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Dienstag, 27. Februar 2024

René Pollesch ist tot.

René Pollesch ist tot. Das ist furchtbar traurig. Und ungerecht. Und gäbe es einen Gott, dann sollte er sich schämen.

In dieser Zeit, in der man sich seiner eigenen Meinung nicht mehr sicher sein kann, von den täglichen Nachrichten zu Tod, Gewalt, Dummheit und abgrundtiefer Verlogenheit geschüttelt wird, wie ein Halm im Wind, stirbt, plötzlich und viel zu früh einer von den Guten, einer der versucht hat, diese irrsinnige Welt zu verstehen und sich darüber mit uns auf einer Bühne zu verständigen.

Wir kannten uns nur flüchtig, durch vier oder fünf längere Gespräche, in denen er für mich völlig überraschend, ganz ungewöhnlich zutraulich, offen und herzlich war. Nett ist ein blödes Wort, aber liebenswürdig trifft es.

Ein Abend im Friedrichstadtpalast, er und sein Mitkämpfender Fabian Hinrichs  erzählen die Geschichte einer Kindheit, einer harten Kindheit, Hinrichs im güldenen Ganzkörperanzug agiert meist allein vor und mit 2000 Zuschauern. Meine Freundin hat am Ende glücklich geweint.

Er war Kettenraucher, wie ich. Liebgard Schwarz, die Rauch nicht mochte, hat ihn nach zwei rauchfreien Probentagen gebeten, wieder zu rauchen.

Vor zwei Tagen haben wir noch via Messenger gequatscht, ich habe ihm im Tausch für Theaterkarten Kaffee versprochen und er hat geantwortet: "hihihi es dauert ja noch ein Monat bist du kommst".

Ich bin traurig und zornig. Das macht doch überhaupt keinen Sinn, wie so Vieles in letzter Zeit.

Irgendwo hinter all dem lauert der "gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang".


 

Sonntag, 25. Februar 2024

Die Welt dreht durch und wir machen Komödie

Wir, acht, ganz unterschiedlich wundervolle Schauspieler, eine perfekte Regieassistentin und ich probieren gerade eine Komödie. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Welt um uns herum dreht durch und unsere Figuren tuen es auch. Aber wir wollen mit unserer Arbeit anderen für einen Abend gute Laune machen.

Michael und Ray Cooney, Vater und Sohn, schreiben Komödien. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie haben das Genre studiert, es "von der Pieke auf" erlernt. Timing, d.h. wie lang eine Pointe aufgebaut werden muss, wieviel Repetitionen nötig sind, welches Tempo es braucht, wo Pausen erlaubt sind, wo unbedingt nicht und die heilige Regel der Drei, weil bestimmte Dinge müssen genau dreimal wiederholt werden, um komisch zu werden. All das ist in eine Mischung aus Psychologiekenntnis und Musikempfinden und mathematischer Logik. Michael Frayn, auch so ein Komödienspezialist, hatte eine Stoppuhr auf seinem Schreibtisch, um das Timing, wie nennen wir das in Deutsch, die Terminierung, die Dauer, das Maß der Zeit, zu messen. Das Zeittiming.

Tür auf, Tür zu. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Schnelles Sprechen verlangt schnelles Denken und größte Aufmerksamkeit gegenüber den Mitspielern. Nur sehr große Ernsthaftigkeit erzeugt Komik, es geht den Figuren immer ums Ganze, ums Überleben.

Wenn wir lachen, mitlachen, nicht verhöhnen, wenn wir begreifen, mitfühlen und deshalb lachen, dann sind wir unserer Menschlichkeit am nächsten. Lachen ist dann Glück, Einverständnis und auch ein wunderbarer Luxus. 

In unserem Stück geht es nicht um die großen, schrecklichen Probleme unserer Welt, es erzählt nur von der Liebe und die unglaubliche Vitalität, den Erfindungsreichtum und der Kraft, die wir Menschen ihretwegen aufbringen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. 

Wir sollten mehr miteinander lachen. Anstatt übereinander zu urteilen. Hass ist Abgrenzung, Lachen verlangt Empathie, Verständnis. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Wenn Babies lachen, erklären sie ihr Einverständnis mit unserer Einfältigkeit und verführen uns, sie zu beschützen.

In der Bibel kommt das Lachen nur einmal vor, wenn die neunzigjährige Sarah erfährt, dass sie einen Sohn gebären wird. Nur einmal. Schade. Denn Lachen ist gefährlich, das worüber man lachen kann, kann man vielleicht auch verändern.

Juden und Palästinenser scheinen heute Erzfeinde zu sein. Semiten gegen Semiten. Und vielen, meist nicht semitischen, jungen Menschen geht das Wort vom jüdischen Kolonisatoren ganz locker über die Lippen. Sie begreifen vielleicht nicht, das "From the river to the sea", die Auslöschung einer der beiden Parteien einschließt. Netanjahu und seine Regierungskoalition sind nicht Israel, die Hamas ist nicht das palästinensische Volk. Beide werden, aus unterschiedlichsten Interessen,  weltweit auf ihre Opferrolle reduziert und ihre Regierenden mißbrauchen diese Einordnung für ihre Ziele. Die Hamas will die Juden weg haben und Netanjahus Regierung will unbedingt an der Macht bleiben.

https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/barrie-kosky-juedischer-regisseur-interview-ueber-antisemtismus-in-deutschland-li.2190193?fbclid=IwAR0sZZ2h8nVfY2YvgMXKgsGHBPs7zD6g11sVARYPaMI9UmtvMwQ9MqfKC6s 

 

 

 

Sonntag, 3. September 2023

Sind Schauspieler blöd? - Forever young - Les Amandiers / Die Mandelbäume

Der französische, originale Filmtitel bezieht sich auf den Namen des Lehrinstituts des Théâtre des Amandiers in Nanterre, das von 1982 an von Patrice Chéreau und Catherine Tasca geleitet wurde, Les Amandiers = die Mandelbäumchen, eine Klasse junger Menschen, die Schauspieler werden wollen.

Ich bin, wie schon so oft, verwirrt und genervt, was bringt uns dazu, unseren Berufsstand, wenn wir ihn auf die Bühne oder Leinwand bringen, entweder zu denunzieren oder plump versimpelt zu privatisieren? 

Schauspieler, die Schauspieler spielen, tragen weiße Schals, sind narzistisch, haben ununterbrochen Sex oder leiden unter Impotenz, jedes ihrer Gefühl ist grandios, abgrundtief, himmelhochbetrübt. Sie haben keine Zeit für langweiliges Stimmtraining, Verslehre oder gewöhnliche Proben, weil ihr persönliches Drama, sie 24/7 im Griff hat. Alk, Drogen sind ihre unvermißbare Requisiten. Auch komisch, sie haben nie Geld, aber immer Drogen. Schauspieler, die Schauspieler spielen, interessieren sich nicht für Theater oder Film, sie interessieren sich ausschließlich für sich.

Schämen wir uns unseres Berufes? Ist er uns peinlich? Oder passen wir uns den Vorurteilen gegenüber unserer Profession an und treiben sie ins Extrem? "Was macht ihr Vormittags?" Wie oft habe ich mir anhören müssen, dass am Theater ja mehr getrunken, mehr rumgemacht wird als anderswo. Schauspieler*innen sind in Außenbeschreibungen meist emotional instabil, übermäßig extrovertiert, nicht vertrauenswürdig. Als wären wir eine ganz andere Sorte Mensch, imaginäre regellose Gefühlsbündel.

Treiben wir immer noch den Hanswurst aus der Stadt? Die Faxenmacher kommen, holt die Wäsche von der Leine.

HAMLET, ein Prinz erklärt gestandenen Profis ihren Job und sie sind ihm dafür dankbar? Dezidierte Kritik am Handwerk durch einen Prinzen? Was weiß der denn, er ist Prinz von Beruf. Shakespeare filtert seine Unzufriedenheit durch den Mund des Prinzen und zwei gestandene Barden müssen nicken.

