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Sonntag, 13. November 2022

DONATELLO

Donatello, Donato di Niccolò di Betto Bardi ca. 1386–1466, einer der wagemutigsten Avantgardisten der Renaissance hat eine Ausstellung in der Gemäldegalerie am Matthäikirchplatz. Ein Gebäude, das innen sehr praktikabel für seinen Zweck ist, aber von außen, mit dem riesigen leeren, steinbelegten Vorplatz und den abrupt positionierten Treppen, richtig mächtig häßlich aussieht und für Menschen mit Gehschwierigkeiten auch schwer zu erreichen ist.

https://de.wikipedia.org/wiki/Marienbildnis

Aber drinnen. 

Donatello. Endlich einmal sieht das Jesukindlein aus wie ein Baby und nicht wie ein verkümmerter Erwachsener. ( Es ist wirklich erstaunlich auf wie vielen Marienbildnissen, das geliebte Wunderkind nahezu abstoßend aussieht.) Aber bei Donatello hat das Kleine die herrlichen Fettfalten kleiner Babies, in die ich immer am liebsten reinbeißen möchte, die Finger und Zehen sind wunderbar knubbelig und die rundlichen Gesichter drücken nur das aus, was Baby-Gesichter halt zeigen. Und ich sehe realistische Interaktionen zwischen Mutter und Kind, mal schmiegt sich das Kind an, mal will es offensichtlich etwas, was die Mama nicht will, mal nuckelt es am Daumen. Und sie reagiert in glaubhafter Art. Wer war wohl die Frau mit der herrlich geraden Nase, offensichtlich Donatellos Lieblingsmodell?


Zwei Figuren, Johannes, der Täufer als junger Mann und die zweite, der gleiche Mann, verhärmt und erschöpft nach seinem anstrengenden Arbeitsaufenthalt in der Wüste. 

Lukas 3.1: Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Steige eben! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll gerade werden, und was uneben ist, soll ebener Weg werden, und alles Fleisch wird das Heil Gottes sehen. Da sprach Johannes zu der Menge, die hinausging, um sich von ihm taufen zu lassen: Ihr Otterngezücht, wer hat euch gewiss gemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet? Seht zu, bringt rechtschaffene Früchte der Buße; und nehmt euch nicht vor zu sagen: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken. Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Und die Menge fragte ihn und sprach: Was sollen wir nun tun? Er antwortete aber und sprach zu ihnen: Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer Speise hat, tue ebenso. Es kamen aber auch Zöllner, um sich taufen zu lassen, und sprachen zu ihm: Meister, was sollen denn wir tun? Er sprach zu ihnen: Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist! Da fragten ihn auch Soldaten und sprachen: Was sollen denn wir tun? Und er sprach zu ihnen: Tut niemandem Gewalt noch Unrecht und lasst euch genügen an eurem Sold.

Ein radikaler Gerechter im Fellgewand mit absoluter Gewissheit des rechten Weges, Verkünder des Kommenden und Verurteiler des Gegenwärtigen, Schrecken und Hoffnung. Greta oder Trump? Gut, Trump würde nie zugeben, dass ein anderer, grösserer ihm folgen wird. Mannoman, Trump löst bei mir wirklich üble Gewaltphantasien aus. Was ich nicht mag, aber auch nicht verhindern kann. 

Warum habe ich das Gefühl, das die aktuelle Politik, sich immer öfter auf Muster der Zeit vor der Aufklärung beruft? 

Und Donatellos Reliefs mit ihrer geringen Tiefe, aber dem überwältigenden Eindruck von 3D, auf dem höchst individuell unterscheidbare Menschen, sich drängeln, lugen, sich prügeln, sich verdrücken, von einander Abstand halten, in schon irgendwie religiöse basierten Szenen, die aber auch Reliefdarstellungen heutiger, moderner Strassenphotographie sein könnten.

Und die Büsten von Honoratioren mit Falten und Tränensäcken.

Samstag, 9. Oktober 2021

HUMANS IM CHAMÄLEON

Elf Akrobaten aus Australien erzählen Geschichten über unseren Körper, mit Können, Eleganz, Zärtlichkeit und Muskeln. Ich habe eine Stunde und zehn Minuten lang nicht mein Sodawasser getrunken, nicht weggeguckt, nicht aufgehört zu staunen.

Zu was menschliche Körper in der Lage sind, wenn sie so phantastisch gut trainiert, so aufeinander konzentriert, so intelligent choreographiert sind. (Regie: Yaron Lifschitz)

Es beginnt mit zwanzig Minuten, in denen sich die Elf zu wilden Streichern mit wunderbarer Musikalität die Bühne erobern mit Salti aller Arten, Flick Flacks, Sprüngen übereinander, Gleitern untereinander durch, Hebungen, Würfen, Falltricks, präzise, überraschend, schnell und gedehnt und rasend. 

Ich habe dauernd die Schulter meiner Freundin gepackt, das mache ich immer, wenn mein Herz doppelt schlägt. Ich entschuldige mich hiermit bei ihr.

Dann folgen mit fließenden Übergängen thematische Soli, Pas de deux und Gruppentänze, eine Szene über die Verzweiflung, darüber, dass wir unseren Ellenbogen niemals mit unserer Zunge berühren werden können, musikalisch begleitet von "To dream the impossible dream", eine über die Wunder, die Arme vollbringen, wenn die Beine sich verweigern, eine ungewöhnlich erotische Liebeswerbung zu "Please, please, please" von James Brown, bei der die Begehrenden mal kopfüber tanzen, oder auf dem Gesicht des anderen stehend, oder zum Päckchen verstrickt in des Partners Armen hängend. Kleine, zarte Mädchen heben große Kerle, ein sehr großer Mann trägt sechs Menschen auf seinen Schultern, die Varianten der Verschlingungen menschlicher Wesen scheint endlos, Kamasutra, Escher, Palucca, La la la Human steps, Zirkus und Clownerie, was es gibt, wird genutzt.

