Mittwoch, 31. August 2016

Der Mensch, das Mensch, a Mensh

Der Mensch

Das Englische hat kein gleichwertiges Wort, human being meint das gleiche, wirkt auf mich aber ungelenker, mehr Definition als Name, wie auch das lateinische Homo sapiens. Ein Mensch wie schön das klingt, ein Klang wie  Matsch, Flunsch, Quatsch, aber weniger lautmalerisch, runder, vollendeter, es fehlt nichts, es muß nichts dazu. Es reimt sich auch auf kein anderes Wort unserer Sprache. 
Und wir nutzen es unbedacht in vielfältiger widersprüchlicher Art. 

Menschlich, wie ein Mensch handeln, auf gute Art.
Menschheit, sind wir alle, ein diffuser Begriff, alle ausschließend, die wir nicht als Menschen anerkennen.
Unmensch, ein Mensch, der nicht menschlich handelt.
Menscheln, ursprünglich, noch bei Grimm, sich menschlich zeigen, heute aber eher wie Gutmensch unangenehm besetzt.
Vermenschlichen, entweder Nichtmenschlichem menschliche Züge geben (Anthropomorphismus) oder etwas sympathischer, niedlicher machen.
Menschenskind!, Ausruf von amüsierter Hilflosigkeit oder Anrede für ein menschliches Kind.
Mensch Meier! Entspricht in etwa "Das kann doch nicht wahr sein!"
Entmenschen, jemanden seiner Menschlichkeit berauben.
Ditte Menschenkind, ein heute fast vergessener Roman von Martin Andersen Nexö, der mich als junge Leserin erschrocken hinterließ.
Ein Mensch, wie stolz das klingt! schrieb Maxim Gorki und konnte Stalin doch nicht widerstehen.
Und unser Goethe schrieb im Faust: "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein." 

Im Englischen wäre french als Reim auf Mensch möglich, und bench und wrench und stench, aber nur die Amerikaner nutzen das Wort und dann in einer ganz anderer Bedeutung, denn sie haben es von emigrierten Jiddischsprechern übernommen, die mit a mensch etwas völlig anderes meinten. (Siehe weiter unten.)
Übrigens, ist der Mensch männlich, aber bis wir uns genderneutral UND wohlklingend unterhalten können, wird wohl noch einige Zeit vergehen, lieber/liebe Mensch/-in oder besser Menschx?

Wiki definiert es so: Der Mensch (auch Homo sapiens, lat., verstehender, verständiger bzw. weiser, gescheiter, kluger, vernünftiger Mensch) ist nach der biologischen Systematik ein höheres Säugetier aus der Ordnung der Primaten (Primates). Er gehört zur Unterordnung der Trockennasenprimaten (Haplorrhini) und dort zur Familie der Menschenaffen (Hominidae).
Und etymologisch so: Das Wort ist eine Substantivierung von althochdeutsch mennisc, mittelhochdeutsch mennisch für „mannhaft“ und wird zurückgeführt auf einen indogermanischen Wortstamm, in dem die Bedeutung Mann und Mensch in eins fiel...

 
Das Mensch
Im Woyzeck fragt Marie den Woyzeck: Bin ich ein Mensch? und Andres fragt ihn: Wegen dem Mensch?

Laut Adelung:
In engerer Bedeutung, eine geringe Person weiblichen Geschlechtes, im verächtlichen Verstande. Ein armes Mensch. Ein böses, zanksüchtiges Mensch. Ein Frauensmensch, Weibsmensch. Besonders eine zu geringen Diensten verpflichtete weibliche Person, eine Magd, Ital. Massara; doch auch nur in der harten und verächtlichen Sprechart. Ein Dienstmensch, Küchenmensch, Kindermensch, Stubenmensch. Dem armen Menschen, (Mensche,) Gell. An den Höfen sind die Kammermenscher geringere Kammerbedienten, welche unmittelbar auf die Kammerdienerinnen folgen, und ihres geringen und verächtlichen Titels ungeachtet oft Figur genug machen. Die Kehrmenscher sind eben daselbst geringere weibliche Personen, welche die Zimmer auskehren. 

Mensch

Ebenfalls laut Adelung: In noch verächtlicherm Verstande pflegt man eine Hure in manchen Gegenden nur ein Mensch zu nennen; wo es zugleich ein Schimpfwort ist, welches auf Anbringen des Klägers gerichtlich geahndet wird. Engl. Wench, ein junges Mädchen, und eine Hure.

A Mensch, Mentsh, Mensh oder auch Mentsch
Ein Kompliment, vielleicht das größte, das man jemandem schenken kann: "Er ist a mensch." Er ist anständig, gut, hat ein großes Herz, er ist hilfreich, edel. Sei ein Mensch! 
Übrigens, vor dem schlimmen Krieg sprachen circa 12 Millionen Menschen Jiddisch. Heute sind es vielleicht noch der zehnte Teil davon.

A REAL MENTSH - Wie ein deutsches Wort über das Jiddische ins amerikanische Englisch fand
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/18359 
 
Im Jiddischen gibt es wunderbares Wort für Muttersprache - Mameloshn.

Montag, 29. August 2016

Gene Wilder ist tot - Ein Mensch

Der Arzt seiner herzkranken Mutter riet ihm, sie nie zu verärgern und sie möglichst oft zum Lachen zu bringen.