GRETCHEN 89, die Regisseure sind blöd und faul, die Schauspieler*innen faul und blöd. Eine deutsche Komödie. Aber viele von uns sind nur eines von beidem, manche sogar weder noch.

Beispiele gibt es endlos. Krimiserien in denen hysterische Regisseure ihre Hauptdarsteller morden, anstatt sie umzubesetzen, Filme über Spieltruppen, die vor lauter Intrigen und Affairen nie zum probieren kommen.

Gestern Abend DER BESTE FILM ALLER ZEITEN, tolle Schauspieler bemühen sich heftig, ihre Arbeitsweise zu beschreiben und gleichzeitig zu verachten. Antonio Banderas und Penelope Cruz, großartige, witzige und schlaue Spieler, vereinfachen ihren Arbeitsprozess bis zur Unkenntlichkeit.

Und heute Abend LES AMANDIERS, Valeria Bruni Tedeschi macht einen Film über eine berühmte Schauspielschule und zeigt nicht unser Handwerk, nicht die harte Arbeit, nicht den Spaß, nicht die Bemühung um die Wiederholbarkeit des Unwiederholbaren, sondern nur die übersteigerte Entäußerung unserer privaten emotionalen Verwirrungen. Als wäre unser Beruf nicht mehr als eine bezahlte Verlängerung unserer Privatsphäre. 

Kein Tischler baut einen Tisch mit nichts als Eifersucht, ohne die Eigenarten von Holz zu kennen. Kein Ingenieur entwirft eine Maschine nur mit Hilfe seiner Leibesleidenschaft, ohne Kenntnis der notwendigen technischen Fakten. Aber wir Schauspieler machen einfach irgendwie rum, lassen unseren Gefühlen freien Lauf und dann entsteht scheinbar gelegentlich Kunst.

Das ist Mumpitz.

Eine erfreuliche Ausnahme ist "Stage Beauty", ein Film über den Kampf einer Frau spielen zu dürfen, in Zeiten in denen es Frauen verwehrt war.




Montag, 29. Mai 2023

Margit Bendokat ist jetzt Ehrenmitglied des Deutschen Theaters

Margit. 

So viele Momente, so viele gute Erinnerungen. 

Als blutjunge Anfängerin habe ich das Glück gehabt, eine Garderobe mit ihr zu teilen, mit ihr zu reden, von ihr zu lernen.

Sommernachtstraum von Alexander Lang, Margit als Helena im blauen Einteiler, murmelt ihren Text, und zwischendurch erklärt sie mir im wunderschönsten Berlinerisch: "Mein Untertext? Alles Scheiße!" Auf der Bühne sprach sie perfektes Hochdeutsch, aber die Melodie ...

Danton, wieder Alex, Margit spielt Marion, "alle Männer wurden zu einem Mann." Eine zarte Hure unschuldigster Art, ihre Worte eine sehnsuchtsvolle Suche nach Verstehen, sich selbst und auch die vielen Männer. "Deine Lippen sind kalt geworden." So unendlich traurig. Dieser Mann macht eine Verständigung unmöglich.

Stella, wieder Alex, "Er ist wieder da!". Zur Premiere waren wir alle im Schockzustand, weil Alex in den hermetisch abgeriegelten Proben, vermieden hatte, uns mitzuteilen, dass wir das Satyrstück zur vorher laufenden Medea waren. Jeder Lacher eine Verwirrung. Margits Stella, voll tragischer Würde in ihrer unerwarteten Komik.

Dreigroschenoper, derselbe Regisseur, die Inszenierung ein nicht wirklich gelungener Versuch und keiner von uns konnte wirklich gut singen. Margit als Mrs. Peachum hinter der Bühne immer mit Macholdts Inhalator, einem gläsernen Foltergerät im Mund. Das Geräusch der blubbernden Inhalationsflüssigkeit habe ich noch im Ohr. Meine Stimmbänder spielten auch verrückt und so waren wir vereint in unserer Stimmpanik. Zur Premiere sang sie ein Lied genau einen Halbton zu tief, drei Strophen lang. Respekt.

Lohndrücker, diesmal ist Heiner Müller der Regisseur, Margit im Rang singt das Lied vom Konsum. Klar, kalt, unversöhnlich. Große Clowns sind unerbittlich.

Die Perser von Jürgen Gosch, Margit spricht einen ellenlangen Monolog gegen den Gipshorizont, jedes Wort haarscharf, unbeurteilt, aber ohne jedwede Sentimentalität. Klar. 

Klarheit ist vielleicht das richtige Wort ihren Umgang mit Sprache zu beschreiben. Ja, ihre Stimme war gelegentlich schrill, aber eben auch direkt, wahrhaftig, ohne bequeme Filter.

Margit geriet ins Theater ohne Vorwarnung und sie hat ihr Wissen über unsere Welt in dieses Theater hineingetragen.

Ich danke Dir.

Freitag, 12. Mai 2023

Selbständig oder vereinfachend - freischaffend

Selbst-ständig, unverständlicherweise selbständig geschrieben, Frei-schaffend, selbst eine bestimmte Tätigkeit dauernd ausüben, ständig - was für eine schöne, doch halbwahre Beschreibungen einer lebenslang unsicheren Beschäftigungslage. 

Das Internet erklärt: Das spätmittelhochdeutsche Wort „selbstēnde“ hieß „für sich bestehend“. Ab 1996 hieß es der neuen Rechtschreibung nach dann selbstständig – neben der Schreibweise selbständig. Bei Google liefert selbstständig 71,9 Mio. Ergebnisse, während selbständig nur rund 34,5 Mio. Treffer ergibt (Stand Dezember 2022). https://languagetool.org/insights/de/beitrag/selbststandig-selbstandig/

Selbstständig oder selbständig, oh, es gibt Pluspunkte: Einige der Unannehmlichkeiten des deutschen Stadttheatersystems bleiben mir erspart, ich kann mich aus den notwendigen und komplizierten, politischen und finanziellen Schwierigkeiten heraushalten. Außer, wenn sie die Gage beeinträchtigen. Doch ich kann "Nein" sagen, wenn es mir finanziell möglich ist. Und wenn ich "Ja" sage, bin ich nur zu Besuch, im besten Fall eine gern gesehene Tante, die gelegentlich vorbeischaut und die "Mühen der Ebenen" nicht mitbearbeiten muss.

Aber. Aber, nie ist irgendetwas sicher. Ist das Telefon kaputt? Oder bin es ich. Damit und davon lebe ich, leben die Selb(st)ständigen, Jahr über Jahr. Mal besser, mal schlechter. Das Alter spielt eine Rolle, die Nähe zu gerade virulenten Trends wohl auch. Aber da weiß ich zu wenig, spüre es nur. Und das Feuilleton, ein besser bezahltes Fass ohne Boden, manchesmal übersättigt und naseweiß. Aber wenigstens gibt es überhaupt noch gelegentlich Theaterkritiker, in manchen kleineren Städten schreibt Theaterkritiken, der, der auch die Geflügelzüchter und Sportvereine abdeckt. Ahnungslos, aber bemüht.

Unter Feuilleton versteht man den literarisch-unterhaltenden Teil einer Zeitung. In diesem Teil stehen Rezensionen, Kritiken, Buchbesprechungen usw. Ein literarischer Beitrag im Feuilletonteil der Zeitung wird ebenfalls Feuilleton genannt, sagt Wiki.
 
Letzten Endes, liebe ich es, freischaffend zu sein. Ich treffe seit Jahren drei, vier Mal pro Jahr auf eine Gruppe von Spielern, manchmal kenne ich einige schon, aber es ist eine gute Weile her, manchmal sind mir alle neu und unbekannt. Konzeptionsproben sind wie erste Schultage, alles ist möglich und darum spannend. Meistens treffe ich auf gute Leute, selbst im heftigst überarbeiteten Zustand noch neugierig, willig und interessiert. Ich liebe Proben. Abenteuerland. Proben sind meine Droge, wie gern ich auch faule Freizeit liebe, irgendwann muss ich wieder probieren, sonst werde ich unfroh und unleidlich.  