Und wie sorgsam sie miteinander umgehen, während sie ihre Körper schinden und doch so wirken, als wären sie noch nicht am Limit, es wäre noch mehr möglich. Sie geben alles und bewahren sich einen Rest. 

In letzter Zeit hatte ich im Theater des öfteren das Gefühl, ich schulde dem Regisseur, den Darstellern meine Aufmerksamkeit und genüge ihren Anforderungen nicht wirklich, heute abend haben mir elf Artisten einen Genuss geschenkt.

https://chamaeleonberlin.com/de/shows/humans/#a_company_in_residence

Freitag, 30. Oktober 2020

Volker Pfüller - Ein guter Mann

 

IM NEUEN JAHR MUSST DU MIT ALLEM RECHNEN!

Ich war also gewarnt, aber lag trotzdem falsch. 

1978, Alexander Lang inszeniert "Miss Sara Sampson" von Gotthold Ephraim Lessing, das zentrale Trio: Gudrun Ritter, Katja Paryla und Christian Grashoff. Ich, zwanzigjährig, spiele meine erste wirkliche Rolle, die Tochter der Marwood, Arabella, sitze in Volkers Bühne, in dem von ihm entworfenen Kostüm und bin gänzlich ahnungslos, überwältigt in Liebe - zum Theater. 

1981, wieder Alex, wieder Volker, diesmal Büchners "Dantons Tod", im schönsten Kostüm meines Lebens, in einem roten Raum schwebe ich im weißen Empirekleid, ein totgeweihter Engel, weiß geschminkt umschattet von Rot, Ahnung der drohenden, kommenden Brände. Volker hat es mir so sehr leichter gemacht.

Volker, ein gutaussehender Riese von einem Kerl, stabil und warm, idealer Kontrapunkt zu Alexanders schlacksiger Intensität. Immer unangestrengt elegant gekleidet, was schon an sich eine Sensation war in unserer höchst unkleidsamen DDR. 

Er war unser Ruhepunkt.

"Ich habe Theater eigentlich gemacht, weil ich gerne Theater gemacht habe." V.P.

1986, Stella, immer weint eine von uns Frauen, Volker beruhigt, Alex verrät uns nicht, dass wir das Satyrspiel zu Medea sind, das Lachen des Premierenpublikums ist ein Schock. Aber unsere Kostüme, Kleider überlegt mit Gaze, den Schatten der Vergänglichkeit, unsere Gesichter ins Extrem geschminkt, tragen uns durch die Verwirrung.

1995, die Dreigroschenoper, Volker muß betonieren, Alex, irritiert von der Unterhaltsamkeit des Materials, kämpft dagegen an. 120 Vorstellungen machten Mühe.

Ich beginne, mich als Regisseur auszuprobieren. In den Kammerspielen des DT, mein erster Shakespeare, die Zähmung der Widerspenstigen: Volker entwirft die Kostüme. Was waren die bunt und wild und eigenartig. Inge Keller, als Matrone trug einen Hut mit Ente, den habe ich besonders geliebt. Die klassische Gassenbühne, ihre Zentralperspektive ins Extrem getrieben,  erdachte Phillip Stölzl, einer seiner Studenten.

Er hat Türen geöffnet für Begabungen, ihnen Möglichkeiten eröffnet, uneigensüchtig.

Zu Premieren verschenkte er seine Kostümentwürfe, zauberhafte Vorahnungen unserer Rollen.

Für ein Lina Werthmüller Musical in Bremen baute er mir einen italienischen Eissalon in hellblau, rosa und creme, die Schwangerschaft der zentralen Figur verbildlicht durch ihren wachsenden Bauch mittels einer im Sofa versteckten Gasflasche.

Mein Vater in seiner letzten Rolle am Theater 89, Ein Kind unserer Zeit von Horvath, Volkers Plakat trifft es auf den Punkt, ein Mann verstirbt ohne Widerwehr auf eine Bank im Schnee.

Die Kinder-Tier-Gedichte meines Vater illustriert von Volker - er wußte wie Kinder schauen, ohne sie zu verharmlosen.

Dann haben wir uns eine Weile nicht gesehen, wie das so passiert am Theater.

Jahre später in einer kleinen Galerie in der Chausseestrasse, ich tippe ihm auf die Schulter, er dreht sich zu mir um, sieht mich an und sagt: Ich freue mich, dich zu sehen. Ein Glücksmoment. Ich erwerbe einen wunderbaren Holzschnitt von Beckett, so filigran, dynamisch. Er begleitet mich, neben meinem Schreibtisch, täglich.

So tut es auch sein Mann in Rot und eben seine Neujahrskarten.

Wenn die die sterben, die nicht sterben sollten, ist es besonders schlimm. Und viele Arschlöcher leben so sehr lang. 

Ein Künstler und ein Gentleman, wie oft gibt es das? Zu selten.


IM NEUEN JAHR MUSST DU MIT ALLEM RECHNEN! 

Corona 2020 und dann ist auch noch Volker ist gestorben, kurz nach einer letzten Premiere mit Sascha Stillmark in Rudolstadt - er hatte ein gutes Leben, glaube ich.

Sonntag, 13. September 2020

Kulturwochenende in Berlin am Ende des Sommers

1
Joachim Meyerhoff liest aus seinem Buch "Hamster im hinteren Stromgebiet".

"ZEIT IST HIRN"

Wir sind sehr viele an diesem Spätsommernachmittag im Freilichtkino Friedrichshain bei einer Veranstaltung von Radio 1. Ganz ungewohnt, solche Menschenmassen. Maske tragen bis zum nummerierten Platz, der Abstand wird eingehalten, die Stimmung ist lässig. Es ist angenehm warm, aber während der anderthalbstündigen Lesung fallen Blätter auf mich. Noch ist Sommer. 

