Sonntag, 15. Mai 2011

Theater hat auch eine verrückte Tante im Ensemble 4


Der Trinker (meist männlich) - es gibt ihn in drei, höchst unterschiedlichen, Variationen. 
Da wäre das trinkende Genie oder der geniale Trinker, fast alle Vertreter der übergeordneten Gruppe halten sich dafür, die wenigsten sind es. Er ist ein Mysterium, sein Gehirn, alkoholmariniert, produziert Grossartiges, selbst volltrunken, spricht er auf der Bühne klar und verständlich, seine Spieleinfälle sind unerklärbar und zauberhaft, seine Aura atemberaubend. Als Partner stellt er eine Herausforderung dar, ich erinnere mich, wie ein Kollege sich genüßlich verweigerte, mir einige für den Fortlauf des Stückes notwendige Informationen zu geben, die meiner Figur unmöglich bekannt seien konnten, und nicht weil er seinen Text nicht erinnerte, sondern aus kindlich bösartigem Vergnügen an der Provokation. Man wächst daran, auch wenn man sich gelegentlich beim Durchspielen phantasievoller und schmerzhafter Tötungsversuche erwischt. Er ist ein grandioser, unermüdlicher Kantinenclown und auf wunderbare Weise am nächsten Morgen um Punkt zehn probenfähig. Besitzer einer tiefinneren Traurigkeit, die er bekämpfen muss und koste es den Verstand. Wenn diese Ausnahmen, aus gesundheitlichen oder spirituellen Gründen, aufhören zu trinken, passiert oft Trauriges, sie strahlen nicht mehr, nurmehr ein Schatten ihres vormaligen ständig gefährdeten Selbst, werden sie ordentliche, brave Schauspieler. Dafür leben sie länger, als die die weitertrinken. Und die, die durchhalten, sprich weitersaufen, bezahlen einen hohen Preis, mit zunehmendem Alter und abnehmender Widerstandskraft des Körpers, rutschen sie in die zweite Kategorie: den gewöhnlichen Alkoholiker. Kommt er heute, oder nicht, in welchem Zustand?
Was soll man dazu sagen. Es ist eine Krankheit. Wir ignorieren es so gut oder schlecht es geht, reden nur ungern darüber. Ein kranker Mensch. Es gibt ihn in allen Professionen.
Und dann all die, die jeden Abend schnell mal 10 Bier trinken und die, die vor der Vorstellung ein Sektchen kippen und in der Pause und danach. Manchmal werden "trockene" Wochen eingelegt, Selbstexerzitien zur Selbstversicherung. Ein Beruf, wie unserer, in dem das Selbstwertgefühl in starkem Maße von einem schwerlich beeinflußbaren Außen bestimmt wird, gibt der Sehnsucht nach dem Rausch guten Boden. (Wobei ich hier nicht dem Vorurteil, alle Schauspieler seien Trinker und Hedonisten, das Wort reden will. Oder doch?)
 
Der Tod und der einsame Trinker
Eine Mitternachtscene.

"Guten Abend, Freund!"

        "Dein Wohl!"
"Wie geht's?"
        "Dein Wohl!"
"Schmeckt's?"
        "Dein Wohl!"
"Du zürnst mir nicht mehr?"
        "Dein Wohl!"
"Im Ernst?"
        "Dein Wohl!"
"Hab Dank!"
        "Dein Wohl!"
"Aber -"
        "Dein Wohl!"
"Zuviel!"
        "Dein Wohl!"
"Nun -"
        "Dein Wohl!"
"Wie du willst!"
        "Dein Wohl!"
"Narr!"
        "Dein Wohl"
"Genug!"
        "Dein -"

Christian Morgenstern

Viktor Oliva: Der Absinthtrinker (1901)

Filmtipp:
Ein Draufgänger in New York oder My Favorite Year, Film gedreht 1982 mit Peter O'Toole in der Hauptrolle, Regie: Peter Bejamin. Basierend auf Erlebnissen von Mel Brooks, dem Produzenten, als er für eine Unterhaltungsshow beim Fernsehen arbeitete und Errol Flynn, betrunken wie eine Raderhacke als Gast erschien. O'Toole ist brillant, er weiss wovon er spielt!