A true mensch. Der Mensch. Das Mensch. Ein mensch. Jemand der menschlich handelt. Unvorhersehbar, um Gutsein bemüht.

Kinofreak bin ich noch heute, aber Komödien, die mich zwingen zu lachen, gibt es seltener. Monty Python, David & Jerry Zucker, Mel Brooks alle aus dem Rennen.Wohin laufen sie denn?

Aus dem Nachruf der BBC auf Gene Wilder alias Jerome Silberman, er hat sich den unauffälligen amerikanischen Künstlernamen zugelegt, weil seiner Meinung nach, niemand einen Jerome Silberman für Hamlet engagieren würde:

mit Terry Carr
Veering between idiocy and apoplexy

Ein kleines Kino in einem Londoner Vorort, keine Ahnung mehr welches, aber wir waren lange unterwegs dorthin. Meine Mutter hatte in Time Out, dem Londoner TIP gelesen, dass frühe Mel Brooks Film dort lgezeigt wurden und vehement auf diesen/diesem Ausflug bestanden.  
Drei für eins, ein Ticket - drei Filme - The Producers (Springtime for Hitler), Blazing Saddles & Young Frankenstein - von 9 Uhr abends bis 2 Uhr morgens, ganz ohne Pause, hintereinander mit Popcorn und Cola und Schoko. Ich erinnere mich an den klebrigen Fußboden des Kinos, daran wie wenige Zuschauer anwesend waren und, dass ich, um drei Uhr früh, mit meinem ersten & einzigen Wangenmuskelkater, einer Unterform des Lachkrampfes. auf die nachtdunkle Strasse stolperte. 
Mel Brooks und Gene Wilder ein psychotisches Traumpaar, Brooks schrieb und inszenierte, Wilder wahnsinnigte sich durch seine schrägen Komödien, die mit Slapstick, jüdischer Paranoia & blitzschnellem Wortwitz die Filmmythen der westlichen Welt verdrehten, verschoben, zurechtrückten. Und immer war da ein subterraner Zorn, eine Wut, die nur im lauten Lachen seine Rettung finden konnte.
Es gab böse Deutsche mit abartigem teutschen Akkkzent und der Neigung zum Hitlergruß, Frauen, die in Ekstase in Gesang ausbrachen, ängstliche Helden, deren Naivität sie letztendlich unbesiegbar machte.

Dr. Frederick Frankenstein: You know, I'm a rather brilliant surgeon. Perhaps I can help you with that hump.

Igor: What hump?
 
Die Haushälterin in Frankensteins Schloß hieß Frau Blücher und bei Nennung ihres Namens wieherten, natürlich, stets Pferde. Der neue Sheriff von Rock Ridge in Blazing Saddles ist schwarz und ganz in weißes Gucci-Leder gekleidet (Richard Pryor) und nur er weiß nicht, dass das ein Problem sein könnte. 

Jim: [consoling Bart] What did you expect? "Welcome, sonny"? "Make yourself at home"? "Marry my daughter"? You've got to remember that these are just simple farmers. These are people of the land. The common clay of the new West. You know... morons.

Die endlosen Bohnen, die Cowboys in Westernfilmen essen, zeigten endlich einmal die erwartete Wirkung. Ja, ich liebe diese Furzszene. Und dann, nach Sein oder Nichtsein, mein zweites Zusammentreffen mit einer Komödie über Hitler. Ein in New York untergetauchter Nazi schreibt ein Stück über sein Idol und wir erleben die Umformung seiner Eloge in ein Broadway-Musical der schrägsten Art. Einen schwuleren Hitler gab es nie und einen antifaschistischeren Klamauk auch nicht.

Später kam noch Willie Wonka und die Schokoladenfabrik, so sehr viel besser als Tim Burtons Remake, unbemühter, wahnsinniger, gemeiner, rührender.



Willy Wonka: But Charlie, don't forget what happened to the man who suddenly got everything he always wanted.

Charlie Bucket: What happened?

Willy Wonka: He lived happily ever after. 


Kurze Nebenbemerkung: Zero Mostel, Max Bialystock, der Partner von Gene Wilder in The Producers, ein großer jüdischer Komiker, war jahrelang blacklisted, oder verdeutscht mit Berufsverbot belegt vom McCarthy-Untersuchungsausschuß.


There's a kind of silliness in the theater about what one contributes to a show. The producer obviously contributes the money… but must the actor contribute nothing at all? I’m not a modest fellow about those things. I contribute a great deal. And they always manage to hang you for having an interpretation. Isn’t [the theater] where your imagination should flower? Why must it always be dull as shit?
  
Es gibt eine Blödheit im Theater darüber, wer was zu einer Show beiträgt. Der Produzent bringt offensichtlich das Geld... aber darf der Schauspieler gar nichts beitragen? Ich bin kein bescheidener Kerl was diese Dinge betrifft. Ich trage eine Menge bei. Und sie schaffen es immer dich für eine Interpretation zu hängen. Ist das Theater nicht der Ort wo deine Phantasie blühen sollte? Warum muß es immer so irre langweilig sein?

Wenn Gott lebendig macht, tut er das, indem er tötet


Wenn ich also auf irgendeine Weise verstehen könnte, wie dieser Gott barmherzig und gerecht sein kann, der so viel Zorn und Ungerechtigkeit an den Tag legt, wäre der Glaube nicht nötig.


