frauen blutige Tränen des aufrichtigsten Schmerzes geweint hätte. Dann stünde ihm noch immer Crassus gegenüber, mit seinen Tränen um die Muräne.
Und über diese Figur, deren Lächerlichkeit und Verächtlichkeit mitten in einem die erhabensten Dinge beratenden, weltbeherrschenden Senat so ganz ins Auge springt, über diese Figur zwingt mich ein unnennbares Etwas, in einer Weise zu denken, die mir vollkommen töricht erscheint, im Augenblick, wo ich versuche, sie in Worten auszudrücken.
 
Das Bild dieses Crassus ist zuweilen nachts in meinem Hirn, wie ein eingeschlagener Nagel, um den herum alles schwärt, pulst und kocht. Es ist mir dann, als geriete ich selber in Gärung, würfe Blasen auf, wallte und funkelte. Und das Ganze ist eine Art fieberisches Denken, aber Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte. Es sind gleichfalls Wirbel, aber solche, die nicht wie die Worte der Sprache ins Bodenlose zu führen scheinen, sondern irgendwie in mich selber, und in den tiefsten Schoß des Friedens.
 
Ich habe Sie, mein verehrter Freund, mit dieser ausgebreiteten Schilderung eines unerklärlichen Zustandes, der gewöhnlich in mir verschlossen bleibt, über Gebühr belästigt.
Sie waren so gütig, Ihre Unzufriedenheit darüber zu äußern, daß kein von mir verfaßtes Buch mehr zu Ihnen kommt, »Sie für das Entbehren meines Umgangs zu entschädigen«. Ich fühlte in diesem Augenblick mit einer Bestimmtheit, die nicht ganz ohne ein schmerzliches Beigefühl war, daß ich auch im kommenden und im folgenden und in allen Jahren dieses meines Lebens kein englisches und kein lateinisches Buch schreiben werde: und dies aus dem einen Grund, dessen mir peinliche Seltsamkeit mit ungeblendetem Blick dem vor Ihnen harmonisch ausgebreiteten Reiche der geistigen und leiblichen Erscheinungen an seiner Stelle einzuordnen ich Ihrer unendlichen geistigen Überlegenheit überlasse: nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische, noch die italienische oder spanische ist, sondern eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zuweilen zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.
 
Ich wollte, es wäre mir gegeben, in die letzten Worte dieses voraussichtlich letzten Briefes, den ich an Francis Bacon schreibe, alle die Liebe und Dankbarkeit, alle die ungemessene Bewunderung zusammenzupressen, die ich für den größten Wohltäter meines Geistes, für den ersten Engländer meiner Zeit im Herzen hege und darin hegen werde, bis der Tod es bersten macht.


A.D. 1603, diesen 22ten August.

* Qui gravi morbo correpti dolores non sentiunt, iis mens aegrotat.
Diejenigen, die (= qui) von einer schweren Krankheit erfasst die Schmerzen nicht fühlen/spüren,
denen ist der Geist krank ~ die haben einen Kranken Geist

* * Nosce te ipsum.
Erkenne dich selbst.
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/ein-brief-und-ein-fax-1119564.html 

Heiner Müller
Ajax zum Beispiel


...
Ich Dinosaurier nicht von Spielberg sitze
Nachdenkend über die Möglichkeit
Eine Tragödie zu schreiben Heilige Einfalt
Im Hotel in Berlin unwirklicher Hauptstadt
Mein Blick aus dem Fenster fällt
Auf den Mercedesstern
Der sich im Nachthimmel dreht melancholisch
Über dem Zahngold von Auschwitz und andere Filialen
Der Deutschen Bank auf dem Europacenter
Europa Der Stier ist geschlachtet das Fleisch
Fault auf der Zunge der Fortschritt läßt keine Kuh aus

... 