Meyerhoff hat mit knapp über 50 einen Schlaganfall erlitten. Schlagartig hat ihn etwas angefallen. Die Bühne ist sehr weit weg, ein winziger Mann sitzt an einem Tisch und liest seinen Text in ein Mikrophon. Er hält mein Interesse, ich kichere, lache sogar. Das könnte auch mir passieren, jetzt oder morgen. Schwingt da Angst in meinem Lachen? Er ist ein ok Schreiber, aber ein großartig genauer Erinnerer. 

Was seine Kinder, die er ganz offensichtlich sehr liebt, über seine Beschreibungen denken, würde mich interessieren. Jedenfalls bin ich irgendwie froh, dass mein Vater seine Eindrücke meiner Teenagerzeit nicht veröffentlicht hat.

2
RomCom nennen es die Amis, Romantische Komödie, Kiss Me Kosher von Shirel Peleg. Die Produktion entstand an 27 Drehtagen in vier Sprachen – hauptsächlich in Englisch sowie teilweise in Deutsch, Hebräisch und Arabisch - in und um Tel Aviv und Jerusalem.

Die Synchronisation ist die böseste Krux des Films. Eigentlich reden die Figuren in Englisch, Hebräisch und Deutsch und Arabisch miteinander, eigentlich haben sie heftige Akzente, verstehen sich nicht oder nur halb, die deutsche Synchronisation läßt nichts davon erahnen. Die Großmutter zum Beispiel, Deutsch geboren, mit vier Jahren von ihren Eltern versteckt, die im KZ umkamen, und von einer Deutschen gerettet, nach dem Krieg vermutlich nach Israel geflohen und sie raucht Kette - ihre deutsche Stimme spricht ohne Spuren von Jiddisch, ohne Gefühle für die Sprache mit der sie aufwuchs und die sie hassen lernte, ohne die Folgen, die Kettenrauchen auf die Stimmbänder hat. Als wenn man einen Film über den Turmbau zu Babylon in einer allen verständlichen Sprache drehen würde. Faul und unachtsam. Schade.

Dass der Film trotzdem halbwegs funktioniert ist ein Wunder. Moran Rosenblatt & Luise Wolfram spielen das zentrale Liebespaar. Luise Wolfram sieht aus wie die Wiederkunft aller herrlichen Renaissanceportraits, ihre Schönheit unirdisch, ihr Spiel ganz geerdet. Moran Rosenblatt verschenkt ihren Charme freigiebig. 

 

 

Schön, dass das Nicht-Problem der Geschichte die lesbische Liebe ist. Es gibt genug andere Konflikte, den Holocaust, den arabisch-israelischen Dauerkrieg, Palästina, unterschiedliche Erwartungen an eine Beziehung und ehemalige Liebhaberinnen. Ein Film, der der deutschen Falle fast entgeht, er wird fast nie bedeutungsschwanger, immer kurz vorher wird geschnitten oder ein Witz gemacht.

3
Galerie-Wochende in Berlins Mitte - Andreas Greiner - Olafur Eliasson - Andreas Gursky - Robert Capa 1945.

Bei Capa habe ich geheult. 1945, das erste Rosh-ha-Shana nach der Verwüstung in einer kleinen Berliner Synagoge, die noch steht, die Betenden sind amerikanische Soldaten und Überlebende. So viel Trauer in den Augen und Körpern. 

Greiner sollte man sich unbedingt ansehen. Hatte den Namen noch nicht gehört. Er photographiert Bäume, den Wald. Den sterbenden Wald. Ohne Sentimentalität. Seine Bilder sind so bearbeitet und verpixelt, dass sie wie 3D Ölgemälde aussehen. Eine künstliche Intelligenz hat aus 10 000 seiner Harz-Bilder ein Video erschaffen, der Soundtrack ist Mendelsohn-Bartoldys Chorwerk "Abschied vom Walde" in extremer Verlangsamung. Kiefern. Grüne Kiefern. Tote Kiefern. 

Eliiasson - ich habe schon bessere Arbeiten von ihm gesehen, aber immer wieder beeindruckt mich die Verbindung von Technik, Licht und körperlicher Erfahrung, die er ermöglicht.

Gursky - ein Bauhausgebäude in weiß und rot, vier Kanzler von hinten und eine Madonna mit Kind.

Dienstag, 2. April 2019

Über die Schönheit ein Essay von Susan Sonntag

Über die Schönheit  
Neun Thesen - statt einer Definition 
von Susan Sontag  


1. Als Papst Johannes Paul II. im April zu den sexuellen Übergriffen katholischer Priester in den USA endlich Stellung nahm, sagte er vor den versammelten amerikanischen Kardinälen: „Ein großes Kunstwerk kann man verunstalten, doch seine Schönheit bleibt bestehen; und jede intellektuell redliche Kritik muss die Wahrheit dieses Satzes anerkennen. “Ist der Vergleich, den der Papst hier zwischen der katholischen Kirche und einem großen – also auch schönen – Kunstwerk zieht, nicht völlig verfehlt? Vielleicht nicht. Denn so abwegig er zu sein scheint, er gestattet es dem Papst, aus den abscheulichenVerfehlungen etwas zu machen, über das wir hinwegsehen können, das wir – wie die Kratzer auf einer alten Stummfilmkopie oder das Craquelé auf einem alten Gemälde – automatisch ausblenden. Der Papst liebt hehre Gedanken. Und als Begriff ist Schönheit seit eh und je ein probates Mittel, um Werturteilen Nachdruck zu verleihen. Dauer indes gehört nicht gerade zu den augenfälligen Merkmalen der Schönheit. Oft empfindet, wer Schönes betrachtet, jene Trauer, die uns in Shakespeares Sonetten begegnet. Traditionelle Feste zur Feier der Schönheit, zum Beispiel das Kirschblütenfest in Japan, sind unverkennbar von Schwermut umweht. Die erregendste Schönheit ist zugleich die flüchtigste, und es bedurfte etlicher Basteleien und Begriffsverrenkungen, um aus der Schönheit etwas Unvergängliches zu machen. Dabei erwies sich die Idee der Schönheit stets als so faszinierend, so stark, dass es einer Verschwendung gleichgekommen wäre, den Begriff allein zum Lob äußerlicher, oberflächlicher Schönheit zu benutzen. Ziel war, Raum zu schaffen für verschiedene Arten vonSchönheit, die sich, ihrem Wert und ihrer Unverwüstlichkeit entsprechend, in eine Rangordnung bringen ließen. Dabei wurde den metaphorischenSpielarten wie „geistige Schönheit“, „spirituelleSchönheit“ der Vorrang gegenüber all jenem eingeräumt, was die Umgangssprache als schön preist –nämlich das, was sinnliche Freude macht.