Herr Luther schreibt einen Text in Reaktion auf Worte des Erasmus von Rotterdam und ich lese und denke eine bessere Begründung für meinen Nichtglauben ist fast nicht möglich. Ich kann es auch so formulieren, wenn Luther recht hat, will ich keine Seligkeit. Wenn Gott Demütigung, Selbstaufgabe und unbedingten Glauben wider alle Verstehbarkeit verlangt, will ich ihm ungehorsam sein.
Oder wie es Stephen Fry auf die Frage was er, tot und im Himmel angekommen zu Gott sagen würde, formulierte: "Knochenkrebs bei Kindern, was soll das?"
Ich bemerke mein Atheismus wird mit den Jahren wütender. Aber viele, die ich mag, glauben auf verschiedenste Weise und, ich werde den Teufel tun, ihnen das übel zu nehmen.

Übrigens mochten beide Juden nicht, eine chistliche Krankheit der häufigen Art, aber der eine gab der Vernunft Raum und Grund und gestand damit dem Menschen einen freien Willen zu. Aber der andere, der unsere, der in diesem Jahr so sehr gefeierte ...

Martin Luther - VOM UNFREIEN WILLEN 

oder 

De servo arbitrio - Über den geknechteten Willen 1525
 
EIN KURZER AUSZUG:
 
Wenn wir glauben, es sei wahr, daß Gott alles vorherweiß und vorherordnet, dann kann er in seinem Vorherwissen und in seiner Vorherbestimmung weder getäuscht noch gehindert werden, dann kann auch nichts geschehen, wenn er es nicht selbst will. Das ist die Vernunft selbst gezwungen zuzugeben, die zugleich selbst bezeugt, daß es einen freien Willen weder im Menschen noch im Engel, noch in sonst einer Kreatur geben kann.
...  
 
Erstens: Gott verheißt den Demütigen, das heißt denen, die an sich verzweifelt sind und sich aufgegeben haben, mit Bestimmtheit seine Gnade. Ganz und gar aber kann sich kein Mensch eher demütigen, bis daß er weiß, daß seine Seligkeit vollständig außerhalb seiner Kräfte, Absichten, Bemühungen, seines Willens und seiner Werke gänzlich von dem Belieben, Beschluß, Willen und der Tat eines anderen, nämlich Gottes allein, abhänge. Wenn er nämlich im Vertrauen auf sich selbst bleibt — und das tut er so lange wie er sich einbildet, er vermöge auch noch so wenig für seine Seligkeit zu tun — und nicht von Grund auf an sich verzweifelt, so demütigt er sich deswegen nicht vor Gott, sondern vermutet oder hofft oder wünscht wenigstens Gelegenheit, Zeit oder irgendein gutes Werk, dadurch er dennoch zur Seligkeit gelange. Wer aber wirklich nicht daran zweifelt, daß alles vom Willen Gottes abhänge, der verzweifelt völlig an sich selbst, wählt nichts eigenes, sondern erwartet den alles wirkenden Gott. Der ist am nächsten der Gnade und der Seligkeit. Deshalb werden um der Auserwählten willen diese Lehren gepredigt, damit sie — auf diese Weise gedemütigt und zunichte geworden — selig werden. Die übrigen widerstehen dieser Demütigung, ja sie verurteilen sogar diese Verkündigung der Verzweiflung an sich selbst, sie wollen, daß ihnen wenigstens ein ganz klein wenig übrig gelassen werde, das sie selbst vollbringen können. Das ist, sage ich, der eine Grund: daß die Frommen die Verheißung der Gnade in Demut erkennen, anrufen und empfangen.

Der andere Grund ist, daß der Glaube es mit den unsichtbaren Dingen zu tun hat (Hebr. 11, l). Damit also dem Glauben Raum gegeben werde, ist es notwendig, daß alles was geglaubt wird, sich unsichtbar mache. Er kann sich aber nicht gründlicher unsichtbar machen als unter dem Gegensatz zur Empfindung und Erfahrung, wie er hier vorliegt. So zum Beispiel: wenn Gott lebendig macht, tut er das, indem er tötet, wenn er gerecht macht, tut er das, indem er schuldig macht, wenn er in den Himmel bringt, tut er das, indem er zur Hölle führt, so wie die Schrift sagt (l. Sam. 2, 6): "Der Herr tötet und macht lebendig, führt in die Hölle und wieder heraus". ... So verbirgt er seine ewige Güte und Barmherzigkeit unter ewigem Zorn, Gerechtigkeit unter Ungerechtigkeit. Hier liegt die höchste Stufe des Glaubens vor: zu glauben, daß er gnädig ist, der so wenige rettet und so viele verdammt, zu glauben, daß er gerecht ist, der durch seinen eigenen Willen uns notwendig verdammenswert macht, so daß es scheint, wie Erasmus sagt, daß er an den Qualen der Unglücklichen Gefallen habe und mehr Haß als Liebe verdiene. Wenn ich also auf irgendeine Weise verstehen könnte, wie dieser Gott barmherzig und gerecht sein kann, der so viel Zorn und Ungerechtigkeit an den Tag legt, wäre der Glaube nicht nötig. Jetzt, da es nicht begriffen werden kann, wird Raum, den Glauben zu entfalten, indem solches gepredigt und allgemein bekannt gemacht wird, ganz wie, wenn Gott tötet, der Glaube an das Leben, im Tode geübt wird. 
 