 
Aber, ich bin in vielem auf mich allein gestellt. Der Verwaltungsdirektor ist im verständlichen, aber künstlerisch nur mäßig interessierten Sparwahn, ich muss damit umgehen. Die Schauspieler haben seit Monaten viele Vorstellungen und noch mehr Proben, Kinder vermissen ihre Eltern, Schlaf ist rar. Die Vorteile einer kontinuierlichen Zusammenarbeit mit einem Ensemble sind ein eigenes Thema. Auch kenne ich die Städte, in denen ich arbeite meist nur oberflächlich, ganz anders als in Rostock, wo ich fünf Jahre gelebt, geliebt und gearbeitet habe.

Wir reden nicht gern über unsere Ängste und schlechte Zeiten, weil sie uns schwach und nicht genügend erfolgreich erscheinen lassen könnten, denn wir sind dem Markt ganz direkt ausgeliefert und müssen uns gut verkaufen. 

Der Begriff "Markt" bezeichnet allgemeinsprachlich einen Ort an dem Waren regelmäßig meist an einem zentralen Ort gehandelt werden.

Unser "zentraler Ort" ist das Stadttheater, dass von interner Stagnation, Corona und Energiekrise heftig geschüttelt wird und da werden wir halt mitgeschüttelt. Bis jetzt geht es mir gut, wer weiß, was die Zukunft bringt. Aber solang man mich läßt, ...

Sonntag, 7. Mai 2023

Sardanapal von und mit Fabian Hinrichs in der Volksbühne - Dennoch, auch wenn ich nicht geliebt werden kann, so laßt mich doch lieben!

Zuerst: Ich gestehe, dass ich nach 90 Minuten gegangen bin, aber das war wegen eines plötzlichen Hustenreizes und ich mag nicht stören. 

George Gordon Noel Byron - meine erste Begegnung mit ihm hatte ich in den Romanen von Georgette Heyer, Romanzen, die in der Zeit zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und dem Aufstieg und Untergang Napoleons spielten und die ich verschlang, während ich gleichzeitig mit ihnen Englisch lernte. Die Hauptfiguren waren englische Aristrokraten, der Stil witzig und genau, die historischen Details reich. Byron tauchte als Nebenfigur auf, als Ausrichtung des Kompasses für Dandys. Wie bindet er seine Krawatte, wie poliert sein Diener seine Stiefel, welche skandalöse Affaire hat er jetzt? Er war eitel, hungerte sich schön, liebte seine Schwester und Lady Lamb (Sie nannte ihn: Mad, bad and dangerous to know.) und viele andere, er liebte Geld, dass er nie zur Genüge hatte, er liebte einen schönen Griechen und den Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken, er starb an Unterkühlung. 

Jahre später las ich seine Gedichte und liebte sie. 

FINSTERNIS

Ich hatte einen Traum, der keiner war.
Die Sonne war erloschen, und die Sterne,
verdunkelt, schweiften weglos durch den Raum,
kein Mond, die Erde schwang im Äther, blind
und eisig sich verfinsternd; kam der Morgen
und ging und kam––er brachte keinen Tag,
die Menschen fühlten sich im Stich gelassen,
vergaßen ihre Leidenschaften; Herzen
gefroren, frönten dem Gebet um Licht:
am Feuer lebten sie, und alles brannte––
die Throne, die Paläste wie die Hütten
und die Behausungen der kleinen Leute
waren Scheiterhaufen, Städte warn zerstört,
ihr Heim in Flammen, sahn die Menschen zu
und schauten sich noch einmal ins Gesicht;
wie glücklich, wer im Auge der Vulkane
zuhause war, im Fackellicht der Berge:
angstvolle Hoffnung nur enthielt die Welt;
die Wälder brannten, schwanden Stund um Stund,
zerfielen, Stümpfe knisterten, erloschen,
ein letztes Knirschen, und––alles war schwarz.
Das Licht verzweifelte, die Menschen sahn
unirdisch aus, als schlügen Blitze ein;
die einen fielen nieder und verhüllten
die Augen um zu weinen; andre stützten
das Kinn in ihre Hände, heiter fast;
noch andre eilten eifrig hin und her,
nährten die Scheiterhaufen, schauten wie
vom Wahn gehetzt empor zum trüben Himmel,
dem Leichentuch einer vergangenen Welt;
dann wieder fluchten sie und warfen sich
zu Boden, zähneknirschend; wilde Vögel
erschraken, kreischten, flatterten zu Boden,
ließen die Flügel hängen; wilde Tiere
warn zahm und zitterten; und Vipern krochen
sich windend durch die Menge, zischten, doch
sie bissen nicht––und wurden totgeschlagen.
Der Krieg, für einen Nu nur nicht mehr da,
er fraß sich wieder satt: mit Blut erkauft
ein Mahl, ein jeder saß verstockt für sich,
stopfte sich voll im Finstern: nirgends Liebe;
die ganze Welt nur ein Gedanke––Tod,
unmittelbar, unrühmlich; Hunger stach,
lebte von Innereien–– Menschen starben,
ihr Fleisch, ihre Gebeine ohne Grab;
die Mageren von Mageren verschlungen,
selbst Hunde griffen ihre Herren an,
nur der nicht, der zu einem Leichnam hielt,
Vögel verbellte, Tiere, Menschen, bis
der Hunger sie verzehrte oder Tote
die schlaffen Rachen lockten; für sich selbst
suchte er nichts zu fressen, jaulte nur
vor Mitleid, leckte eine Hand, die ihm
das Streicheln schuldig blieb––er starb.
Die Masse war verhungert bis auf zwei
aus einer Riesenstadt, die überlebten;
sie waren Feinde und sie trafen sich,
wo ein Altar in Schutt und Asche lag,
allerlei Heiliges für unheiligen Zweck
gehäuft gewesen war, und kratzten nun
mit ihren zitternd skelettierten Händen
ein wenig Glut zusammen, bliesen ihr
ein bißchen Leben ein––sie flammte auf,
war ein Gespött; dann, als es heller wurde,
erhoben sie die Augen und gewahrten
einander––schauten, schrien auf und starben
an wechselseitiger Abscheulichkeit,
unwissend, wer es war, auf dessen Stirn
Unhold geschrieben stand. Nichtig die Welt,
die volkreiche, die kraftvolle: ein Klumpen,
kein Kraut, kein Baum, kein Mensch,  kein Leben, bloß
ein Klumpen Tod––Chaos aus hartem Lehm.
Still alles: Flüsse, Seen, Ozean
in tiefem Schweigen, reglos, unbesetzt
die Schiffe, sie verrotteten auf See,
die Masten fielen, splitterten: ihr Fallen
ein Schlafen überm Abgrund, keine Wogen––
die Wellen tot, Gezeiten ausgestorben,
des Mondes Herrschaft ausgehaucht; die Winde
verwittert, stand die Luft doch, und die Wolken
warn weg, warn nie gewesen, Finsternis
bedurfte ihrer nicht, sie war––das All.
Übertragen von Günter Plessow

Sardanapal, sein Gesang in Versen oder ein Theaterstück. Who knows? Ein König hasst alles, was er tun müsste, um König zu sein, er will nicht herrschen, nicht kämpfen, nicht regieren. Er will essen, trinken, singen, lieben. Sein Reich wird angegriffen, spät, zu spät willigt er ein, eine Gegenoffensive zu führen, die mißlingt, er verbrennt sich und seine angehäuften Kunstwerke, seine Geliebte springt ihm nach in die Flammen. So soll das assyrische Reich untergegangen sein. Historisch Quatsch, aber poetisch richtig.