Die weniger „erhabene“ Schönheit von Gesicht und Körper ist nach wie vor der Schauplatz, wo wir das Schöne am häufigsten suchen. Aber es ist schwer vorstellbar, dass sich der Papst auf die Schönheit in diesem Sinne beruft, wenn er angesichts der sexuellen Belästigung von Kindern durch Geistliche und deren Vertuschung nach entlastenden Formulierungen sucht. Als besser geeignet erscheint da die „höhere“ Schönheit der Kunst. Denn auch wenn die Kunst eine Sache der Oberfläche und der sinnlichen Empfänglichkeit zu sein scheint, hat man ihr dennoch die Ehrenbürgerschaft im Bereich der „inneren“ (im Gegensatz zur „äußeren“) Schönheit angetragen. Schönheit, so scheint es, ist unwandelbar – zumindest wenn sie als Kunst daherkommt, also feste Form angenommen hat. Denn die Schönheit als ewige Idee, wird am ehesten in der Kunst verkörpert. Schönheit (wenn man das Wort in diesem Sinne verwenden will) liegt in der Tiefe, nicht an der Oberfläche; manchmal ist sie verborgen und gerade nicht offensichtlich; sie ist tröstlich, nicht verstörend; sie ist unzerstörbar wie in der Kunst, und nicht kurzlebig wie in der Natur. Schönheit – in ihrer erhabenen Spielart – ist dauerhaft. 

2. Die beste Theorie der Schönheit ist ihre Geschichte. Über diese Geschichte nachzudenken heißt: zu untersuchen, wie bestimmte Gesellschaften mit der Schönheit und ihrem Begriff umgegangen sind. Manchmal werden Gesellschaften von ihren Vorderleuten regelrecht darauf eingeschworen, sich einer für verderblich erachteten Flut neuer Schönheitsideale entgegenzustellen. Sie haben kein Interesse daran, den Schutzwall zu schwächen, den ihnen ein auf Anpreisung und Tröstung zielender Begriff von Schönheit bietet. Es überrascht nicht, dass dem Papst und der auf Bewahrung und Selbsterhaltung bedachten Institution, für die er spricht, ein derart auf Verklärung bedachtes Schönheitsideal so willkommen ist wie die Idee des Guten. Umgekehrt war es unvermeidlich, dass gerade die Schönheit sofort in Misskredit geriet, als vor fast hundert Jahren die auf dem Gebiet der „schönen“ Künste einflussreichen Kreise ihre drastischen Erneuerungprojekte in Angriff nahmen. Schönheit musste den Machern und Verkündern dieses Neuen als konservativer Maßstab erscheinen; Gertrude Stein meinte, wer ein Kunstwerk „schön“ nenne, erkläre es für tot. Schön bedeutet seither „bloß schön“ – es gibt kein schaleres, spießigeres Kompliment. Anderswo – wie denn auch nicht? – blieb die Schönheit allerdings unangefochten. Als der notorische Schönheitsliebhaber Oscar Wilde in „Der Verfall des Lügens“ schrieb: „Kein halbwegs kultivierter Mensch spricht heute noch von der Schönheit eines Sonnenuntergangs. Sonnenuntergänge sind ganz aus der Mode“ – da verfinsterten sich die Sonnenuntergänge zwar kurzfristig, erholten sich jedoch rasch von dieser Attacke. Nicht so die „Schönen Künste“, als ihnen die Forderung nach Modernität entgegenschallte. Dass die Schönheit aus dem Katalog der Wertmaßstäbe für die Kunst verschwunden ist, bedeutet ja nicht, dass niemand mehr an die Schönheit glaubt. Es bedeutet bloß: Niemand glaubt mehr an so etwas wie Kunst.