oder

ALLEIN MIT DIESEN LEIBERN
Staaten Utopien
Gras wächst
Auf den Gleisen
Die Wörter verfaulen
Auf dem Papier
Die Augen der Frauen
Werden kälter
Abschied von morgen
STATUS QUO



http://www.berliner-zeitung.de/archiv/30-autoren-schreiben--faxen--mailen-an-den-jungen-lord-chandos--sein-pferd--an-hugo-von-hofmannsthal-oder-an-jemand-ganz-anderen-sprachkrise-ist-bloed,10810590,10083976.html 

Freitag, 7. November 2014

Der Erwachsene, der Künstler und der Zirkus - e.e. cummings


Der Erwachsene, der Künstler und der Zirkus

So, unlieber Leser, (da du und ich das, was wir uns schämen sollten
--nachdem wir ein paar kleinere zirkuswunder erleben durften--unsere "leben" zu nennen, schätzen)laßt uns niemals dumm genug sein, die völlig oberflächliche unterscheidung, die gemeinhin zwischen einer zirkusrevue und der "kunst" oder den "künsten" gemacht wird, ernst zu nehmen. laßt uns nicht vergessen, dass jedes "kunstwerk" an und für sich lebendig ist und dass, wie auch immer die "künste" sich untereinander unterscheiden mögen, es ihre gemeinsame aufgabe ist das großartige lebendigsein auszudrücken, das "schönheit" genannt wird. und deshalb ist unsere zirkusrevue kunst--weil es genauso kindisch ist, zu behaupten, dass das benannte schauspiel keine authentische manifestation der "schönheit" ist, wie es idiotisch ist den zirkus zu verdammen, weil er kindisch ist.



The Adult, the Artist and the Circus

So, ungentle reader, (as you and I value what we should ashamed--after witnessing a few minor circus-marvels--to call our "lives,") let us never be fooled into taking seriously that perfectly superficial distinction which is vulgarly drawn between the circus-show and "art" or "the arts." Let us not forget that every authentic "work of art" is in and of itself alive and that, however "the arts" may differ among themselves, their common function is the expression of that supreme alive-ness which is known as "beauty." This being so, our three ring circus is art--for to contend that the spectacle in question is not an authentic manifestation of "beauty" is as childish, as to dismiss the circus on the ground that it is "childish," is idiotic.
 
e.e. cummings
The Adult, the Artist and the Circus.
Vanity Fair 25 (October 1925): 57 & 98.

Montag, 4. August 2014

Herta Müller - Ganz kurze Autobiographie

 

Debatte um Ehrenbürgerwürde für Herta Müller entbrannt

Der CDU-Politiker Michael Braun setzt sich dafür ein, dass die Nobelpreisträgerin Herta Müller die Ehrenbürgerwürde Berlins verliehen bekommt – doch der Senat hat sich offenbar dagegen entschieden.

Berliner Morgenpost vom 4.8.2014
© Berliner Morgenpost 2014 - Alle Rechte vorbehalten