Sonntag, 28. August 2016

Huldigung an meine Hüften

Dieser Tage bewegt sich viel nackte weibliche Haut auf unseren Strassen. kleine Röckchen, kleine Höschen, kleine Tops, egal was, nur möglichst wenig davon,
es ist eben heiß in Berlin. Dazu Flipflops allüberall, das heißt: Badelatschen, 
egal wie schick der Name tut. (Über den Stil der Berlinerin oder ihren 
enttäuschenden Mangel an Stil müssten wir auch mal reden, aber nicht heute.)

Heute geht es mir ums GEHEN. Ich gehe. Ich bewege mich, meinen Körper in der Welt.

Mit 14 habe ich Röcke gehaßt, Jeans und flacheste Schuhe waren meine rebellische Uniform. Ich bin geschlurft, getrottet, getrampelt in pubertärer Bemühung um Coolness, auch wenn ich das Wort damals, 1972, noch nicht kannte. Nun ja, das geschlechtsunspezifische Kind war halt noch nicht ganz abgetreten und die Frau noch nicht vollständig anwesend. In einem ihrer letzten Erziehungsaufgebote, entschied meine Mutter, dass ich dreimal die Woche einen Rock zu tragen hätte mit den dazu passenden Schuhen. Zugegebener Maßen kam es zu diesem Verdikt, nachdem ich ich ihr mehrmals auf den Fuß gelatscht war, weil ein Heben des Beines mir gar zu aufwendig erschien. Was habe ich sie für diese Maßnahme gehaßt. Aber, Mist, Mist, sie hatte Recht. Ich lernte es zu gehen, meinen Körper beim Gehen zu fühlen. 
Da sind Füße, die, je nach Absatzhöhe in spezifischen Kontakt mit dem Boden treten, Knöchel, Waden, Knie, Oberschenkel und Hüften, gemeinsam agierend, um Fortbewegung möglich zu machen, und der Oberkörper obendrüber verhält sich dazu. 
Ein schöner Gang. Was ist das? Er kommt aus der Mitte. Er genießt sich. Er ist bequem und schön.
Aber was sehe ich tagtäglich? Hinreißend hübsche junge Damen, die mit festen Hüften und steifen Beinen durch die Gegend staksen, Füße einwärts, mit Rundrücken und unbeweglichen Schultern. Jede achtzigjährige Italienerin könnte ihnen mühelos den Gang oder Rang ablaufen. Da wiegt nichts, da schwingt nichts. Und nur um Mißverständnissen vorzubeugen, Schöngehen ist nicht primär ein Mittel zur Anlockung möglicher Sexualpartner, sondern eine Einverständniserklärung mit dem eigenen Körper. Eine Freundin, 71, und nicht auf Männerjagd, geht so wie ein Schwan schwimmt und es ist eine wirkliche Freude sie gehen zu sehen.

In meiner Gegend in Mitte könnte man/frau gut lustwandeln, aber dafür müßte man/frau ihren Körper kennen und mögen und ihn nicht wie ein notwendiges Übel durch die Gegend schleppen. Wozu bekleidet sich Mann/Frau so angestrengt sexy, wenn der Gang nur Körperfremdheit vermittelt?

John Travolta walks the walk in "Saturday Night Fever"


huldigung an meine hüften

diese hüften sind breite hüften
sie brauchen platz um sich
darin zu bewegen.
sie passen nicht an
belanglose orte, diese hüften
sind freie hüften..
sie mögen es nicht zurückgehalten zu werden
diese hüften waren nie versklavt,
sie gehen wohin sie gehen wollen
sie tun was sie tun wollen.
diese hüften sind mächtige hüften.
diese hüften sind sind magische hüften.
ich habe erlebt wie sie
einen mann verzaubert haben und
ihn wie einen kreisel herumwirbelten!

homage to my hips

these hips are big hips
they need space to
move around in.
they don't fit into little
petty places. these hips
are free hips.
they don't like to be held back.
these hips have never been enslaved,
they go where they want to go
they do what they want to do.
these hips are mighty hips.
these hips are magic hips.
i have known them
to put a spell on a man and
spin him like a top!
 
Lucille Clifton 
Frau, die Treppe herabgehend
Gerhard Richter
1965  
198 cm x 128 cm Werkverzeichnis: 92
Öl auf Leinwand

Donnerstag, 25. August 2016

Meseberg, Lindow, Neuglobsow, Rheinsberg, Gransee - Das Ruppiner Land

Ein plötzlicher, glorioser Spätsommerausbruch und wir fahren ins Brandenburgische 

Gelbe Reisetasche packen, Navi an, eine Stunde fahren und ich bin, wiedermal in einer bekannt-unbekannten Welt, im Nordwesten Brandenburgs, dem Ruppiner Land: weite Felder, Wiesen, leicht hügelig, viele Wälder, noch mehr Seen, Geschenken der letzten Eiszeit, dazwischen kleinste und etwas größere Dörfer und sobald man von der 96 runterfährt, Alleen. In jedem Dorf eine Kirche, deren hier und da noch sichtbare Feldsteinvergangenheit durch barocke Umbauten verwirrt worden ist. Ich liebe die vereinzelten "verbretterten" Türme.

