«Humor ist für mich die Geschichte von dem zum Tode
Verurteilten,
der die letzte Zigarette mit den Worten ablehnt:
Nein
danke, ich will doch aufhören!
ROLAND TOPOR
Illustration zu Le Locataire chimérique - Der trügerische Mieter
Trailer zu Polanskis "Der Mieter" nach Topors Roman "Le Locataire chimérique" von 1964
https://www.youtube.com/watch?v=ZmhIMbdecEU
Ius primae noctis
Dieses Jahr findet die Wahl der Miss World in Mexiko statt.
Bewerberinnen aus 32 Nationen landen am Flughafen und drängen sich in dem Bus, der sie zum "Palace Excelsior" bringen soll, dem Ort der Veranstaltung. Unglücklicherweise kommt der Bus unterwegs von der kurvigen Bergstraße ab und stürzt in eine Schlucht. Zwölf Konkurrentinnen sind solort tot, fünfzehn mehr oder weniger schwer verletzt.
Allgemeine Ratlosigkeit.
Soll man ein so bedeutendes Ereignis absagen, wo doch Fernsehsender aus aller Welt vor Ort schon ihre Kameras aufgebaut haben?
Die Veranstalter beschließen, so zu tun, als ob nichts wäre, und beschränken sich darauf, die Modalitäten der Zeremonie zu verändern: Das Defilé soll horizontal erfolgen, die Bewerberinnen, ob tot oder lebendig, werden – sorgfältig geschminkt und eine Banderole mit dem Namen ihres Herkunftslandes schräg über den entzückenden Badeanzug drapiert – von Herren im Abendanzug auf einer Liege getragen.
Und alles geht sehr gut, von den Gewissensproblemen der Jurymitglieder einmal abgesehen: Gibt es einen Punktabzug für ein fehlendes Bein? Kann man auf ein Gesicht verzichten? Müssen es unbedingt zwei Brüste sein?
Um nicht die einen auf Kosten der anderen zu bevorzugen, wurden die Lebenden vorsichtshalber betäubt und so den Toten gleichgestellt, außerdem konnte man auf diese Weise den zweifellos unerfreulichen Eindruck vermeiden, den Röcheln und Stöhnen hervorgerufen hätten.
Die Entscheidung ist allerdings durch den Umstand erschwert, dass die liegende Stellung, in der die prächtigen Anatomien der Jury präsentiert werden, die Begutachtung nicht gerade begünstigt. Auf Bitten der Herren wird also manchmal ein Kopf gedreht, ein Bein angehoben oder eine Wunde geschlossen. Zudem erscheint es unumgänglich, die Körper umzudrehen, um nach der Vorder- auch die Rückseite in Augenschein zu nehmen.
Schließlich wird die Leiche einer 19-jährigen Blondine mit den Maßen 90-90-0, früher Wirtschaftsstudentin an der Universität von Princeton mit den Hobbys Yoga und Reiten, zur Miss Tod gekrönt.
Ein atemberaubendes Finale voller Spannung und unerwarteter Wendungen.
Einziger Makel: Böse Zungen behaupten, der Juryvorsitzende habe vor der Ausscheidung ihre Gunst genossen.
R. Topor im Glarean Magazin
Alle Bilder © Roland Topor
Topor als Renfield mit Klaus Kinski in Werner Herzogs Nosferatu 1979
https://trueoutsider.wordpress.com/2012/01/14/roland-topor-1938-1997/