Die Grille und die Ameise
Grillchen, das den Sommer lang
Zirpt und sang,
Litt, da nun der Winter droht’,
Harte Zeit und bittre Not:
Nicht das kleinste Würmchen nur,
Und von Fliegen keine Spur!
Und vor Hunger weinend leise
Schlich’s zur Nachbarin Ameise;
Fleht’ sie an, in ihrer Not
Ihr zu leihn ein Körnlein Brot,
Bis der Sommer wiederkehre.
„Glaub mir“, sprach’s, „auf Grillen-Ehre,
Vor dem Erntemond noch zahl
Zins ich dir und Kapital.“
Ämchen, die, wie manche lieben
Leute, das Verleihen hasst,
Fragt die Borgerin: Was hast
Du im Sommer denn getrieben?“
„Tag und Nacht hab ich ergötzt
Durch mein Singen alle Leut.“
„Durch dein Singen? – Sehr erfreut!
Weißt du was? Dann – tanze jetzt!“
Jean de la Fontaine um 1668
Was für ein erbarmungsloser Schluß.
Bei Äsop (um 600 v.Chr.) gibt die Ameise noch nach, und fordert im Gegenzug
nur von der Grille: „Aber du musst mir auch etwas musizieren.“ 2000 Jahre später hat sich
das Erbarmen aus der Geschichte geschlichen.
Die Grille musizierte Die ganze Sommerzeit –
Und kam in Not und Leid,
Als nun der Nord regierte.
Sie hatte nicht ein Stückchen
Von Würmchen oder Mückchen,
Und Hunger klagend ging sie hin
Zur Ameis, ihrer Nachbarin,
Und bat sie voller Sorgen,
Ihr etwas Korn zu borgen.
»Mir bangt um meine Existenz,«
So sprach sie; »kommt der neue Lenz,
Dann zahl ich alles dir zurück
Und füge noch ein gutes Stück
Als Zinsen bei.« Die Ameis leiht
Nicht gern; sie liebt die Sparsamkeit.
Sie sagte zu der Borgerin:
»Wie brachtest du den Sommer hin?«
»Ich habe Tag und Nacht
Mit Singen mich ergötzt.«
»Du hast Musik gemacht?
Wie hübsch! So tanze jetzt!«
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 5.
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Milo Winter Illustration zu Äsop's Fabel 1919 |
Und hier eine andere Variante aus einem Blog , der sich ironisierend "Einführung in den klassischen Liberalismus" nennt. Menschenverachtung als Satire verkleidet, reizend.
Wir sind entsetzt über die menschenverachtende Unmoral, die aus dieser Fabel spricht. Dem Ungeist der ausbeuterischen Bourgeoisie, der hier erkennbar wird, wollen wir die Wärme und das Mitgefühl der solidarischen Volksgemeinschaft entgegenstellen. Daher haben wir die Fabel etwas umgeschrieben. Sie ist nun zwar nicht mehr in kunstvollen Versen formuliert, dafür transportiert sie aber die richtige Gesinnung, und das ist immer das Entscheidende.
Es war einmal eine Grille, die das Leben liebte und mit ihren Freunden viel Spaß hatte. Diese Grille war durchaus bereit, eine ihr gemäße Arbeit anzunehmen, aber es stellte sich heraus, daß keiner der vielen Arbeitsplätze, die ihr angeboten wurden, für sie zumutbar war. Die Arbeitsagentur bestätigte sie in dieser Auffassung. Mit Verachtung blickte die Grille auf eine ihr bekannte Ameise, die sich bedenkenlos von den Kapitalisten ausbeuten ließ, und dies für eine Hand voll Euros. Die Grille zog es vor, ihre Zeit den schönen Dingen des Lebens, wie Wein, Weib und Gesang, zu widmen.
Es kam der Winter und die frierende Grille berief eine Pressekonferenz ein, in der sie zu wissen verlangte, ob es mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit vereinbar sei, daß die Ameise ein großes beheiztes Haus hat und Nahrungsvorräte im Überfluß, während andere in der Kälte litten und hungerten. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen zeigte Bilder der fröstelnden Grille und in starkem Kontrast dazu Aufnahmen der Ameise in ihrem gemütlichen Heim vor einem Tisch voller Speisen. Führende Kommentatoren der Tagespresse zeigten sich schockiert über diesen krassen Gegensatz und fragten: "Wie ist es möglich, daß in einem so reichen Land so viel Armut zugelassen wird?"
Der Fall erregte landesweite Aufmerksamkeit und bald schaltete sich NEID (Nationale Einheitsgewerkschaft der Insekten Deutschlands) ein, deren Vertreter in einer populären Talkshow darauf hinwies, daß die Grille, die unübersehbar eine grüne Körperfarbe hat, das Opfer einer bisher schon immer latent vorhandenen Grünenfeindlichkeit geworden ist. Bekannte Persönlichkeiten der Popmusik gründeten die Initiative "Rock für Grün" und alle Welt war gerührt, als ein von der britischen Königin geadelter Popstar auf einem Konzert dieser Bewegung das eigens für diesen Anlaß komponierte Lied "It´s Not Easy Being Green" anstimmte.