Meseberg, ein ganz kleines Dorf zur Gemeinde Gransee gehörig; ein paar wenige Häuschen, ein Dorfwirt, ein Schloß - Gästehaus der Regierung, aber erstaunlich unmartialisch geschützt - und ein kleines feines Hotel. Das Schloß hat strenge, klare Linien, viel offene Fläche drumrum und hier und da einen barock beschnittenen Baum. Als wir im Hotel ankamen war Frau Merkel aus dem Schloß gerade abgereist. Es war sehr ruhig, bis auf drei fleißige Leute, die unentwegt und mit manischer Präzision den Rasen um das Schloß mähten, denn am Freitag kommt das Verteidigungsministerium!
Ein Weinberg, Apfelbäume mit Ästen, die unter der Last roter Äpfel angestrengt schwer gen Erde hängen und es hat auch einen See, der Huwenowsee, man kann ihn in anderthalb Stunden auf einem laubüberschatteten Pfad umrunden und in ihm baden. Er ist trüb und kühl und ganz weich.


Angela Merkel bei der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg. (Quelle: dpa)
 
"Schloss Meseberg war ein kostbarer Besitz. Wie ein Zauberschloss liegt es auch heute noch da."
Theodor Fontane


Lindow umgeben von drei Seen: dem Wutzsee, dem Gudelacksee und dem Vielitzsee. Bäume, schöne Bäume, viele Bäume, Buchen, Eichen, Kastanien (Die Miniermotte scheint deutlich zurückgedrängt, wenn auch nicht verschwunden.) und Ahorn mit auffällig großen Blättern. Gefallene Bäume werden nur zersägt und aus dem Weg geräumt, und liegen dann "gefällt wie ein Baum" in der Gegend herum. Gigantische Leichen oft noch mitsamt ihrer meterweiten Wurzelballen.


Zwischen Lindow & Merseberg liegt ein Dorf, das heißt Keller. In einem Buch über brandenburgische Kirchen fand ich folgendes gänzlich unpassende Zitat:
 
"Alle Religionen Seindt gleich und guht wan nuhr die leüte so sie profesiren Erliche leüte seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land Pöpliren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen."
Rand-Verfügung des Königs Friedrich II. von Preußen 
zum Immediat-Bericht des General-Directoriums. Berlin 1740 Juni 15 






Auf einer Tafel am Eingang zu den Ruinen des Klosters und späteren "Landesherrlichen Fräuleistiftes" LindowLindow war eines der reichsten Köster in der Mark Brandenburg. Der Landsitz betrug 90 000 Morgen und 18 Dörfer, 20 wüste Feldmarken, neun Wassermühlen, etliche Fichteiche und Seen bis zum Großen Stechlinsee.
Was wohl wüste Feldmarken sein mögen? Verlassene, wüste, verwüstete Stätten?
 






Demmeln auf dem Wutzsee. Ich habe mit einer Freundin gedemmelt, deren Ehemann aus Thüringen stammt. Wiki sagt: Ilmthüringisch ist eine thüringische Mundart, die im Gebiet Katzhütte-Rudolstadt-Jena-Stadtroda-Nebra-Weimar-Stadtilm-Gehren gesprochen wird und demmeln bedeutet im ilmthüringischen Dialekt halt treten. Als bin ich nicht Tretboot gefahren, eine selten dämliche Fortbewegungsart, sondern ich habe gedemmelt. Ist ein bisschen wie irischer Tanz, Lord of the Dance und so, obenrum sieht man entspannt aus und unten wird gedemmelt.



 Rheinsberg
Edles Schloß, Freilichtopernaufführungen nur bis Mitte August, es war heiß.

Neuglobsow am Stechlinsee


Betonkunst
So ein besonders schöner See, ganz klar. Ein Strandbad, sonst ist das Ufer unbesiedelt, hier und da kleine, wilde Badestellen, manche Menschen sind bebadeanzugt, manche nackt, wen scherts. An unserer befand sich die Wohnstelle einer Barschfamilie, die ihren Unmut ob unsrer Anwesenheit deutlich machte, indem sie sich weigerten wegzuschwimmen. Auf dem Rückweg ein herrliches Mittag in einer Fischbraterei, die Stechlinfisch auf die einfachste und beste mögliche Art anrichtet.
 




Ein Baummonster

Baummonster züngelnd in Nahaufnahme

Gransee

Eine feine Kirche. 140 Stufen auf einen der Kirchtürme sind trotz Raucherlunge ein lohnender Aufstieg. Unsere Begleiterin, Kirchenführerin auf 400 Euro Basis hat fast eine Stunde mit uns auf dem Kirchturm verbracht. Eine kleine hübsche Frau, der erste Mann starb fünf Monate nach der Geburt des zweiten Kindes, der zweite Mann, eine Notlösung hat sie nach Gransee gebracht, war aber nicht das Richtige. Die Söhne sind klug und arbeitsam. Sie darf nicht mehr "mit den Händen" arbeiten wegen eines Augenleidens, aber sonst gibt es hier keine Arbeit. Und sowieso verdient niemand mehr als 1000 Euro, wie soll man damit eine Familie ernähren. Gottseidank hat sie ihre Witwenrente. Bald zieht sie hier weg nach Magdeburg.