Radehacke: im gemeinen Leben einiger Gegenden, eine Haue oder Hacke, mit einer nach der Quere gehenden breiten Schärfe zum raden, d. i. reuten oder ausrotten, daher sie im Hochdeutschen richtiger Reuthaue heißt (Oeconomischen Encyclopädie 1773 - 1858 von J. G. Krünitz)
In der Online Enzyclopädie: »Nach dem Fusel biste blau wie ’ne Radehacke.« Abgeleitet vom Schwindelgefühl, das seit dem 16. Jh. in folgender Wendung ausgedrückt ist: »Mir wird blau (schwarz) vor Augen.« Der Betrunkene ist so voll wie die mit Erde, Unkraut und Wurzeln gefüllte Radehacke.
oder in "Die Richtigen Berliner in Wort und Redensarten": Die blanken Stellen bei neuen Rübenhacken waren immer blau gestrichen.

4 Kommentare:

  1. Eins meiner traurigsten Theatererlebnisse. Ein von mir sehr bewunderter, fast verehrter Schauspieler, knallt gegen die Wand der winzigen Nebenspielstätte, lacht verlegen, plumpst gerade noch auf das Sofa. Unsicherheit unten und oben. Er lächelt und schweigt. Er kapiert nicht, was die Souffleuse wispert, spricht, ruft. Er steht auf, wankt, fällt wieder ins Sofa. Er lächelt mit Angstaugen ins Publikum, bis ein Kollege die Sache irgendwie ins Weiterlaufen rettet.

    AntwortenLöschen
  2. Wenn sie nüchtern brave Schauspieler sind, dann haben sie leider das entscheidende für diesen Beruf, nämlich das Loslassen, nie gelernt.
    Ich glaube, dass die alle nüchtern viel besser sind, es weiß nur keiner, weil sie ja nüchtern nie einer erlebt hat. Erstrebenswert finde ich es nicht und fasziniert bin ich davon auch nicht...
    Sie glauben doch nur, dass Sie mit Alkohol besser sind, sie sind es aber nicht!

    AntwortenLöschen
  3. Ich wäre gerne Ihrer Meinung, aber es gibt halt viele Dinge zwischen Himmel und Bühnenbrettern. Dies ist kein Lob des Trunkes, nur ein Versuch der Beschreibung von Etwas, das ich beobachtet habe.

    AntwortenLöschen
  4. Alexander Höchst16. Mai 2011 um 22:11

    ‚Vielleicht komme ich ja noch mit runter...‘
    Die Vorstellung fängt an, die Maschine beginnt mit ihrer Arbeit. Ich werde ein Rad im Getriebe, das geschmiert werden muss, um nicht zu knirschen. Ich habe keine Wahl. Ich muss da raus... genau jetzt! Ein kleiner Schritt für die Zuschauer, ein großer Schritt für mich. Ich bin verrückt. Warum tue ich mir das an? Wenn ich längere Zeit nicht gespielt habe, ist er besonders groß. Wenn Routine ins Spiel kommt, wird er kleiner. Bisweilen ist er ein Katzensprung. Dann ist er fast nicht zu machen. Dieser Schritt macht mich lebendig. Er birgt das Scheitern den Tod in sich. Das Glück lässt nicht auf sich warten, wenn er getan ist. An den Fehltritt will ich nicht denken.
    ‚Vielleicht komme ich ja noch mit runter...‘, die letzten Worte, die ich in seinem selbst gewähltem Exil im dreizehnten Stock von meinem Vater hörte, bevor er jämmerlich mit seinen Moskovskaya Flaschen zugrunde ging und die Bühne für immer verließ. Und das ganz undramatisch...

    AntwortenLöschen