Wie verzweifelt Hinrichs nach dem Glück sucht, dem Gefühl, dass in ihm entsteht, wenn er Musik hört, poetische Worte liest, wenn er tanzt, was er nicht kann, sein Körper verweigert sich, ein rührender Anblick. Wie verzweifelt er versucht, uns dieses Gefühl zu vermitteln. Lilith Stangenberg, Sir Henry, junge Tänzer und Musiker geben sich größte Mühe. Bis zur Minute 90 habe ich die Mühe verstanden und mitgetragen, aber nicht geliebt. Ich fühlte mich in meine Schulzeit versetzt. Verstehen und fühlen, anstatt fühlen und darum verstehen. Hinrichs wirkt sehr einsam an diesem Abend. Vielleicht weil er seinen Hauptdarsteller verloren hat. Vielleicht weil er wirklich verzweifelt ist.

Darkness

By Lord Byron
I had a dream, which was not all a dream.
The bright sun was extinguish'd, and the stars
Did wander darkling in the eternal space,
Rayless, and pathless, and the icy earth
Swung blind and blackening in the moonless air;
Morn came and went—and came, and brought no day,
And men forgot their passions in the dread
Of this their desolation; and all hearts
Were chill'd into a selfish prayer for light:
And they did live by watchfires—and the thrones,
The palaces of crowned kings—the huts,
The habitations of all things which dwell,
Were burnt for beacons; cities were consum'd,
And men were gather'd round their blazing homes
To look once more into each other's face;
Happy were those who dwelt within the eye
Of the volcanos, and their mountain-torch:
A fearful hope was all the world contain'd;
Forests were set on fire—but hour by hour
They fell and faded—and the crackling trunks
Extinguish'd with a crash—and all was black.
The brows of men by the despairing light
Wore an unearthly aspect, as by fits
The flashes fell upon them; some lay down
And hid their eyes and wept; and some did rest
Their chins upon their clenched hands, and smil'd;
And others hurried to and fro, and fed
Their funeral piles with fuel, and look'd up
With mad disquietude on the dull sky,
The pall of a past world; and then again
With curses cast them down upon the dust,
And gnash'd their teeth and howl'd: the wild birds shriek'd
And, terrified, did flutter on the ground,
And flap their useless wings; the wildest brutes
Came tame and tremulous; and vipers crawl'd
And twin'd themselves among the multitude,
Hissing, but stingless—they were slain for food.
And War, which for a moment was no more,
Did glut himself again: a meal was bought
With blood, and each sate sullenly apart
Gorging himself in gloom: no love was left;
All earth was but one thought—and that was death
Immediate and inglorious; and the pang
Of famine fed upon all entrails—men
Died, and their bones were tombless as their flesh;
The meagre by the meagre were devour'd,
Even dogs assail'd their masters, all save one,
And he was faithful to a corse, and kept
The birds and beasts and famish'd men at bay,
Till hunger clung them, or the dropping dead
Lur'd their lank jaws; himself sought out no food,
But with a piteous and perpetual moan,
And a quick desolate cry, licking the hand
Which answer'd not with a caress—he died.
The crowd was famish'd by degrees; but two
Of an enormous city did survive,
And they were enemies: they met beside
The dying embers of an altar-place
Where had been heap'd a mass of holy things
For an unholy usage; they rak'd up,
And shivering scrap'd with their cold skeleton hands
The feeble ashes, and their feeble breath
Blew for a little life, and made a flame
Which was a mockery; then they lifted up
Their eyes as it grew lighter, and beheld
Each other's aspects—saw, and shriek'd, and died—
Even of their mutual hideousness they died,
Unknowing who he was upon whose brow
Famine had written Fiend. The world was void,
The populous and the powerful was a lump,
Seasonless, herbless, treeless, manless, lifeless—
A lump of death—a chaos of hard clay.
The rivers, lakes and ocean all stood still,
And nothing stirr'd within their silent depths;
Ships sailorless lay rotting on the sea,
And their masts fell down piecemeal: as they dropp'd
They slept on the abyss without a surge—
The waves were dead; the tides were in their grave,
The moon, their mistress, had expir'd before;
The winds were wither'd in the stagnant air,
And the clouds perish'd; Darkness had no need
Of aid from them—She was the Universe.

Dienstag, 28. März 2023

Pinocchio

Ein gewöhnliches Stück Holz. Eine Marionette ohne Führungskreuz und -fäden. Frei sich zu bewegen. Ein Junge aus Holz. 

Eine Geschichte über Kindererziehung, die Bürger des 19. Jahrhunderts mussten sicherstellen, dass ihre Kinder gute Erben werden würden und Collodi, der Autor unserer Geschichte, stimmt ihnen zu und doch läßt seine überbordende Phantasie, es nicht zu, dass sein Text nur eine Moralpredigt wird.

Vier Schauspieler und eine Musikerin, eine Bühnen- und Kostümbildnerin, eine Maskenbauerin, zwei Schneiderinnen, drei technische Fachkräfte. Sieben Wochen Proben durchmischt mit reichlich zu spielenden anderen Vorstellungen. Sieben Wochen, um eine Geschichte für Kinder in eine Geschichte über unsere Kindheit zu verwandeln. 

Es war einmal … ein König! Nein, falsch! Es war einmal ein gewöhnliches Stück Holz.

Photo Marianne Menke 

Eigentlich soll das gewöhnliche Stück Holz ein Tischbein werden. Aber es kommt anders, der alte Geppetto schnitzt sich daraus eine Marionette, die ihn immer lieben soll und mit der er sich ein Zubrot verdienen will.

Aber es kommt anders, Pinocchio, die Holzpuppe, hat eine laute Stimme, schräge Ideen, übermütigen Eigensinn, großzügiges Mitgefühl, reichlich Neugier und ungebremsten Mut und rennt von einem Abenteuer ins nächste. In brenzligen Situationen lügt er auch gelegentlich und dann wird seine Nase länger. 

Blaue Fee: Das Lügen lange Nasen macht, habe ich mir ausgedacht, weil lange Nasen viel lustiger sind als kurze Beine!

Und jedes Mal wenn Pinocchio haarscharf einer Katastrophe entkommt, denkt er bei sich: Ich möchte so sehr ein braver Junge werden, um jeden Preis!“ Wie hoch ist der Preis? Was muss er aufgeben, um ein „braver“ Junge zu werden? Nicht mehr wild, zutraulich und warmherzig, sondern angepasst, artig, arbeitsam. Menschwerdung kostet.

Am Schluss schaut ein Junge namens Pinocchio auf seinen nun leblosen Holzkörper und denkt: „Wie lustig war ich, als ich eine Marionette war und wie glücklich bin ich jetzt, wo ich ein braver kleiner Junge bin!

Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, um brave Jungen zu werden? Wie lang sind unsere Nasen?

 
Photo Marianne Menke

So viele Wörter in einem Wort, pino und io und ochio und pinco, Pinie und ich und Auge und Dummkopf, Holzköpfchen. So viele sich scheinbar widersprechende Züge in der einen Figur, in Pinocchio. Die Marionette, die keine Fäden braucht, die eigenständig laufen, rennen, lachen, sprechen und lügen kann. Pinocchio kann lügen, kann etwas erfinden, auch wenn er es meist nur tut, um einer Strafe zu entgehen. Aber er kann es. Und er kann träumen. Auf diesem Planeten können nur wir Menschen Geschichten erfinden, alle anderen Lebewesen sind an die Wahrheit gefesselt. Wir können uns Dinge ausmalen, die es nicht gibt oder noch nicht gibt. Wir können unsere Geschichte immer wieder anders erzählen, neu erfinden, verbessern. Was für ein Geschenk. Geschichten, halten die Welt am Leben, die Welt würde ohne sie, aufhören zu existieren, heißt es im Imaginarium des Doktor Parnassus. Und unser kleiner Holzkopf hat dieses Geschenk auch erhalten und dann kommen die Menschen und wollen ihm dieses Geschenk entreißen, sie tun es auf vielerlei Art, mit Gewalt, Drohung, Erpressung, Manipulation. Manche berufen sich dabei darauf, ihn zu lieben, andere geben zu, dass es ihnen nur um ihren Vorteil geht. Aber alle wollen ihn anders als er ist. Entweder wollen sie ihn töten oder ihn zu einem braven Jungen machen. Kommt fast auf dasselbe hinaus, oder? Pinocchio will ein richtiger Junge werden, wie alle anderen, und als er es geschafft hat, liegt der alte Pinocchio, die Holzpuppe, das wilde Kind mit verrenkten Gliedern in der Ecke.