Montag, 22. August 2016

Abhauen - Damals als DDR-Bürger noch Flüchtende waren

Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.
Victor Klemperer LTI

"Der ist abgehauen." In der DDR ein bleischwerwiegender Satz, endgültiger war nur: er ist auf der Flucht erschossen worden, also tot, oder erwischt worden, also auf unbestimmte Zeit in einem ostdeutschen Gefängnis eingesperrt.
Ein Besuch in der Gedenkstätte Hohenschönhausen ist übrigens sehr zu empfehlen, wenn man eine Vorstellung von den Zuständen in solchen Institutionen bekommen will.
Eine Freundin hat dann neulich gesagt, dass das Wort "abhauen" so einen komisch negativen Beigeschmack hat, es schließt 'jemanden verlassen' ein, Rücksichtslosigkeit. Ist uns Dagebliebenen da etwas unterlaufen? 

Fast jeder von uns hat einmal mit dem Gedanken ans Wegmachen gespielt und unsere Gründe es nicht zu tun, waren vielfältig.
Aber haben wir vielleicht unser schlechtes Gewissen, weil wir blieben, den Neid auf den Mut derer, die geflohen sind, haben wir diese ambivalenten Gefühle, ohne es selbst zu bemerken, in diesem Verb versteckt? Gerade jetzt, wo es in den Medien allüberall so komplizierte Diskussionen über die Macht von Wörtern gibt, zum Beispiel ob man Bei-Uns-Asylsuchende als Flüchtlinge oder Geflüchtete bezeichnen sollte, finde ich so einen Gedanken nicht weit hergeholt.
Wir hätten ja auch sagen können: "Er ist entkommen."

Noch einmal Victor Klemperer diesmal aus einem Aufsatz über sein Buch LTI (Lingua Tertii Imperii): Man zitiert immer wieder TALLEYRANDs Satz, die Sprache sei dazu da, die Gedanken des Diplomaten (oder eines schlauen und fragwürdigen Menschen überhaupt) zu verbergen. Aber genau das Gegenteil hiervon ist richtig. Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag. Die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein - im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen.

 
Victor Klemperer: Die unbewältigte Sprache, Darmstadt 1966 


https://www.amazon.de/Reclam-Bibliothek-Band-278-Klemperer-Philologen/dp/3379001252/ref=sr_1_2?ie=UTF8&qid=1471898677&sr=8-2&keywords=lti

ABHAUEN

transitiv: etwas abschlagen, abtrennen (starke und schwache Konjugation: hieb/ haute ab und abgehauen/ abgehaut) 

intransitiv: sich entfernen, davonmachen (Präteritum nur schwache Konjugation: haute; Partizip II abgehaut oder abgehauen)

ddrisch: illegal das Hoheitsgebiet der DDR verlassen, um in die BRD umzusiedeln, siehe auch Rübermachen

Aus dem Buch: Schlüsselwörter der Wendezeit

Bezeichnungen im Rahmen des Themas „Das Verlassen der DDR durch DDR-Bürger als eine Massenerscheinung der frühen Wendezeit"

fliehen, flüchten, Flucht, Flüchtling
übersiedeln, Übersiedlung, Übersiedler
ausreisen, Ausreise
(die DDR) verlassen
weggehen, Weggang, weglaufen, wegmachen, wegrennen, wegziehen, Wegzug
abwandern, Abwanderung
Exodus
ausbürgern, Ausbürgerung
(der DDR) den Rücken kehren
in den Westen gehen
auswandern, Auswanderung
ausweisen, Ausweisung
abhauen
Abstimmung mit den Füßen
davonlaufen
türmen
rübergehen, rübermachen
ausreißen, Ausreißer
aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen, Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR
flitzen
Zur Erinnerung ein Bild, das einen der vielen Gründe zeigt, warum man dort wegwollte.

© picture alliance / dpa

Die „Schlüsselwörter der Wendezeit“ (Herberg/Steffens/Tellenbach 1997) wurden in den Jahren 1993-1996 am Institut für Deutsche Sprache mit dem Ziel erarbeitet, den öffentlichen Sprachgebrauch der Wendezeit in der DDR und in der Bundesrepublik konsequent korpusbezogen und textdokumentativ darzustellen. Es handelt sich um ein textorientiertes, d.h. auf der Basis eines definierten Textkorpus des Wendekorpus erarbeitetes Buch, das den öffentlichen Gebrauch ausgewählter Lexeme in einem bestimmten Zeitabschnitt der Wendezeit darstellt, erläutert und dokumentiert. Dennoch ist es kein „Wörterbuch“ im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr ein „Buch über Wörter“.

Sonntag, 21. August 2016

Theater hat auch eine Strichfassung

Zweimal in meinem Leben habe ich Theater gesehen, das länger dauerte als üblich und war glücklich.
Peter Brooks "Mahabarata", acht Stunden in einem Straßenbahndepot in Franfurt/Main nach einem schlaflosen Tag, dargeboten in Französisch, einer Sprache, derer ich nicht mächtig bin, und es war trotzdem zu kurz. Bis zum heutigen Tag sind die Bilder dieses Abends, dieser Nacht in meinem Gedächtnis klar und deutlich, prägend. Abgeschossene Pfeile, die von Mitspielern ins Ziel getragen werden, rote längliche Tuchstreifen als Blutströme. Zelebrierte Gewalt. Heute macht das jeder, oder schon nicht mehr, damals war es erschütternd neu. 
Jan Fabres "Mount Olympos", noch immer begreife ich nur ungenau, was mit mir dort geschehen ist. Es war anders, wahrhaftig, auwühlend. Eine Erschütterung gänzlich unabhängig von Dauer und Ort.