3. Auch als Schönheit noch ein unumstrittener Maßstab für den Wert von Kunst war, definierte man sie am liebsten indirekt, auf Umwegen. So brachte Lessing mit seiner Gleichsetzung von Schönheit und Harmonie eine zweite allgemeine Idee dessen, was vorzüglich oder erstrebenswert sei, ins Spiel. Da eine strenge Definition von Schönheit offenbar nicht existierte, nahm man an, es müsse, zumindest was die Kunst angeht, ein bestimmtes Organ oder eine bestimmte Fähigkeit für die Wahrnehmung der Schönheit (das heißt, des Werts) geben, den „Geschmack“; und außerdem einen Kanon von Werken, die von Leuten mit „gutem“ Geschmack für wertvoll befunden wurden. Denn in der Kunst, so glaubte man, fiel Schönheit – anders als im Leben – nicht notwendigerweise jedem ins Auge. Mit dem Geschmack verband sich allerdings das Problem, dass er auf privaten, unmittelbaren, widerruflichen Haltungen zur Kunst gründete. Mochten noch so viele ein Urteil teilen – die Übereinstimmung blieb stets begrenzt. Um diesem Mangel abzuhelfen, entwickelte Kant die Vorstellung von einer besonderen Fertigkeit, der „Urteilskraft“, die auf klar umrissenen allgemeinen und stets gültigen Prinzipien beruhen sollte; der Geschmack und die Vorlieben, die vor dieser Urteilskraft Bestand hatten, sollten Gemeinbesitz allersein. Aber auch der Kantschen Urteilskraft gelang es nicht, den „Geschmack“ nachprüfbar abzusichern und ihn auf diese Weise gewissermaßen zu demokratisieren. Die Schwachstelle: Prinzipiengeleitete Urteile lassen sich auf bedeutende Kunstwerke nur schwer anwenden, da sie mit ihnen nur sehr schwach und indirekt verbunden sind – anders als der geschmeidigere empirische Geschmack. Dem allerdings fehlt eine zuverlässige Legitimation heute noch mehr als im ausgehenden 18. Jahrhundert. Wessen Geschmack soll maßgeblich sein? Wer hat das Sagen? Mit dem Aufkommen des Relativismus im Bereich der Kultur gerieten die alten Rangordnungen immer mehr unter Druck, und die Definitionen von Schönheit wurden immer inhaltsärmer. Für Paul Valéry bestand das Wesen der Schönheit schließlich darin, dass sie sich nicht definieren ließ; Schönheit sei geradezu das „Unsagbare“.Noch einmal: In diesem Versagen des Schönheitsbegriffs spiegelt sich der Ansehensverlust, den die Urteilskraft selbst als interesselose oder objektive, nicht irgendwelchen privaten Interessen oder Zwecken dienstbare Instanz erleidet. Es spiegelt sich darin auch, wie bestimmte bipolare Diskurse innerhalb der Kunst in Misskredit geraten. Wer nicht bereit ist, etwas hässlich zu nennen, der kann auch nichts als schön bezeichnen, einerseits. Andererseits entstehen heute immer mehr Tabus, die es verbieten, etwas als hässlich zu bezeichnen. Zu alledem wächst der Widerstand gegen die Vorstellung von „gutem Geschmack“, das heißt gegen die Dichotomie von gutem und schlechtem Geschmack – außer wenn es darum geht, die Niederlage des Snobismus und den Triumph dessen zu feiern, was er einst herablassend als schlechten Geschmack abgetan hat. Die Vorstellung von gutem Geschmack gilt heute sogar als noch rückständiger als die Idee der Schönheit. Die strenge, schwierige „Moderne“ in Kunst und Literatur wirkt altmodisch – wie eine Verschwörung von Snobs. Innovation bedeutet mittlerweile nur noch Lockerheit – die populäre Kunst gibt grünes Licht für alles und jedes. Im kulturellen Klima der letzten Jahre, das die konsumorientierte Kunst begünstigt, hat das Schöne nur die Wahl, als Selbstverständlichkeit oder als Anmaßung empfunden zu werden. So wird gerade da, wo wir absurderweise von Kulturkämpfen sprechen, die Schönheit regelmäßig zum Prügelknaben gemacht. 

4. Einst lagen die Stärke und der Reiz der Schönheit schlicht darin, dass sie manchen Dingen eignete und anderen nicht: Sie war ein Unterscheidungskriterium. Schönheit gehörte zur Familie jener Begriffe, die Rang begründen. Und fügte sich von daher gut in eine Gesellschaftsordnung, die sich für Standes- und Klassenunterschiede wie für hierarchische Verhältnisse nicht entschuldigen zu müssen glaubte – und die das Recht, andere auszuschließen, als selbstverständlich in Anspruch nahm. Was einst ein Vorzug gewesen war, wurde mit der Zeit zur Belastung. Früher schien der Begriff der Schönheit verletzlich, weil er zu allgemein, zu locker, zu durchlässig war; nun zeigte sich, dass er zu vieles ausschloss. Diskriminieren, die Fähigkeit, Unterschiede zu machen und zu erkennen, war einst ein positiv besetzter Begriff; er verwies auf kultivierte Urteilsfähigkeit, auf hohe Maßstäbe und hohe Ansprüche. Später verkehrte er sich dann ins Negative, bedeutete nun Vorurteil, Dünkel, Blindheit gegenüber allem, was mit dem Eigenen nicht identisch war. Der kräftigste und erfolgreichste Angriff gegen die Schönheit wurde im Bereich der Kunst geführt: Schönheit und das Interesse an ihr seien restriktiv oder, im Zeitjargon, elitär. Unsere Empfehlungen können daher viel mehr einschließen, wenn wir nicht mehr sagen, etwas sei „schön“, sondern: es sei „interessant“. Wenn Leute ein Kunstwerk „interessant“ nennen, bedeutet das natürlich nicht unbedingt, dass sie es auch mögen (und schon gar nicht, dass sie es schön finden). Es bedeutet meistens nur, dass sie glauben, sie sollten es mögen. Oder zumindest, dass sie es „irgendwie“ mögen, obwohl es nicht schön ist. Zuweilen allerdings erspart das Wort „interessant“ aber doch nur die banale Feststellung, etwas sei schön. Die Fotografie war die erste Kunstform, in der „das Interessante“ triumphierte – von Anfang an: Die fotografische Sehweise machte buchstäblich aus Allem und Jedem einen möglichen Gegenstand für die Kamera. Das Schöne war so viel thematischem Raum nicht gewachsen, und geriet schon deshalb als Maßstab aus der Mode. Über die Aufnahme eines Sonnenuntergangs, eines schönen Sonnenuntergangs, sagte nun jeder, der über einen gewissen Sinn für sprachliches Raffinement verfügte: „Ja, dieses Foto ist interessant.“ 