Eine Geschichte, die wir alle gelebt haben. Wir kommen in die Welt, schreiend und voll Energie und ohne Wissen über Grenzen und wir werden eines Besseren belehrt. Regeln. Regeln. "Regeln sind alles was wir haben."




Photos Marianne Menke

Wie wird eine Nase länger auf der Bühne? Wie sieht ein Kater aus, ein Fuchs, ein Gorilla, eine blaue Fee, eine Grille? Kein Video, keine Bühnenzüge, nur Schauspieler, Masken, Licht, Kostüme und Theatertricks, leicht zu durchschauen, doch magisch. Vier Schauspieler und eine Musikerin füllen die Bühne, erschaffen eine Welt, die dicht bevölkert ist. 

Ein Schauspieler mitte Fünfzig rennt wochenlang mit einer vorläufigen Maske im blauen Babystrampler herum, eine Schauspielerin spricht so hoch, dass einem fast die Trommelfelle einreißen, eine andere verkrampft ihren schönen Mund, um ihn der Harlekinmaske anzupassen, die Musikerin, als Schnecke besetzt, wird immer langsamer, außer wenn ihre Finger über die Tasten flitzen. Sie bedient auch eine Kreissäge, allerlei Holz, eine Mühle, eine Glocke und unzählige andere geräuscherzeugende Gegenstände und sie isst, langsam, Salat. Sie singen, sie tanzen, sie spielen Tiere, ohne zoologische Imitationen, sie ziehen sich geschätzte 100 Mal in höchster Eile um und können dann, den Eindruck erwecken, alle Zeit der Welt zu haben. Sie sind Zauberer. 

Ich liebe Theater. Und glücklicherweise lieben es einige andere auch.

Sonntag, 26. März 2023

Probieren ist wunderbar. Die Hexenjagd.

Ich bekomme ein Angebot von einem Theater und lese daraufhin ein Stück. 

Dann ist mir schon alles passiert, entnervtes in die Ecke werfen, Liebe auf den ersten Blick, völlige Verwirrung, Erweckung meines Forscherdrangs, extreme Abneigung und faszinierte Fremdheit. 

Wo ist der Punkt, an dem ich einsteigen kann? Was irritiert mich? Wo knarrt es in der scheinbar kohärenten Erzählung? Bei Shakespeare heißt es: "There's the rub." "Da liegt der Hund begraben." "Das ist des Pudels Kern." Da passt was nicht, da lauert ein Widerspruch, da kann ich ansetzen zu meiner persönlichen Entdeckungsfahrt.

Wie Alice brauche ich einen Brunnen, in den ich fallen kann.

Wir haben "Hexenjagd" von Arthur Miller probiert. "The crucible" im Original, der Schmelztiegel oder die Feuerprobe und, damit deutsche Zuschauer besser vorbereitet sind, Hexenjagd. Was für ein gut konstruiertes, gedachtes und gekonntes Stück von geradezu widerlicher Aktualität. A well made play nennen es die Briten.

Worum geht es? Der gesellschaftliche Konsens ist im Wanken, deshalb wird noch genauer auf die Einhaltung der Regeln geachtet, Ausbrüche werden hart geahndet, harte moralische Urteile werden gefällt und Widerspruch nicht geduldet, das ist die Ausgangssituation. Das ist unsere Ausgangssituation, damals bei den Puritanern im 17. Jahrhundert, 1953 in den USA, hier im Heute und auch im Theater.

Was passiert? Junge Frauen tanzen nachts im Wald, Lust, Befreiung, Entäußerung. Da ist Liebe und Trauer um Verlust, Sehnsucht nach Freiheit, die ausgelebt werden. Sie werden erwischt. Aus Angst vor Bestrafung lügen sie und ihre Lügen passen anderen Leuten aus verschiedensten Gründen gut in den Kram, daraus entsteht: Verleumdung. Die Lügen werden größer, kaum weiß noch jemand wo die Wahrheit aufhört und die Lüge anfängt. Ein Wahrheitsgemetzel beginnt. Menschen werden beschuldigt ohne den Hauch einer Unschuldsvermutung. 

Euer Ehren, wir sind hier, um herauszufinden, was niemals niemand jemals gesehen hat.

Was ist wahr? Wer lügt? Aus welchen Gründen lügt man? Wovor hat man Angst? Wann glaubt man die eigene Lüge?

Die Verführung und Zerstörungskraft der Lüge sind gigantisch. Die Lüge ist allgegenwärtig, oft gut verkleidet, bietet Bestätigung, Wohlbefinden, Sicherheit. Die Wahrheit liegt, wie Ionesco sagt, zwischendrin, ist anstrengend, ambivalent, unbequem, im schlimmsten und besten Fall von explosiver Veränderungskraft. Aber erkennt man die Wahrheit noch, wenn man die Lüge gewohnt ist? Fake news sind Fake Wahrheiten. Und mittlerweile scheint es mir, als seien gefühlte Wahrheiten für viele wahrer, als wissenschaftliche Fakten. Wahr, wahrer, am wahrsten. Die Erde ist flach, Trump ist cool, Putin verteidigt Russlands Rechte, Chemtrails überall.

Das Stück spielt in einem kleinen Ort in Massachuchetts, Salem. Jeder kennt jeden, jeder "weiß" alles über jeden. Also sind alle Spieler immer auf der Bühne, jeder hat seinen Stuhl, sie lauschen aus dem Hintergrund, reagieren. Jeder Szene ist nur ein Möbel zugeordnet, Bett, Tisch, Mülltonne, Kaffeeautomat. Die Kostüme sind an Uniformen erinnernde Einteiler mit sehr individuellen Details in Blautönen. Wenig Maske.

Die Schauspieler, was kann ich sagen, eine Freude, ein Erlebnis, ein Abenteuer. Hin- und herhgehetzt zwischen Weihnachtsmärchen, regulären Vorstellungen, Lesungen etc. kommen sie, um etwas Neues zu probieren. Erstmal habe ich die Samstag-Proben gecancelt, irgendwann müssen sie doch mal ausschlafen, ihre Kinder bespielen, Text lernen oder Schlittschuh fahren, oder? Und ihre Laune ist besser am Montagmorgen. Und sie haben geschuftet, so viel Klappsätze und merkwürdige Formulierungen, so emotional und genau gedacht. Gelacht haben wir auch viel, unbedingt notwendig bei solch teuflischem Text. Und immer wenn vom Teufel die Rede ist, schnipsen alle über die linke Schulter. 