Sowohl Vertreter der Regierungs- als auch der Oppositionsparteien nutzten jeden öffentlichen Auftritt, um ihre Warmherzigkeit und ihr Mitgefühl zu zeigen, indem sie erklärten, daß sie alles in ihrer Macht stehende tun würden, um der armen Grille ihren gerechten Anteil am allgemeinen Wohlstand zu verschaffen, daß die hartherzige Ameise es lernen müsse zu teilen und daß Einkommensunterschiede immer ein Ausdruck von Ungerechtigkeit sind.
Die Bundesregierung, der von Journalisten immer wieder vorgeworfen worden war, daß sie dieses brennende Problem aussitzen wolle, zeigte ihre Handlungsfähigkeit und legte im Bundestag ein "Gesetz zur wirtschaftlichen Gleichstellung grüner Insekten" vor, das Ameisen mit einem Solidaritätszuschlag auf deren Einkommensteuer belegte. Dieser Gesetzesvorschlag wurde von allen Parteien des Bundestages angenommen. Von nun an lebten alle Mitglieder der Volksgemeinschaft in mitfühlender Geschwisterlichkeit und niemand störte es, daß aus unerklärlichen Gründen die Wirtschaftsleistung des Landes von Jahr zu Jahr zurückging.
Und hier die Sicht des beginnenden 20. Jahrhunderts:
Julius Stinde
Die Grille und die Ameise
Es war einmal eine Ameise, die war ebenso fleißig wie sparsam. Den Kaffeesatz brühte sie viermal auf, bevor sie ihn der Scheuerfrau in den Tagelohn rechnete, und ihr bestes Kleid war schon zweimal in der Färbe gewesen. Auf diese Weise kam sie zu einem hübschen Vermögen, das sie, da die Consols des Ameisenreiches nur drei Prozent gaben, in tropischen Orchideenactien anlegte, die vierhundertundvierzig standen und deren Dividende von sieben bis auf dreizehn gestiegen war. So hatte sie nicht nötig mehr, zu arbeiten, sondern konnte von ihrem Gelde leben und Kaffee trinken und Napfkuchen essen, wie ihr Herz begehrte. Auh war sie sehr wohltätig. Sie besuchte alle Bazare zur Milderung des Elends und verkaufte dort Pulswärmer, die sie in abendlichen Dämmerungsstunden gestrickt hatte, zu hohen Preisen, woran sie nur die Hälfte für Materialauslagen und Arbeitslohn beanspruchte. Darum fehlte es ihr nicht an Wertschätzung und Hochachtung.
Ihre Freundin, die Grille ging auch auf die Bazare und zwar in Begleitung von Kavalieren und tief ausgeschnitten wie zu einem Parée-Theater. Da gab sie alles Geld aus, was sie hatte und das der Kavaliere dazu, die dann Anleihen bei häßlichen alten Wucherern machen und sich nachher totschießen mußten, worauf sie in sogenannte Schlüsselromane kamen zum Ergötz aller Anständigen, die sich freuen, wenn Andere in die Presse kommen und nicht sie.
Da sagte die Ameise, als weder die Grille noch ihr derzeitiger Kavalier Wohltätigkeitspulswärmer kaufen wollten: "Dir wird es noch einmal recht schlecht gehen. Du jubilierst und flirtest ohne an Dein Alter zu denken. Schönheit vergeht, Sparsamkeit besteht!"
Die Grille lachte und sang: "Heute ist heut! Heut will ich lustig sein. Holdrio juchheh." -
Als der Winter nun kam - die Grille hatte von ihrem diesmaligen Kavalier eine Blaufuchsstola bekommen und einen Sealskinmantel samt Muff - begegnete die Ameise ihr in dem gefärbten Kleide mit einem dünnen Tuch um die Schulter und fror grausam.
"Wie siehst denn Du aus?" fragte die Grille. "Ach", klagte die Ameise bitterlich weinend, "die tropische Orchideengesellschaft ist Pleite und ich habe all' mein mühsam Erspartes verloren."
"Warum hast Du nicht gesungen und geflirtet?" entgegnete die Grille. Mit einer liebreizenden Bewegung stellte sie vor: "Die Ameise, meine beste Jugendfreundin, Herr Papillon, früherer Aufsichtsrat der tropischen Orchideengesellschaft, demnächst mein Gatte. Willst Du uns besuchen, wir wohnen Villa Providence, eingerichtet mit allem Comfort der Neuzeit". Damit hüpfte sie am Arme ihres Begleiters lächelnd davon.
Lange und betrübsam überlegend blickte die Ameise ihnen nach. "Früher war die Geschichte anders", murmelte sie; "aber mir scheint, so wie sie jetzt ist, ist sie richtiger. Und - die Wahrheit über Alles - sagt Ibsen."
In: Damenspende des Vereins Berliner Presse, Winter 1905, S. 49-51.