5. Also gut: Was ist eigentlich interessant? Vor allem das, was zuvor nicht als schön (oder gut) galt; hier kommt ein Tabu ins Spiel. Die Kranken sind interessant, wie Nietzsche bemerkt hat; die Bösen ebenfalls. Das heißt: die Bewunderung gilt nun dem Originellen, nicht dem Wahrhaftigen; sie gilt der Grobheit, der Frechheit, der Normüberschreitung, nicht dem Respekt. Als Wertmaßstab fördert „das Interessante“ die Vorliebe für den Zusammenprall, nicht für die Harmonie; sein Gegenteil ist „das Langweilige“. Der Liberalismus sei langweilig, schrieb Carl Schmitt 1932 in „Der Begriff desPolitischen“ (und trat im Jahr darauf der NSDAP bei). Einer Politik, die liberale Grundsätze befolgt, fehlt es an Dramatik, an Stimmung, an Konflikt, während eine starke, autokratische Politik – auch wo sie in den Kriegf ührt – rasend „interessant“ ist. Das Interessante als Wertmaßstab begegnet also den Konsequenzen von Handeln oder von Kunst mit Geringschätzung. Wahrheit kommt dabei als Gesichtspunkt nicht einmal in Betracht. Das Interessante ist ein verbraucherorientiertes, auf die Ausweitung seines Geltungsbereichs bedachtes Konzept: Je mehr Dinge interessant werden, desto größer ihr Markt. Das „Langweilige“ steht für eine Leere, die auf eben dies Gegenmittel verweist: die leere, wahllos repetierte Beteuerung des „Interessanten“ – eine besonders unschlüssige Art von Realitätswahrnehmung. 

6. Schönheit kann ein Ideal anschaulich machen, als etwas Vollkommenes. Sie kann aber auch auf Grund ihrer Identifikation mit Frauen (genauer gesagt: mit der Frau) die bekannte Ambivalenz auslösen, die auf die uralte Herabsetzung des Weiblichen zurückgeht. Vieles von dem, was die Schönheit in Misskredit bringt, lässt sich nur vor dem Hintergrund des Gegensatzes zwischen den Geschlechtern verstehen. Auch Misogynie mag zuweilen im Spiel sein, wenn es darum geht, Schönheit ins Metaphorische und damit über die Sphäre des „bloß“ Weiblichen, des Unernsten, des Trügerischen hinaus zu „heben“. Frauen werden ihrer Schönheit wegen zwar angebetet. Doch wegen der Sorgfalt, die sie auf die Herstellung oder Bewahrung dieser Schönheit verwenden, werden sie zugleich mit Herablassung gestraft. Schönheit ist „Theater“, es geht um Gesehen- und Bewundertwerden, und mit dem Wort Schönheit assoziiert man Schönheitsindustrie, Schönheitssalons, Schönheitsprodukte und das ganzeTheater weiblicher Oberflächlichkeit ebenso leicht wie die Schönheit der Kunst oder der Natur. Wie sonst sollte man die Assoziation der Schönheit – das heißt: der Frauen – mit der Dummheit erklären? Wer sich um die eigene Schönheit kümmert, läuft Gefahr, dass man ihm Narzissmus und Oberflächlichkeit vorwirft. Man denke an all die Synonyme für Schönheit, angefangen bei „niedlich“ und „hübsch“, die erst transponiert werden müssen, ehe sie sich auf Männer anwenden lassen. Auch wenn sich Wörter wie „stattlich“oder „gut aussehend“ nicht anders als das Wort „schön“ auf die äußere Erscheinung beziehen, wirken sie nüchterner, weniger überschwänglich. 

7. Im Allgemeinen hält man Schönheit für eine ganz und gar „ästhetische“ Kategorie, wodurch sie nach Meinung vieler auf Kollisionskurs mit dem Ethischen gerät. Doch selbst in ihrer unmoralischen Spielart kommt die Schönheit nie nackt daher; in die Zuschreibung von Schönheit mischen sich stets auch moralische Wertvorstellungen. Das Ästhetische und das Ethische waren ursprünglich keineswegs Gegensatzpole, wie Kierkegaard und Tolstoi behaupteten, sondern das Ästhetische selbst galt als quasi-moralisches Projekt. Seit Platon taucht immer wieder die Frage nach dem angemessenen Verhältnis des Guten zum Schönen auf, das sich aus dem Wesen der Schönheit selbst ergeben soll. Die übliche Art, Urteile über das Schöne als moralische Urteile zu etablieren, folgt dem alten Verfahren, das die Schönheit in ein binäres Konzept verwandelt, sie also in eine „innere“ und eine „äußere“, eine „höhere“ und eine„niedere“ Schönheit aufspaltet. Aus der Sicht Nietzsches oder Oscar Wildes mag das unangemessen sein, aber mir scheint es unvermeidlich. Und die Weisheit, die einem aus einer intensiven, lebenslangen Beschäftigung mit dem Ästhetischen zufließt, ist, so behaupte ich, durch keine andere Form von Ernsthaftigkeit zuersetzen. Die verschiedenen Definitionen von Schönheit kommen ja einer plausiblen Bestimmung von Tugend und erfüllter Humanität mindestens so nah wie alle Versuche, das Gute auf dem direkten Weg zu definieren.