Währenddessen ist das Theater in Greifswald wegen anstehender Sanierung schon seit Juni geschlossen und die zugesagte Ausweichspielstätte wurde, trotz Zusage, nicht zur Verfügung gestellt. Drei Jahre soll es dauern, also wahrscheinlich fünf? Harte Zeiten. Ich wünsche diesem Ensemble in diesen harten Zeiten nur Gutes, das Beste. 

https://www.vanheesen.de/


Bühne: Nicolaus Heyse / Kostüme: Jenny Schall / Musik: Ludger Novak

Spieler: Markus Voigt, Nora Hickler, Philipp Seidler, Anjo Czernich, Katharina Rehn, Amelie Kriss-Heinrich, Gabriele Völsch, Lutz Jesse, Susanne Kreckel, Philipp Staschull, Jan Bernhardt, Hannes Rittig

Mädchen aus Salem: Pauline Altendorf, Marlene HeßeHenriette Held, Adele Mesing, Charlotte Brunk, Timea Daedelow, Freya Kairies, Frida Krüger, Jördis Werner

Al Pacino als Teufel in dem Film "im Auftrag des Teufels" 

Für wen schuftet ihr? Für Gott? Das ist es? Für Gott? Naja, ich sag euch, lasst mich euch ein bisschen Insider-Information über Gott geben. Gott schaut gern zu. Er ist ein Witzbold. Denkt mal drüber nach. Er gibt dem Menschen Instinkte. Er gibt euch dieses außergewöhnliche Geschenk und was tut Er dann? Ich schwöre, für Sein Amusement, für Sein privates Vergnügen, setzt Er die Regeln in Opposition. Das ist der größte Gag aller Zeiten. Gucke, aber fass nicht an. Fass an, aber schmecke nicht. Schmecke, aber schlucke nicht. Ihr erinnert euch an Clinton und Monica Lewinsky? Und während ihr von einem Fuß auf den anderen hüpft, was tut Er? Er lacht sich seinen kranken, verfluchten Arsch ab. Er ist ein Geizhals. Er ist ein Sadist. Er ist ein nie erreichbarer Vermieter. Den Anbeten. Niemals! ... Warum nicht? Ich bin hier unten mittendrin seit die ganze Sache begann. Ich habe jedes Begehren das im Menschen geweckt wurde genährt! Ich habe mich um seine Wünsche gekümmert und ihn nie verurteilt. Warum? Weil ich ihn nie zurückgewiesen habe trotz seiner Unvollkommenheit. Ich bin ein Fan des Menschen. I’m a fan of man! Ich bin ein Humanist. Vielleicht der letzte Humanist. Wer, der bei klarem Verstand ist, kann leugnen, dass dieses Jahrhundert ganz und gar meines ist? Jetzt ist meine Zeit. Es ist unsere Zeit.

O – raison d'esclave

"Krücken, Krücken! gebt uns Krücken!

Ach, wie geht die Menschheit lahm,

seit man, neu sie zu beglücken,

ihr die alten Stützen nahm.

 

Brillen, Brillen! gebt uns Brillen!  

grün und blau und gelb und rot!

Volles Licht ist für Pupillen

unsrer Art der sichre Tod.

 

Lügen, Lügen! gebt uns Lügen!

Ach, die Wahrheit ist so roh!

Wahrheit macht uns kein Vergnügen,

Lügen machen fett und froh!

 

Gängelbänder, Schaukelpferde,

Himmel, Hölle und Moral –

und dich selbst gib deiner Herde

neu zurück, o großer Baal!

 

Christian Morgenstern



Sonntag, 15. Januar 2023

Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,

Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, so beginnt die Illias des Homer. Zorn kann vieles, Kreativität frei setzen, verkrampfen, eherne Mauern einstürzen lassen, Unschuldige töten.

Ich habe neulich einen Theaterabend gesehen, der durch Zorn zusammengehalten wurde, und was es vollends verrückt werden ließ, der Zorn richtete sich gegen die, die das Stück geschrieben und irgendwie auch inszeniert haben. 

Es war ein gewaltiger Zorn, der, freigelassen auf der Bühne, eine halbgare Sammlung von Traktaten (Wiki: Flug-, Streit-, Schmähschriften) , zu einem faszinierenden, aber mich auch bedrückenden theatralen Ereignis verschweißte. Der Abend hätte jede Minute in die Luft gehen können und nur diese Gefährdung machte ihn spannend.

Gute Schauspieler sind Wunderwesen, hochsensibel, liebessüchtig, und, wenn ihnen Raum gelassen wird, legen sie unbeirrbar den Finger auf die jeweilige schwärende Wunde. 

Es war ein seltenes und gänzlich neues Erlebniss, dass eine Inszenierung durch den zornigen Protest gegen sie, eigentlich erst entsteht. Ich verweigere mich, also spiele ich gegen diese Vereinnahmung bis zur völligen Erschöpfung. 

Der Hass-Clown, ein neues Fach, zeitgemäß und höchstdramatisch.

Das Ensemble-Netzwerk und die neue Kraft der Gewerkschaften verändert unser altes, feudales, deutsches Stadttheatersystem, die Verwerfungen werden gerade erst sichtbar, Schauspieler klagen erfolgreich, Intendanten kommen nicht ungeschoren durch, wenn sie Entscheidungen nicht glaubhaft begründen können. Gut so. Wenn es schief geht, explodiert das ganze System, aber wenn es klappt, welche Kräfte werden freigesetzt?

Sonntag, 8. Januar 2023

GREIFSWALD - HEXENJAGD - ENERGIEKOSTEN

Greifswald. Wenn wir die Studenten mitzählen, hat die Stadt circa 62 000 Einwohner. Eine alte Hansestadt mit nur drei lokalen Buslinien, die in mitunter recht großen Abständen fahren. Da ist noch einiger Spielraum für Verbesserung, wollen wir dem Klimawandel trotzen.

Die Stadt hat ein seit Juni geschlossenes Theater, das in den nächsten drei Jahren saniert werden wird, obwohl bis jetzt diesbezüglich noch nicht allzuviel passiert ist. Es könnten also auch vier Jahre werden. Den bereits zugesagten Ersatz-Spielort, ein Theaterzelt, wird es, in Folge von Coronanöten und ins geradezu Unermessliche steigenden Energiekosten, nicht geben. 

Eine mögliche, die einzig mögliche, Ausweichspielstätte benötigt, um regelmäßige Vorstellungen  zu erlauben, die für den laufenden Spielbetrieb nötige Infrastruktur, wie Garderoben und Aufenthaltsräume. Die soll nun das Theater finanzieren.

Das Theater, das Theater Vorpommern, ein Verbund der Städte Stralsund, Greifswald & Putbus, muss derzeit Vieles zusätzlich finanzieren, die endlich durchgesetzten Erhöhungen der Anfängergagen auf ein akzeptables Niveau und die erhöhten Kosten von Strom und Heizung, Theater kann nun einmal nicht im Dunklen stattfinden und das im Parkett mehr oder weniger still sitzende Publikum benötigt einen halbwegs warmen Raum.

Eine befreundete Regisseurin vermutete schon vor Jahren, das die benötigten Kilowattstunden bald in den Regieverträgen vermerkt werden könnten.

Wir arbeiten jetzt an der HEXENJAGD von Arthur Miller, einem "well made play", einem "gut gebauten Stück. Ich habe das Glück mit einem erstklassigen Ensemble arbeiten zu können, fleissig, interessiert, witzig und aufmerksam füreinander. Sie hören sich zu, sie gehen offen in Wettbewerb miteinander, sie lassen nicht nach.

Zusatzinformation: im Monat Dezember, dem besten und härtesten Monat für Stadttheater, haben meine Spieler "nebenbei" viele, viele Vorstellungen des Weihnachtsmärchens gespielt, plus einer abgespeckten Weihnachtsaufführung für das momentan theaterlose Greifswald und die üblichen Vorstellungen sowieso. Ach, und sie hatten so oft Grippe und Covid, wie der Rest der Bevölkerung, vielleicht weniger, weil viele Schauspieler auch noch komatös zur Probe kriechen.

Heute war der erste Durchlauf auf der Bühne und mein schönstes Kompliment folgte, ich wurde als "fette Regisseurin" bezeichnet.


Ich tue, was ich liebe , darf tun, was ich liebe, und liebe, was ich tue.

Samstag, 10. Dezember 2022

Was jetzt? in der Volksbühne - Pollesch

Mein Lieblingswort des Abends: NASSNESS. Ein Mann, es regnet, sein Mantel vom Flohmarkt und aus schwerem Stoff , saugt sich voll, er spürt NASSNESS.  Ja, ein Anglizismus, aber auch den erlebten Laut nachahmend und so sehr viel nachspürbarer als unsere übliche barsche Nässe. Ich bin nass, nässer, am nassesten, mein Körper fühlt nur noch Nassness.