Herta Müller
1953 bin ich in Nitzkydorf geboren, das Jahr, in dem Stalin körperlich starb – geistig lebte er noch viele Jahre. Das Dorf liegt im rumänischen Banat, zwei Autostunden zu Belgrad oder Budapest. Eine Bauernbevölkerung, weiße, rosa, hellblaue Giebel – oder Triangelhäuser in symmetrisch laufenden Straßen. Mein Vater haßte Feldarbeit und wurde, als er 1945 aus der SS nach Hause kam, LKW-Fahrer und Alkoholiker. Auf Feldwegen geht das zusammen. Meine Mutter war und blieb Bäuerin auf den Mais- und Sonnenblumenfeldern. Mais ist für mich die sozialistische Pflanze schlechthin: er hat Fahnen, wächst in Kolonnen, raubt den Blick, und seine Blätter schneiden bei der Arbeit in die Hände. Im Maisfeld wird man an einem einzigen Tag vom Kind zum Greis. So erkläre ich mir, daß meine Mutter schon mit Ende zwanzig für mich eine alte Frau war.
Sturheit in der Schufterei, Ethnozentrismus und keinerlei Reue für die Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus – es sind die drei Grundeigenschaften dieser deutschen Minderheit, aus der ich komme. Ich wurde fürs Weiterführen dieses Lebensmusters erzogen: Waschen, Putzen, Kühemelken, Strümpfe stopfen. Nebenbei fiel der Satz: „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, wäre hier Deutschland.“ Aber um welchen Preis?
Bücher gab es keine im Haus, nur Gebetbücher und von meinem im Krieg gefallenen Nazionkel Die deutsche Lebensschule.
Von Frühjahr bis Spätherbst mußte ich Kühe hüten im Flußtal. Das Tal war zu groß. Das Wort „Einsamkeit“ gibt es im banater Dialekt nicht, also war ich das Adjektiv „allein“, und das spricht sich im Dialekt „alleenig“ aus – das klingt wie „wenig“. Aus diesem Tal weiß ich, daß Pflanzen die Einsamkeit verkleinern, weil sie stehen. Und daß Tiere sie vergrößern, weil sie gehen. Und daß Wolken am Himmel das Gespür zu groß machen und den Verstand zu klein.




Herta Müller 1972 Abiturphoto
Mit 15 ging ich aufs Gymnasium nach Temeswar und mußte einsehen, daß diese deutsch-dörfliche Erziehung 30 km weiter, in der Stadt, nichts taugte. Daß ich dies Dorf nie mochte, wurde mir klar, dennoch hatte ich zwei Jahre großes Heimweh – das ist kein Widerspruch. Ich lernte schnell Rumänisch, wollte ein Stadtmensch sein. Ich begann Bücher zu lesen. Das wichtigste: Eugen Kogons Der SS-Staat. Ich las das Buch mit Angst, daß der Name meines Vaters in der nächsten Zeile steht, weil er mir nichts vom Krieg erzählte, die Rumäniendeutschen aber als KZ-Wächter in dem Buch vorkamen. Durch das Buch begriff ich aber auch, daß ich jetzt so alt bin wie mein Vater als SS-Soldat und das Land um mich herum eine andere Art Diktatur ist.
Nach dem Gymnasium studierte ich Germanistik und Rumänistik. Ich stieß auf Gleichaltrige, die viel lasen und selber schrieben. Sie wurden meine engsten Freunde und waren bereits in den Fängen des Geheimdienstes. Denn sie hatten die „Aktionsgruppe Banat“ gegründet und ein Programm formuliert, das die dienende Literatur jeder Couleur ablehnte: die Heimatliteratur, die Nazi- und Stalindienerei, den sozialistischen Realismus. Statt dessen verlangten sie den kritischen Blick und individuelle, moralische Verantwortung als Voraussetzungen fürs Schreiben. Das war ein Affront gegen die meisten Schriftsteller im Land und gegen das Regime. Es folgten Verhöre, Haussuchungen, Exmatrikulation von der Uni und Verhaftungen. Die Gruppe wurde zerschlagen. Da ich selber nicht schrieb, beäugte man mich schief, man tat mir noch nichts.
Nach dem Studium wurde ich Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik. Mein Vater starb, meine erste Ehe war dahin, ich begann, um zu begreifen, wer ich bin, die Niederungen zu schreiben. Und der Geheimdienst begann seine Besuche in der Fabrik: Drohungen, auch mit dem Tod. Nach einer Woche zeigte sich, man wollte mich weich machen, ich sollte eine IM-Erklärung schreiben, der Geheimdienstler diktierte. Ich weigerte mich und wurde entlassen und hatte ab dem Tag nur wenige Tage ohne Schikanen. Ohne Arbeit gehörte ich zu den „parasitären Elementen“ und dafür gab’s Zwangsarbeit oder Gefängnis. Man drohte mit beidem, ließ mich aber frei herumlaufen.
Vier Jahre lag Niederungen bei einem Bukarester Verlag, 1982 erschien das Buch von der Zensur verstümmelt. Zwei Jahre später erschien es im West-Berliner Rotbuch Verlag, es war mir gelungen, das Manuskript in den Westen schmuggeln zu lassen. Die Literaturpreise in Deutschland veränderten mein Leben. Ich durfte vier Mal zu Preisverleihungen in den Westen. Um nicht Aushängeschild zu sein, konnte ich die Reisen nur annehmen, wenn ich im Ausland sagte, was zu Hause passiert. Daran hielt ich mich. Ich kehrte vier Mal nach Rumänien zurück, für meine Freunde war das wichtig. Mein Wegbleiben hätte man gegen sie verwenden können.
1985 war an ein Leben in Rumänien nicht mehr zu denken, das Regime schien ewig zu halten, ich aber war mit den Nerven am Ende. Ich verwechselte das Lachen mit dem Weinen, das Schweigen mit dem Reden. Ich schrie laut in den Straßen herum, galt als verrückt, war aber noch haarbreit normal. Ich beantragte die Ausreise, die man mir bei Verhören öfter angeboten hatte, um mich los zu werden. Ich hatte jedesmal abgelehnt, meinend: „Es müßte nur Ceauçescu gehen, dann könnten alle anderen bleiben.“ Jetzt wollte ich. Ich verweigerte die für Rumäniendeutsche übliche „Familienzusammenführung“ und bestand auf der Ausreise aus politischen Gründen. Nach anderthalb Jahren ließ man mich gehen, meine Mutter wurde mitgepackt.
1987 kam ich in Nürnberg an, 29. Februar hatten mir die Rumänen in die Papiere geschrieben. In dem Jahr hatte der Februar aber nur 28 Tage. Die Rechnung des rumänischen Geheimdienstes ging auf, die Deutschen machten mir deswegen Schwierigkeiten. Aber auch, weil ich auf politische Verfolgung bestand und keine Aussiedlerin sein wollte.