Diese beiden Abende habe ich wirklich gesehen, manch andere genossen, einige ertragen, viele andere durchlitten. Lange, zu lange Abende, obwohl manche nur 'ne Stunde dauerten. "Als ich nach fünf Stunden auf die Uhr schaute, war es fünf nach sieben." schrieb einmal ein Kritiker. Zeit im Theater ist ein verwirrendes Phänomen, sie schrumpft oder sie dehnt sich, gänzlich unabhängig von der realen Zeit. Kurz ist lang. Lang zu kurz.
 
Ältere Stücke sind meist wortreich. Vier oder sechs Stunden Spielzeit sind nicht ungewöhnlich. Zu lang, für mich und meine kurzfristig konzentrierten Mitmenschen.
Das ist das eine. Das andere ist die nötige Qual der Wahl. Was interessiert mich heute, jetzt? Großartige Dramen erzählen viele Geschichten und wenn ich streiche, eleminiere ich manche, vielleicht sogar die wichtigsten. Ich tue dem Werk Gewalt an. Ich unterwerfe es mir. Ungeheuerlich und unverschämt, doch unvermeidlich.
Seit Tagen grüble ich über der "Penthesilea". Kein schöner Stück in dieser Zeit....
Fast 25 000 Wörter, Worte, Phantasmen, Wunder. Vor einigen Jahren habe ich mich schon einmal an diesem Stück versucht, mit einer ganz jungen Schauspielergruppe, ein geliebter und gänzlich erfolgloser Abend. Bei der dritten Vorstellung sagte ich, weil nur acht Zuschauer uns zuschauen wollten, die Vorstellung ab. Eine Stunde später war ich so betrunken, wie nie seitdem.
Diesmal: Sechs Spieler, jeweils drei Männer und Frauen erzählen die Geschichte, Held und Heldin, Ideologe bzw. Ideologin und zwei gänzlich verschiedene Fußsoldaten. Minimalismus zur Verdichtung.
Der wahnwitzige Parteitag der Republikaner, jeder Monolog eine one-man-show & das Photo, das Barack Obama, Hillary Clinton und andre zum Zeitpunkt der Tötung Osama bin Ladens im "Situations Raum" des Weissen Hauses zeigt. Die archaische und gleichzeitig durchdigitalisierte Kriegsführung der ISIS-Kämpfer. Der Die Welt und ihre Kriege sind unüberschaubarer und unverständlicher geworden. Wer haßt wen warum?





© Pete Souza

Was bleibt. Gestern und heute und morgen: Die Liebe ist eine Katastrophe, sie erschüttert den als absolut notwendig erachteten Lauf der Dinge.

Vom giftigsten der Pfeile Amors sei,
Heißt es, ihr jugendliches Herz getroffen.
Von Amors Pfeil getroffen – wann? Und wo?
Die Führerinn des Diameantengürtels?
Die Tochter Mars, der selbst der Busen fehlt,
Das Ziel der giftgefiederten Geschosse?
O sie geht steil bergab den Pfad zum Orkus!
Und nicht dem Gegner, wenn sie auf ihn trifft,
Dem Feind' in ihrem Busen wird sie sinken.
Uns alle reißt sie in den Abgrund hin.

Die Liebe. Ultimative Gefährdung. Sie anerkennt keine Ordnung. Make war, not love.
Das ist kein Stück über Frauen geschrieben aus überlegen wissender Männersicht, sondern ein genderfreies Sehnsuchtsspiel um einen ersehnten, unlebbaren Traum. Dass es möglich wäre unsere ursprüngliche lebendige Natur in Einklang mit der Welt, der Ordnung in der wir leben, mit dem Staat. Einen Gleichklang zu finden, ein lebbares Maß. Nicht mehr fremd zu sein in uns und in der Welt.

Freitag, 19. August 2016

Worüber Heinrich von Kleist womöglich kicherte

Offiziell heißen die kurzen Texte Anekdoten, und wurden zwischen dem  
1. Oktober 1810 und dem 30. März 1811 in den Berliner Abendblättern, die Kleist gemeinsam mit Julius Eduard Hitzig herausbrachte, veröffentlicht. Ich würde sie erzählte böse Witze nennen, obwohl Kleist manchmal merkwürdigerweise gegen Ende noch erklärt, was daran witzig ist.