Auf dem Heimweg überhörte ich einen jungen Mann, der Herrn Pollesch Altersweisheit bescheinigte. Ich will ihm die nicht absprechen, aber habe eher den Eindruck, dass er gerade dabei ist, seine sehr eigene Theater-Methode recht waghalsig explodieren zu lassen. Wäre Samuel Beckett nicht 1906 im hungergeschüttelten Irland, sondern in der 60ern in Westdeutschland geboren worden, hätte er vielleicht solche Stücke geschrieben.

Polleschs Arbeiten mit Fabian Hinrichs, seine persönlichsten, finde ich, habe ich immer sehr gemocht, manche anderen haben mich gut unterhalten und doch konnte ich später nicht genau sagen, worum es eigentlich ging, aber heute Abend ...

Ein sechsstündiger Sommernachtstraum mit drei Pausen." - "Ich hätte gern ein Leben mit drei Pausen." - "Das geht nicht, in den Pausen, geht das Leben weiter. Das Leben erlaubt keine Pausen." - "Aber ich hätte gern ein Leben mit drei Pausen, wo ich rausgehe und vielleicht ein Glas Sekt trinke und dann weiterlebe." - " Das Leben erlaubt keine Pausen."

Die Zitate sind nicht wortgetreu.

Wuttke und Peschel, aka Estragon & Wladimir warten auf das wahre Theater. Sie sind keine  Schauspieler, sondern Arbeiter im PCK. Lutz ist Sachbearbeiter im PCK, oder Facharbeiter, aber Lutz ist auch Hans-Jürgen oder Heinz und der Mann im Kochkostüm ist der Nachtwächter. Und Chruschtschow hatte eine queere Agenda, die von Breschnjew abgewürgt wurde, genau so wie die großen Visionen der Kybernetik unter Ulbricht, Honeckers Machtübernahme nicht überlebten. Es gibt Slapstick oder die gerade-noch-so Verweigerung desselben, Wuttke ist auch Pollesch und Peschel ist meistens empört. Sie insistieren, sie ändern ihre Haltung, sie chargieren mit Brillanz. Der dritte im Bunde, Franz Beil, versucht sein Bestes, aber wer kann schon dagegen ankommen.

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Die PCK Raffinerie GmbH (ehemals VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt) ist ein Erdölverarbeitungswerk in Schwedt/Oder in der Uckermark (Brandenburg). Die PCK-Raffinerie in Schwedt versorgt zu 95 Prozent die Räume Berlin und Brandenburg mit Kraftstoffen, also Benzin, Diesel, Flugturbinenkraftstoff und Heizöl. Der Marktanteil an der gesamtdeutschen Kraftstoffproduktion beträgt etwa zehn Prozent. Die Abkürzung PCK stand bis 1991 für Petrolchemisches Kombinat, 1991 bis 1996 für Petrolchemie und Kraftstoffe. WIKI

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Konkurrenzfähig ist auch das werkseigene Arbeitertheater. Mitte der 60er Jahre inszeniert Gerhard Winterlich mit den Schwedtern sein Stück "Horizonte" und gewinnt beim ökonomisch-kulturellen Leistungsvergleich in Karl-Marx-Stadt eine Goldmedaille. Heiner Müller übernimmt den Stoff und überschreibt und remixt ihn mit dem "Sommernachtstraum" für die Eröffnung der Intendanz von Benno Besson an der Berliner Volksbühne 1969. 

https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=18710:eternity-fuer-alle-neue-horizonte-hau-berlin&catid=38  

https://www.hellerau.org/de/neue-horizonte/

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Anfang 2023 soll kein russisches Rohöl mehr in der PCK-Raffinerie zu Benzin, Diesel und Kerosin verarbeitet werden. Der Schwedter Standort soll umstrukturiert werden. Dazu tagte erstmals eine Taskforce des Landes Brandenburg in Potsdam. 09.11.2022
 
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Der Deutsche Bundestag berät am Donnerstag, 15. Dezember 2022, über die Situation der PCK-Raffinerie in Schwedt vor dem Hintergrund des Embargos gegen russisches Öl als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Die Abgeordneten werden den Antrag der Linksfraktion mit dem Titel „PCK Schwedt retten und transformieren – Deindustrialisierung Ostdeutschlands verhindern“ (20/4762) ebenso erstmals beraten wie den von der AfD-Fraktion avisierten Antrag „Mitteldeutsche Ölversorgung gewährleisten – Für die Raffinerie PCK Schwedt Vollauslastung ermöglichen und deren Versorgung sicherstellen“. Beide Anträge sollen im Anschluss an die knapp 70-minütige Debatte an die Ausschüsse überwiesen werden. Bei den Beratungen soll der Ausschuss für Klimaschutz und Energie die Federführung übernehmen. Über zwei weitere Anträge der AfD-Fraktion wird das Parlament abstimmen. Zum Antrag mit dem Titel „Deutsche Arbeitnehmerinteressen bei Energieembargo berücksichtigen – Massenentlassungen in Schwedt verhindern“ (20/1863) wird der Ausschuss für Arbeit und Soziales eine Beschlussempfehlung abgeben. Zu dem Antrag „Öl- und Gasembargo verhindern – Bürger und Unternehmen schützen“ (20/1862) gibt es schon eine Beschlussvorlage des Ausschusses für Klimaschutz und Energie (20/2481), in der die Ablehnung empfohlen wird. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw50-de-pck-raffinerie-924560

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https://de.wikipedia.org/wiki/Kybernetik 

Sonntag, 6. November 2022

Zweimal drei Stunden Theater, zweimal nicht eine Sekunde zu lang.

Gestern: "Was hast DU geliebt? Kinder, Essen, Frauen, Theater. Und zwar von allem reichlich. Darum sind wir auch sechs Kinder. Mit vier Müttern. Aber am meisten hast du das Theater geliebt. Erst wenn gespielt wurde, hast du das Leben durchschaut. Wach, witzig, böse und so unglaublich gescheit. Benno, du fehlst!"  Katharina Thalbach 

Heute: "Ich muss das Vergessen dem Vergessen entreissen."

Gestern: eine Feier zum 100. Geburtstag von Benno Besson in der Volksbühne.

Heute: "Vögel" von Wajdi Mouawad im Neuen Haus des Berliner Ensembles.

Gestern: Thalbach, Pierre Besson, Philippe Besson, Ezio Toffolutti, Christoph Hein, Christian Grashof, Hermann Beyer, Winfried Glatzeder, die Jazz-Optimisten, Hildegard Alex, Walfriede Schmidt, Christoph Waltz, Friedrich Dieckmann, Manfred Karge, Kollegen von anderen Berliner Theatern und, sehr anwesend, so viele Gegangene, Vermisste.

Heute: Amina Merai, Dennis Svensson, Martin Rentzsch, Kathrin Wehlisch, Robert Spitz, Naomi Krauss, Rafat Alzakout, Hadar Dimand und als Regisseur Robert Schuster und ein unfassbar gutes Stück, ein mich glücklich erregender poetischer Text von Wajdi Mouawad, von dem ich viel gehört hatte, aber nichts gelesen oder gesehen, was ich nun zutiefst bedaure. Und froh bin, dass das jetzt von nun an anders ist.

Gestern: Theaterliebe in ihrer zärtlichsten Form. Indem sich öffentlich erinnert wurde, durfte ich mich erinnern. Im Foyer Super 8 Aufnahmen, die Besson gemacht hat, Ost-Berlin am 1. Mai 1955, ein junger Spund springt durchs Bild, es ist mein Theater-Held, Fred Düren. Auch zu sehen, meine Mama und mein Vater, beide sind 25, meine Großmutter ist jünger, als ich es jetzt bin, Brecht ist kurz zu sehen und Sabine Thalbach, die Frau mit dem schönsten Hals den es je gab, Wolf Kaiser, Raimund Schelcher, Norbert Christian, Regine Lutz, all diese Menschen kannte ich, aber ich war Kind und sie waren aus meiner Sicht hauptsächlich alt. Und ich treffe Leute, die ich als Kinder kannte und die nun selbst sehr großgewachsene Kinder haben. Man bin ich alt. Dann im Saal, Glatzeder, der Liebende aus "Paul und Paula", er wollte ums Verrecken nicht abgehen und dann zitiert er einen Monolog des Jacques aus "Wie es euch gefällt", den er 1975, also vor fast 50 Jahren gearbeitet hat und ich bin froh, dass er nicht abgegangen ist. Ezio Toffoluti liefert die beste Slapstick-Nummer des Abends, ermöglicht durch Katharina Thalbach, die ihm in zauberhaft helfender Weise zur Seite steht. Überhaupt, sie, die den Abend moderiert, gbt ihm eine Wärme, einen liebenden Respekt, der mich sehr berührt hat. 