© REUTERS 

Der erste Blick aus dem Fenster im Nürnberger Übergangsheim fiel auf Hitlers Parteitagsgelände. Ich dachte: aus der Familie der Täter ins Land der Befehlsgeber. Mit dem Bundesnachrichtendienst mußte ich drei Tage über mein Leben reden, meine Mutter und die anderen angekommenen „gewöhnlichen“ Deutschen zwei Minuten. Ich sollte mich entscheiden, ob ich eine Deutsche bin oder politisch verfolgt. Nach dem Übergangsheim zog ich nach Berlin, wo ich heute lebe. Meine Mutter bekam den deutschen Paß nach drei Monaten, ich nach anderthalb Jahren, es seien „eindringliche Recherchen“ nötig, sagte man mir.
Es ist, als ob man sich als Uhr mitbringen würde aus einem anderen Land. Ihre Zeiger habe ich schnell auf hiesige Zeit gestellt, mich im Alltag schnell angepaßt. In der U-Bahn, im Supermarkt will ich eine hiesige Deutsche sein, habe ich doch den deutschen Paß. Aber wenn ich schreibe, dann pfeife ich darauf, dann zählen nicht die Zeiger – es tickt die Unruh aus der Uhr.
Ich hab gesehen, wie Menschen zerbrechen in so vielen Arten von Unglück. Zwei meiner liebsten Freunde hat der Geheimdienst umgebracht. Ihr Verbrechen: Sie haben Gedichte geschrieben, sehr schöne sogar. Ich hab viel Glück gehabt, sonst wäre ich heute nicht hier. Daß ich hier aufgenommen wurde, bedeutet mir viel, darum muß ich diese Freunde gerade jetzt erwähnen. Vielleicht hat das Glück mich verwechselt, weil ich ja selber meist nur wußte, was ich nicht sein will und fast nie wußte, was aus mit werden könnte. Schneiderin oder Friseuse, das wünschte ich mir sehr. Geklappt hat es damals nicht und ist heute wohl zu spät.