8. Der Schönheitsbegriff gehört zur Geschichte der Idealisierung, die ihrerseits in die Geschichte des Trostes gehört. Aber Schönheit tröstet nicht immer. Die Schönheit von Gesicht und Gestalt quält, wühlt auf, unterjocht; sie ist herrisch – und weckt den Wunsch nach Beherrschung: Menschliche wie künstlich gemachte Schönheit lösen Besitzphantasien aus. Unser Modell vom interesselosen Wohlgefallen knüpft dagegen an die Schönheit der Natur – einer fern liegenden, allumfassenden, nicht zu besitzenden Natur. Im russischen Winter des Jahres 1942 schrieb ein deutscher Soldat in einem Brief: „Das schönste Weihnachten, das ich je erlebt habe, nur ausuneigennützigen Empfindungen bestehend, ohne kitschiges Drumherum. Ich war allein unter einem riesigen, mit Sternen übersäten Himmel, und ich kann mich erinnern, wie mir an der eisigen Wange eine Träne herunterlief, keine Schmerz- und keine Freudenträne, sondern eine Träne des Gefühls, ausgelöst durch dieses innige Erleben...“ Anders als die oft flüchtige Schönheit ist die Fähigkeit, sich von der Schönheit überwältigen zulassen, erstaunlich robust. Sie widersteht gröbsten Ablenkungen; der Krieg vermag sie so wenig auszulöschen wie die sichere Aussicht auf den eigenenTod. 

9. Die Schönheit der Kunst steht, Hegel zufolge, über der Naturschönheit, weil sie von Menschen gemacht und ein Werk des Geistes ist. Aber auch die Wahrnehmung von Naturschönheit geht auf die Traditionen von Bewusstsein und Wahrnehmung, auf Kultur und, mit Hegel zu reden, auf Geist zurück. Die Reaktionen auf die Schönheit in der Kunst und die auf Naturschönheit stehen in einer Wechselbeziehung. Die Kunst lehrt uns nicht nur, die Natur auch gezielt wahrzunehmen, (wie Wilde es im Hinblick auf Dichtung und Malerei formulierte – heute setzt vor allem die Fotografie die Maßstäbe der Naturschönheit). Sondern das Schöne erinnert uns auch an die Natur als solche, an das, was jenseits des Menschlichen und des Gemachten liegt; sie weckt und vertieft damit unser Bewusstsein von der Fülle der Wirklichkeit, die uns umgibt: der unbelebten ebenso wie der belebten. Ein erfreuliches Nebenprodukt dieser Einsicht, wenn es denn eine Einsicht ist: Schönheit gewinnt so ihre Festigkeit zurück, ihre Unausweichlichkeit als Urteilsmaßstab, dessen jeder Mensch bedarf. Nur so kann er begreifen, was ihn anzieht und mit Bewunderung erfüllt. Bloß konkurrierende Begriffe wirken dagegen lächerlich. Stellen Sie sich vor, jemand würde sagen: „Dieser Sonnenuntergang isti nteressant.“

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Mittwoch, 19. Dezember 2018

Flohmärkte und Plasteschmuck

Meine Mama hat Antikmärkte geliebt. Ihre Mutter hatte die Familie viele Jahre durch billige Einkäufe auf Flohmärkten, in Second Hand Shops und beim Roten Kreuz über Wasser gehalten und sie hat also eine Art Tradition fortgeführt, wie ein Echo. Und mich hat sie mitgeschleppt, morgens vor sieben mit Taschenlampe und sehr warm angezogen.

London, nass, neblig, kühl, wie in den alten Edgar Wallace Filmen, außer uns nur ein paar frühaufstehende jüdisch-orthodoxe Silberhändler, die Stände sind vollgepackt mit jedem nur vorstellbaren Tineff, aber auch mit Kostbarkeiten und in Kisten unter den Tischen, die noch nicht sortierte Ware, der Ausschuss, das Übersehene.

Ein orangener Ring, Plaste, oder, wie der westdeutsch Sozialisierte, sagen würde Plastik, oval, mit feinziselierten Rosen geschmückt, kostete sowas wie 2£. Viel später habe ich herausgefunden, das er aus Bakelit war.

Unter dem Namen Bakelit wurde der erste vollsynthetische, industriell produzierte Kunststoff hergestellt und vermarktet, der 1905 von dem belgischen Chemiker Leo Hendrik Baekeland entwickelt und nach ihm benannt wurde.
So beginnt Wiki den Artikel über Bakelit.

https://de.wikipedia.org/wiki/Bakelit

Vorher schon gab es ja Zelluloid, aber das hatte die schwierige Eigenschaft leicht entzündbar zu sein. Nun gab es den ersten industriellen Kunststoff, aus ihm wurden Kabelummantelungen, Radios, Küchengeräte, Griffe und eben auch Schmuck gemacht. Schmuck für Leute, die sich Gold und Silber nicht leisten konnten, doch schon in den Zwanzigern gab es Bakelitschmuck auch in Edelvarianten. Andere Plasik-Varianten wurden entwickelt und ab 1933 ging die gesamte Produktion in den Dienst des großen Krieges.

Die Älteren unter euch kennen sicher noch die wohlgestalten, dicklichen schwarzen Telephone mit Wählscheibe? 


 
Ich habe in den 70ern angefangen Bakelit zu sammeln, kein Schwein hat sich damals dafür interessiert und es war entsprechend billig. Armreifen, Ringe, Ohrgehänge, Ketten in vielen Farben, die mehrfarbigen heißen "End-of-day", weil am Ende des Tages alle Reste zusammengeschmissen wurden. Die Franzosen arbeiteten viel mit Silber, andere schliffen Punkte ein - Polka-Dots, in durchsichtiges Material wurden Blumen versenkt, wie unter Glas, feinste Ätzungen und Schliffe wurden eingesetzt, Strasssteine eingelassen, Lagen verschiedenfarbigen Bakelits verbunden. 
Irgendwann wurde Bakelit Sammelobjekt und Leute mit viel Geld kauften alles, was ihnen in die Hände fiel zu immer irrer steigenden Preisen. Da hab ich aufgehört, zu sammeln, der Spaß war vorbei.

Mal nur Ohrringe, mal klickernde Armreifen, durch meine Mama sind viele Broschen auf mich gekommen. Meine Schätze werden getragen. Und die, die ich nicht tragen kann, bringe ich unter die Leute, damit sichtbar bleibt, was für wunderschöne Dinge Menschen aus so einem profanen Werkstoff wie Plastik geschaffen haben..


