Samstag, 14. Januar 2012

Theater hat auch eine Premiere

Der Premierentag. Vorher. Jetzt. 
Ich habe mir, als ich noch selber spielte, drei, vier Mal die Haare gewaschen. Mechanisiertes Selbstberuhigen durch Kopfstreicheln? Andere kaufen alberne Premierengeschenke, einige machen sauber, andere wieder tuen angestrengt so, als wäre nix. 
Limbo. Zwischenland.

Am Tag zuvor, am Ende der Generalprobe, wurde die Applausordnung geprobt. Ein gänzlich surrealer Vorgang, niemand klatscht, alle sind erschöpft und albern. Man organisiert etwas, das vielleicht, ohmeingott, ohmeingott, gar nicht gebraucht wird!

DIE ERSTE. Das erste Mal. Genauso, wie in den Proben und doch ganz anders. Ganz anders. Denn das, was bisher intim war, zwischen den Schauspielern und mir, wird veröffentlicht, den Wölfen zum Fraß vorgeworfen im schlimmen Fall, in Wirklichkeit aber seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt, die da ist, "geschaut" zu werden. 
Schauen, was mehr ist als bloßes Zugucken, bedeutet es doch auch wahrnehmen, intuitiv erfassen. Der Duden sagt: schauen: von mittelhochdeutsch schouwen, althochdeutsch scouwōn = sehen, betrachten, eigentlich = auf etwas achten, aufpassen; bemerken.

Deshalb sollten die Zuschauer Schauer heißen. Aber manchmal sind sie Aufpasser. Und manchmal Kunden. Das ist nicht schön.
Brecht hat ein merkwürdiges, schönes Wort für den Idealzustand des Zuschauers: splendid isolation. Großartig allein.

 Dieses Bild des Photographen Jack Bradley  zeigt den exakten Moment, als ein Junge, Harold Whittles, zum allerersten Mal hört. Der Doktor, hat ihm ein Hörgerät eingesetzt. Datum unbekannt.

Idealerweise ist der Saal voll, die Honoratioren der jeweiligen Stadt, irgendeine Zahl zwischen einhundert und einem Kritiker, Familie, Freunde, in einem Wort: Premierenpublikum strömt herein (Unsterbliches Zitat meiner Lieblingsdiva: "Sie strömen, und wenn's nur einer wäre.") und das Kind wird vorgestellt. Ist es wirklich so einmalig schön, wie es die Mutter- oder Vateraugen sehen? Wird es im entscheidenden Moment strahlen oder in die Windeln kacken? So wie meine Mutter vor vielen, vielen Jahren ihr neues, blondes, gebadetes Baby dem neugierigen Besuch vorstellen wollte, um ihnen den Anblick eines zwar zahnlos lächelnden, aber über und über mit Möhrenkacke bedeckten Kleinkindes zu bieten.

Die Spieler zittern, kotzen, schweigen, schwitzen oder oder oder. Und zumindest in Deutschland, spucken sie sich gegenseitig dreimal über die linke Schulter, dem Teufel mitten ins Auge. Bei meiner ersten kanadischen Premiere habe ich Schauspielstudenten wahnsinnig erschreckt, als ich ihnen, die überrascht wegzuckten, dreimal vor die Füße spuckte. Dort sagt man nämlich nur "Break a leg" und in Frankreich "merde". Man lernt nie aus.

Das dritte Klingeln. Der Einruf des Inspizienten. Im Saal, das Reden der Leute, wie Meeresrauschen. Stille. Es geht los.

"Dabei bin ich gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier totschlagen oder verheiraten zu lassen, und bitte den lieben Gott um einen einfältigen Buchhändler und ein groß Publikum mit so wenig Geschmack, als möglich."

Georg Büchner, Brief an Wilhelm Büchner, 2. 9. 1836



3 Kommentare:

  1. Katharina Palm
    Ich wünsche dir eine großartige Premiere, Erfolg und ganz viel Freude am Spiel deiner Schauspieler.

    Donald Berkenhoff
    Und während draußen das "Produkt" Gestalt annimmt, ist man ganz allein, im Zuschauerraum hasst man die Umsitzenden, die alles falsch verstehen, hinter der Bühne macht man die anderen verrückt. Kein leichter Tag, ich wünsche gutes Gelingen.

    Hermann Beil
    Herzliches Toi Toi Toi und Gruß aus Berlin!!!

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  2. Wie schade, dass wir nicht mehr, oder allerhöchst selten, so schauen können, wie das Kind auf dem Foto. Unser Kopf hat sein Koordinatensystem, durch Erfahrung und durch Bildung. Darin können wir zuordnen, einordnen, umordnen. Wir machen das schnell, damit wir nicht zu lange in Unordnung kommen und wackeln.

    Ein kleines Mädchen stellte sich mir etwas schüchtern in den Weg, als ich mit langem weiten Rock durch Schöneweide ging. Sie fragte: "Siehst du schön aus?" Es war wirklich eine Frage. Einfach eine Frage.

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  3. Liebe Johanna Schall, das war eine beeindruckende Premiere! Vielen Dank. Ich musste meine Gedanken dazu unbedingt "zu Blog" (http://tinyurl.com/6nxwcha) bringen. Herzliche Grüße, Karen Grol.

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