Erschienen im Jahrbuch 1997 herausgegeben von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Freitag, 27. Dezember 2013

2013 - Das Jahr 55 meiner Zeitrechnung


Rückblick.

Arbeitsstationen: Fiesco - Ingolstadt, spannend, überraschend tagespolitisch und unordentlich; irritiert aufgenommen. Die Bibel - Augsburg, höchst amüsante Begegnung mit dem achtzehnjährigen Berthold Brecht, den professionelle Theaterbeschauer lieber als geborenen Epiker sehen wollen. Münchhausen - Detmold, gute Arbeit in gräßlicher Stadt, die gewöhnliche Grippe wird hier fast zum Arbeitsverhinderer. Es war dieses Jahr überhaupt viel zu lang viel zu kalt. Heilbronn - Cyrano, tolles Haus, gute Leute, Degenkämpfe, Männerprobleme, Worte, Reime, Verse, der Frühling beginnt. Dann viele Monate in intimstem Kontakt mit Shakespeares Königsdramen, Ersaufen, Begreifen, Verlieren, Mut gewinnen, Überforderung, Verstehen, Lust, Ehrgeiz. Könige - Bremen: Arbeit auf Augenhöhe, Partnerschaft im Denken. Warum werden Schauspieler nicht annähernd so gut wie andere hochqualifizierte Fachleute bezahlt? Die Maßnahme/Mauser - Rostock, Erinnerungen an das eigene erste Zusammentreffen mit der gnadenlosen, erleuchtenden, apokalyptischen Weltsicht von Dichtern, denen "die Parzen bei der Geburt die Augenlider weggeschnitten haben", auch wenn sie versucht haben, diese Augen fest zusammenzukneifen. Achterbahnfahrt, heiß & kalt & lau, viele Welten und ein Kopf. Ich bin eine professionelle multiple Persönlichkeit. 
Den anderen Teil des Lebens, den privaten, lasse ich hier weg. Die, die es betrifft, wissen wie ich fühle.

-------------
Wenn ich meine Lebensjahre verdoppele, erreiche ich eine Zahl über einhundert. Wahnsinn. Das werde ich nicht erleben, nicht bei meinem Zigarettenkonsum, nicht mit meiner Art zu leben. Einerseits weiss ich, wie lange Zeit ich schon lebe, andererseits erscheint mir die Vorstellung, so alt zu sein, merkwürdig unglaubwürdig, ganz besonders im Gespräch mit manchen Zwanzigjährigen.
Was ist das - mein Alter? Für mich, und dies gilt nur für mich - weniger Zeit Fehler zu begehen, weniger Zeit nochmal von vorn zu beginnen, weniger Zeit. 
Aber auch, und das ist zugegebenermaßen völlig unlogisch, weniger Ungeduld, weniger herablassender Zorn, weniger Bemühung ums Liebgehabtwerden. 
Aber auch weniger Milde, weniger Interesse an Halbherzigkeiten, weniger Selbstbetrug (hoffe ich).
Aber auch, gelegentlich, die gleiche Verwirrtheit, Absolutheit, Unbelehrbarkeit & Närrischkeit* wie früher schon. Gott sei Dank. 
In Nordamerika steht auf jedem Rückspiegel eines Automobils: Objekte im Spiegel sind näher als sie erscheinen. Stimmt.

* A Narreschkeit gedenkt sich. (Jüdisch-deutsches Sprichwort)
Eine Dummheit. – Als Einschaltung bei sehr ausführlicher Erzählung eines frühern Erlebnisses.