Donnerstag, 12. Juli 2018

FLEISCH im Alten Museum

Ich liebe Fleisch. Rindersteak möglichst blutig. Die Kuh muß nur langsam durch einen warmen Raum laufen. 
Aber ich liebe auch Schabefleisch, Leberwurst, Speck, Leber, Bierschinken, Blutwurst, Schweinebraten, Lammnierchen, Rouladen, Salami, Schnitzel. Ein kläglicher Versuch mich zum Vegetarier umzuformen, endete wegen purer Fleischeslust nach nur zwei Wochen. Meine Schwäche, meine Schande. Ich versuche, um mein Gewissen zu beruhigen, nur ökologisch abgesegnetes Fleisch zu kaufen. Aber mein Körper verlangt nach dem Verzehr von Fleisch.
Mein Körper ist (zu Teilen) auch Fleisch, er isst es und ist es. 

Das Alte Museum, das eigentlich das Neue ist, hat einen Raum einer kleinen, etwas zufälligen und dennoch feinen Sammlung zum Thema Fleisch gewidmet.


 
Priaposstatuette mit hahnartigem Kopf
Tintinabulum / Kopie

Jeder hat seine Last zu tragen.

Büste eines toten Mannes
Johann Christoph Ludwig Lücke
1732

Opfer für Konfuzius im Frühjahr & Herbst
China 1929-34

Fröhlich vom Fleisch zu essen, das saftige Lendenstück
Und mit dem Roggenbrot, dem ausgebackenen, duftenden
Den Käse vom großen Laib und aus dem Krug
Das kalte Bier zu trinken, das wird
Niedrig gescholten, aber ich meine, in die Grube gelegt werden
Ohne einen Mundvoll guten Fleisches genossen zu haben
Ist unmenschlich, und das sage ich, der ich
Ein schlechter Esser bin.
b.b.

Montag, 18. Juni 2018

Bologna - Die Gelehrte, die Rote, die Fette

Bologna. Die Gelehrte, die Rote, die Fette wird sie genannt, wie würde man da Berlin nennen? Gelehrt wegen der berühmten und alten Universität, nach Parma & Salerno der ältesten europäischen überhaupt. 
Rot, vielleicht weil viele Jahre Kommunisten im Rathaus saßen oder doch wegen der vielen roten Hausfassaden. Rot, Rostrot, Gelb, Orange, verwaschen oder frisch, schattiert, bröckelnd, unter manchen Fenstern hat die durch Regen verlaufene Farbe weinende Rostflecken hinterlassen.



Die Fette, weil das Essen so reich und so gut ist. Ist es wirklich.
Die Frauen sind es übrigens nicht. Fett. Dafür besitzen viele Männer stattliche Bäuche, die sie durch enge Hemden stolz betonen. 
 
Verona hatte Süße, Ferrara Strenge, Bologna ist einfach eine große, lebendige Stadt in der eine Menge alter Gebäude steht. Es lebt sich hier sicher gut. 


 Unten schmal, oben breit, clevere Lösung für mehr Raum.

Andere Variante mit Holzunterbau.

Auffällig wie gut sich viele Frauen kleiden, nicht unbedingt teuer, aber schlicht, elegant, bequem, auch die älteren Damen, auch solche, die noch viel älter sind als ich. Wenig Leggins, wenig Sportkleidung, wenig albern bedruckte T-Shirts. Sie achten auf Farbzusammenstellung, auf ihren Körperbau, sie wirken unangestrengt modisch. Erholsam, aber es gibt natürlich sogar im Juni genug Touristen in Adiletten und zu kurzen Shorts, die das schöne Bild wieder in das gewohnte abkippen.

 Das Fenster und den Efeu gibt es wohl schon eine Weile.

 Apropos guter Geschmack, Mitra mit Kreuz und Bibel.

Kinderschuhe und Bischofsstab, Torten für jede Gelegenheit.

Ragù ala bolognese 

Spaghetti Bolognese gibt es hier nicht, das ragù ist mit Tagliatelle zu essen!
Es folgt das Originalrezept, wie es am 17. Oktober 1982 von der Acca­de­mia Italiana della Cucina bei der Han­dels­kam­mer von Bo­logna hinterlegt wurde. 
 
RAGÙ CLASSICO BOLOGNESE
 
Rindfleisch grob gehackt - 300 g
Pancetta stagionata (nicht geräuchert!) - 150 g
Karotte 50 g
Stangensellerie 50 g
Zwiebel 50 g
Geschälte Tomaten 300 g
1/2 Glas trockenen Weißwein
1/2 Glas Vollmilch
Ggf. ein Schuss Sahne
Etwas Gemüsebrühe
Olivenöl oder Butter
Salz, Pfeffer
 
Zubereitung Zwiebeln, Karotte, Sellerie und Frühstücksspeck fein hacken. In einer Kas­se­rolle mit 3 EL Öl oder 50 g Butter anschwitzen lassen. Anschließend das Hackfleisch hinzugeben. Bei ständigem Umrühren wenige Minuten bei hoher Temperatur anbraten, bis es brutzelt, dann den Wein hinzufügen, den man verdünsten lässt. Erst jetzt die Tomaten und die Gemüsebrühe hinzu­fügen. Die Temperatur auf eine kleinere Stufe herunterschalten. Das ragù zugedeckt ca. 3 Stunden köcheln lassen, gelegentlich umrühren. Erst gegen Ende die Milch hinzufügen, um die Säure der Tomaten abzuschwächen. Salzen, pfeffern.  

Zum Schluss, wenn der ragù fertig ist, kann man – entsprechend der Bologneser Gepflogenheit – die Sahne hinzufügen, allerdings nur, wenn man pasta secca verwendet. Bei den Tagliatelle ist Sahne nicht üblich.