Der Gefeierte, Benno Besson, mit 12 war ich das erste Mal außerhäusig im Theater, bis dahin nur im BE aus familiären Gründen und im Theater der Freundschaft, weil ich halt ein Kind war, aber nun sah ich im Deutschen Theater "Der Drache" von Jewgeni Schwarz und der Gang von Rolf Ludwig, dem Drachen, die Treppe hoch, ist in mein Hirn eingebrannt und einige andere Bilder auch. Die Spektakel in der Volksbühne, wenn man nicht in Berko Acker verknallt war, dann in Kurt Goldstein und jedes Mittel war recht um reinzukommen. Zum "Hamlet" hat meine Schulfreundin ihr Deutsch-Abi gemacht. Wie wichtig Theater damals war? Ein Ort des Einverständnisses, des Verstehenwollens. Diktaturen sind die beste Zeit für Theater und die schlimmste.

Heute: Theaterliebe die mich zum Weinen gebracht hat, weil mir eine Geschichte ohne Erlösung mit Intensität und Distanz erzählt wurde. Hier haben Schauspieler monatelang ihnen völlig fremde Sprachen gelernt und spielen in ihnen, als wäre es ihre Muttersprache und verhandeln Probleme, die unsere Welt auseinanderreissen könnten. Meine Freundin hoffte, wider alle Realität auf ein Happy End. Ach gäbe es das doch. Ach.


Montag, 24. Oktober 2022

Ophelia 's got talent in der Volksbühne

Hätte mich jemand ins Theater eingeladen und das zu Erwartende in etwa so beschrieben, nur Frauen, meist nackt, viel Tanz, eine gynäkologische Untersuchung, viel Blut, viel Wasser, viel in Englisch und eine Gruppe Kinder, ich hätte, höchstwahrscheinlich höflich dankend abgelehnt. Gott sei Dank hat mich keiner eingeladen, sondern ich habe Ulrich Seidlers Kritik in der Berliner Zeitung gelesen, der überwältigt und ziemlich fassungslos einen wunderbaren Text geschrieben hat. Ich liebe diesen Kritiker, auch wenn ich, weiß Gott, nicht immer seiner Meinung bin. Aber er liebt. 

https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/theater/florentina-holzinger-inszeniert-ophelias-got-talent-mit-hubschraubereinsatz-in-der-volksbuehne-extremer-geht-es-nicht-li.267672

Ich habe sowas, wie das, was ich heute gesehen habe, noch nie gesehen. 

Der Abend ist eine Materialschlacht, Tänzer/Akrobaten/Spieler, die sich völlig verausgaben und dabei gemeinsam Spaß haben, Licht, Musik, Video und mehr Bühnenelemente, als sich ein Stadttheater in zwei Jahren leisten könnte, aber die überwältigende Menge macht Sinn. 

Frau, Flüssigkeiten, Wasserwesen, Kraft, Leid, Ertrinken, Ersaufen, Schwimmen/ Schweben, Sexualität von weiblichen Wesen, Fortpflanzung, Erniedrigung, Schmerz.

Zweimal kommen hilfreiche, männliche technische Mitarbeiter auf die Bühne, freundliche Fremdkörper. Eine Umkehrung der gewöhnlichen Machtverhältnisse.

Das Bühnenbild ist so gigantisch, das es dem Klimawandel gewiss einiges an Hilfe leistet. Aber die Bilder, die entstehen sind magisch.

Es gibt Längen und einige zu offensichtliche Schockelemente, aber, aber was bleibt, ist, dass sich die Spielerinnen sich unterstützen, sich Kraft geben, sich beschützen und mich unterhalten wollen, mich einbeziehen wollen. Nie wird auf mich herabgesehen, ich werde immer berücksichtigt, angesprochen.

Ein Fest, dass Frauen feiert, das Frausein feiert, ohne Sentimentalität und ohne Besserwisserei, aber mit der Gewissheit, das wir Leben erzeugen können. Ein Privileg. Eine Last. Ein Glück.

Im Finale springen kindliche Haie durchs Wasser, das übersät ist mit leeren Wasserflaschen und fordern unsere Zustimmung.

https://www.tagesspiegel.de/kultur/ophelias-got-talent-an-der-volksbuhne-make-up-fur-die-wasserleiche-8652970.html

Manchmal ist er vielleicht zu offensichtlich, aber der Abend hinterlässt Spuren, was mehr ist, als was ich über viele meiner letzten Theaterabende sagen kann. Und ich hatte in keinem Moment das Gefühl belehrt zu werden. Es wurde mit mir gesprochen.

Konzept & RegieFlorentina Holzinger

mit
Melody Alia Saioa Alvarez Ruiz Inga Busch Renée Copraij Sophie Duncan Fibi Eyewalker Paige A. Flash Florentina Holzinger Annina Machaz Xana Novais Netti Nüganen Urška Preis Zora Schemm
Musik
Paige A. Flash Urška Preis Stefan Schneider
Bühne
Nikola Knežević
Licht Design
Anne Meeussen
Videodesign
Melody AliaJens Crull Max Heesen
Dramaturgie
Renée Copraij Sara Ostertag Fernando Belfiore Michele Rizzo
Autor/in
Florentina Holzinger

 

Samstag, 2. April 2022

GEHT ES DIR GUT? an der Volksbühne

 Fabian Hinrichs und René Pollesch sind "von alldem müd und wahnsinnig".

Geht es Dir gut? Um die Frage klar zu beantworten, nein, es geht mir nicht gut. Aber heute Abend geht es mir etwas besser, weil sich ein ein langer, dünner Mann anderthalb Stunden lang die Seele nach mir aus dem Leib gerufen hat. "Komm zurück!" 

Toller Trick, dieses "DU", mit dem er mich meint, mich und die anderen Zuschauer und vielleicht auch den Gott, an den ich nicht glaube.

Er hat gerufen, nicht geschrien, nicht gebrüllt, gerufen, die Seele aus dem Leib, nach mir. In Hoffnung auf Antwort?

Er hat mit bulgarischen und afrikanischen Chören gesungen und recht schlecht getanzt, damit ich noch mehr begreifen konnte, wie gut die Tänzer von Flying Steps waren. Und er hat mit einem Taxi coole Bremsmanöver veranstaltet und eine Mutter, die ein zweijähriges Kind mitgebracht hatte, höflich gebeten, zu gehen, weil hier doch nicht KIKA sei. Und er hat, als ein Zuschauer, um zum Pinkeln zu gehen, die Tür knallen ließ, lächelnd, leicht betrübt erwähnt, dass dies "die zweitleiseste Stelle" des Abends gewesen sei. Und in der ersten Hälfte trug er dabei das blödeste denkbare Kostüm, eine asymetrisch geschnittene Leinenparka mit schiefem Fellkragen.

Es ging um Corona, Masken, Putin, die Ukraine, Elon Musk, das Klima, und nichts davon wurde ausgesprochen. 1,5 Meter Abstand, 1,5 tausend Kilometer bis Kiyv, 1,5 Millionen Lichtjahre.

"Wir müssen jetzt über mehr reden, als über Dich und mich."

Und es gab eine wunderschöne silberne Rakete. 

"Geht's Dir gut?" von René Pollesch und Fabian Hinrichs 
an der Berliner Volksbühne © Thomas Aurin