Sonntag, 22. Dezember 2013

Weihnachten und keiner lächelt


Nach einer ungewöhnlich langen Zeit ohne freie Tage, begann heute Abend mein Weihnachtsurlaub. Ich habe die letzten Tage damit zugebracht zwischen Rostock, Berlin, Heilbronn, Schwäbisch Hall, wegen vergessenem Koffer noch einmal Heilbronn, Nürnberg, Augsburg und wieder Berlin hin und her zu reisen, manchmal per Auto, öfter per Bahn und bestieg den vorerst letzten Zug von Augsburg nach Berlin mit einem breiten Grinsen im Gesicht, wissend, dass ich nun zehn Tage verantwortungslos, verblödet, vergnügt in meiner Heimatstadt zubringen würde. 
ABER niemand grinste zurück!
Die meisten meiner Mitreisenden waren, wie aus ihrem geschenkverpacktem Gepäckinhalt deutlich ablesbar war, auf dem Weg zu irgendwelchen Feiern zu Ehren der historisch nicht sicher verbürgten Geburt des Jesus Christus. Wie auch immer man darüber denken mag, irgendein sympathisches Kind ist sicherlich am 24.12. vor 2013 Jahren geboren worden. Aber mit welch religiösem oder atheistischen Impetus auch immer, sie alle fuhren zu einer Feier! Sie saßen aber in dem immerhin nur zehn Minuten verspäteten Zug mit den Gesichtern von vergrämten Dienstreisenden, ohne Lächeln, ohne Augenkontakt, ohne irgendein Anzeichen dafür, dass sie die nächsten Tage mit Menschen, die sie mögen und freudig einige Zeit verbringen werden. 
What the fuck!?
Ihr müßt Weihnachten nicht mögen. Mancher mag Kummer fühlen, den auch Festtage nicht dämpfen können. Aber ein Lächeln ist zu viel verlangt?
Und wenn es auch nur anderen, das wünscht, was man selbst nicht haben wird.

http://www.upworthy.com/watch-the-first-54-seconds-that-s-all-i-ask-you-ll-be-hooked-after-that-i-swear?g=3&c=reccon1

DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN
Ein Märchen von Hans Christian Andersen 

Es war ganz grausam kalt; es schneite und es begann dunkler Abend zu werden; es war auch der letzte Abend im Jahre, Silvesterabend. In dieser Kälte und in diesem Dunkel ging auf der Straße ein kleines, armes Mädchen mit bloßem Kopf und nackten Füßen. Ja, sie hatte ja freilich Pantoffeln angehabt, als sie von zu Hause wegging, aber was konnte das helfen! Es waren sehr große Pantoffeln, ihre Mutter hatte sie zuletzt benützt, so groß waren sie, und die verlor die Kleine, als sie über die Straße eilte, weil zwei Wagen so schrecklich schnell vorbeifuhren. Der eine Pantoffel war nicht zu finden, und mit dem andern lief ein Junge davon; er sagte, daß er ihn als Wiege benützen könne, wenn er selbst Kinder bekomme.
Da ging nun das kleine Mädchen auf den kleinen, nackten Füßen, die rot und blau vor Kälte waren; in einer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer, und mit einem Bund in der Hand ging sie dahin. Keiner hatte ihr während des ganzen Tages etwas abgekauft, keiner ihr einen kleinen Schilling gegeben; hungrig und verfroren ging sie dahin und sah so verschüchtert aus, das arme kleine Wurm! Die Schneeflocken fielen in ihre langen, blonden Haare, die sich so schön um den Nacken lockten; – aber an die Pracht dachte sie freilich nicht. Aus allen Fenstern leuchteten Lichte, und dann roch es da in der Straße so herrlich nach Gänsebraten; es war ja Neujahrsabend, – ja, daran dachte sie.
Hinten in einer Ecke zwischen zwei Häusern, das eine sprang ein wenig mehr in die Straße vor als das andere, da setzte sie sich hin und kauerte sich zusammen. Die kleinen Beine hatte sie hinaufgezogen unter sich, aber sie fror noch mehr und heimgehen durfte sie nicht, sie hatte ja keine Schwefelhölzer verkauft, keinen einzigen Schilling bekommen, ihr Vater würde sie schlagen. Und kalt war es auch daheim, sie hatten nur grade das Dach über sich, und da pfiff der Wind herein, obschon Stroh und Lumpen in die größten Spalten gestopft waren. Ihre kleinen Hände waren beinahe ganz tot vor Kälte. Ach, ein kleines Schwefelholz konnte gut tun! Hätte sie nur gewagt, eines aus dem Bund zu ziehen, es an der Wand anzustreichen und die Finger daran zu wärmen! Sie zog eines heraus. “Ritsch!” wie das sprühte, wie es brannte! Es war eine warme klare Flamme wie eine kleine Kerze, als sie die Hand darum hielt; es war ein wunderbares Licht! Dem kleinen Mädchen schien es, als säße sie vor einem großen Eisenofen mit blanken Messingkugeln und Messingtrommel; das Feuer brannte so herrlich, wärmte so gut; nein, was war das! – Die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen, – da erlosch die Flamme. Der Ofen verschwand, sie saß mit einem kleinen Stumpf eines abgebrannten Schwefelholzes in der Hand.
Ein neues wurde angesteckt, es brannte, es leuchtete, und wie der Schein auf die Mauer fiel, wurde sie durchsichtig wie ein Schleier; sie sah ganz bis in die Stube hinein, wo der Tisch mit einem schimmernden weißen Tuch gedeckt stand mit seinem Porzellan, und herrlich dampfte die gebratene Gans, die mit Pflaumen und Äpfeln gefüllt war; und was noch prächtiger war, die Gans sprang von der Schüssel, wackelte über den Boden mit Gabel und Messer im Rücken, ganz hin zu dem armen Mädchen kam sie; da erlosch das Schwefelholz, und es war nur die dicke, kalte Mauer zu sehen.
Sie zündete ein neues an. Da saß sie unter dem herrlichsten Weihnachtsbaum, der war noch größer und noch mehr geputzt als der, den sie am letzten Weihnachtsabend durch die Glastüre bei dem reichen Kaufmann gesehen hatte. Tausend Lichte brannten an den grünen Zweigen, und bunte Bilder wie die, die die Ladenfenster schmückten, sahen auf sie herab. Die Kleine streckte beide Hände hoch, – da erlosch das Schwefelholz. Die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und höher, sie sah, es waren nur die klaren Sterne, einer von ihnen fiel und bildete einen langen Feuerstreifen am Himmel.
“Nun stirbt da jemand!” sagte die Kleine, denn die alte Großmutter, die die Einzige war, die gut zu ihr gewesen, aber jetzt tot war, hatte gesagt: Wenn ein Stern fällt, steigt eine Seele empor zu Gott!
Sie strich wieder ein Schwefelholz an die Mauer, es leuchtete im Umkreis, und in dem Glanz stand die alte Großmutter, so hell, so leuchtend, so mild und gesegnet.
“Großmutter!” rief die Kleine, “oh, nimm mich mit! Ich weiß, du bist fort, wenn das Schwefelholz ausgeht, fort, wie der warme Ofen, der herrliche Gänsebraten und der große, prachtvolle Weihnachtsbaum!” – Und sie strich in Eile den ganzen Rest Schwefelhölzer an, die im Bund waren, sie wollte die Großmutter recht festhalten; und die Schwefelhölzer leuchteten mit einem solchen Glanz, daß es heller war als am lichten Tag. Großmutter war früher niemals so schön gewesen, so groß; sie hob das kleine Mädchen auf ihren Arm, und sie flogen in Glanz und Freude so hoch, so hoch! Und da war keine Kälte, kein Hunger, keine Angst – sie waren bei Gott!
Aber in der Ecke beim Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit einem Lächeln um den Mund – tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres. Der Neujahrsmorgen ging auf über der kleinen Leiche, die mit Schwefelhölzern dasaß, von denen ein Bund fast abgebrannt war. Sie hat sich wärmen wollen, sagte man; niemand wußte, was sie Schönes gesehen, in welchem Glanz sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war!




published by the famed Riverside Press in 1873. the identity of the translator A.A.B. and the illustrator S.G.P. remained a mystery.