Marianne Schuler allerdings definiert das Wort Anekdote so, dass die Bezeichnung gänzlich Sinn macht.
Es ist als hätte Kleist das griechische Wort an–ekdota beim Wort genommen, das übersetzt »nicht Herausgegebenes« heißt. Als Bezeichnung für eine Textgattung ist der Terminus »Anekdote« 550 n. Chr. von dem griechischen Geschichtsschreiber Procopius eingesetzt worden: Unter dem Titel »Anekdota« hat Procopius Aufzeichnungen über den (schlechten) Charakter und das (lasterhafte) Leben des Kaisers Justitian und der Kaiserin Theodora versammelt, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Die Anekdote bildet danach eine Art Fußnotentext zur offiziellen Geschichtsschreibung. Als Herausgeber einer Tageszeitung gibt Kleist hingegen eine Anekdote heraus, die keineswegs vorenthält, was andern, geheimen, sozusagen polizeilichen Orts aufgezeichnet und gewußt wäre. Vielmehr schreibt Kleist diesen heimlich–unheimlichen Ort als Ab–Grund des Schreibens seiner Anekdote selbst ein. Wie der Anekdote Kleists dieser der Darstellung und dem Wissen unzugängliche Ort eingeschrieben ist, so erscheint die Anekdote innerhalb der Tageszeitung vielleicht als jene wolkige Stelle, die dem feststellenden Polizeibericht wie dem Bericht über die Tagesbegebenheiten ins Wort fällt.

Tagesbegebenheit

Dem Kapitän v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauentzien, sagte der, auf der neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz: der Baum, unter dem sie beide ständen, wäre auch wohl zu klein für zwei, und er könnte sich wohl unter einen andern stellen. Der Kapitän Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellte sich wirklich unter einen andern: worauf der &c. Brietz unmittelbar darauf vom Blitz getroffen und getötet ward.


Dieselbe Begebenheit, gänzlich anders beschrieben in der Vossischen Zeitung vom 2. Oktober:

Am 29sten Septbr., Nachmittags um 3 1/2 Uhr, ließ sich bei einem starken Gewitterregen unvermutheth ein einziger starker Donnerschlag über die Stadt hören. Dreißig Schritt von einem Hause, das mit einem Blitzableiter versehen ist, schlug der Wetterstrahl in eine Pappel auf der neuen Promenade, die nach dem Haakschen Markte führt, streifte auf einer Seite des Baumes die Rinde von der Krone bis 3 Fuß von der Erde glatt ab, und erschlug einen Mann, der sie umklammert hielt. Der Unglückliche starb auf der Stelle und hinterläßt eine Witwe und 3 Waisen.
 


Ansicht des Hackischen Marktes mit Blick zu Marienkirche 1780


Mutterliebe

Zu St. Omer im nördlichen Frankreich ereignete sich im Jahr 1803 ein merkwürdiger Vorfall. Daselbst fiel ein er toller Hund, der schon mehrere Menschen beschädigt hatte, über zwei, unter einer Haustür spielende, Kinder her. Eben zerreißt er das jüngste, das sich, unter seinen Klauen, im Blute wälzt; da erscheint, aus einer Nebenstraße, mit einem Eimer Wasser, den sie auf dem Kopf trägt, die Mutter. Diese, während der Hund die Kinder losläßt, und auf sie zuspringt, setzt den Eimer neben sich nieder; und außerstand zu fliehen, entschlossen, das Untier mindestens mit sich zu verderben, umklammert sie, mit Gliedern, gestählt von Wut und Rache, den Hund: sie erdrosselt ihn, und fällt, von grimmigen Bissen zerfleischt, ohnmächtig neben ihm nieder. Die Frau begrub noch ihre Kinder und ward, in wenig Tagen, da sie an der Tollwut starb, selbst zu ihnen ins Grab gelegt.


Charité-Vorfall

Der von einem Kutscher kürzlich übergefahrne Mann, namens Beyer, hat bereits dreimal in seinem Leben ein ähnliches Schicksal gehabt; dergestalt, daß bei der Untersuchung, die der Geheimerat Herr K., in der Charité mit ihm vornahm, die lächerlichsten Mißverständnisse vorfielen. Der Geheimerat, der zuvörderst seine beiden Beine, welche krumm und schief und mit Blut bedeckt waren, bemerkte, fragte ihn: ob er an diesen Gliedern verletzt wäre? worauf der Mann jedoch erwiderte: nein! die Beine wären ihm schon vor fünf Jahr, durch einen andern Doktor, abgefahren worden. Hierauf bemerkte ein Arzt, der dem Geheimenrat zur Seite stand, daß sein linkes Auge geplatzt war; als man ihn jedoch fragte: ob ihn das Rad hier getroffen hätte? antwortete er: nein! das Auge hätte ihm ein Doktor bereits vor vierzehn Jahren ausgefahren. Endlich, zum Erstaunen aller Anwesenden, fand sich, daß ihm die linke Rippenhälfte, in jämmerlicher Verstümmelung, ganz auf den Rücken gedreht war; als aber der Geheimerat ihn fragte: ob ihn des Doktors Wagen hier beschädigt hätte? antwortete er: nein! die Rippen wären ihm schon vor sieben Jahren durch einen Doktorwagen zusammen gefahren worden. – Bis sich endlich zeigte, daß ihm durch die letztere Überfahrt der linke Ohrknorpel ins Gehörorgan hineingefahren war. – Der Berichterstatter hat den Mann selbst über diesen Vorfall vernommen, und selbst die Todkranken, die in dem Saale auf den Betten herumlagen, mußten, über die spaßhafte und indolente Weise, wie er dies vorbrachte, lachen. – Übrigens bessert er sich; und falls er sich vor den Doktoren, wenn er auf der Straße geht, in acht nimmt, kann er noch lange leben.


Anekdote


Zwei berühmte englische Boxer, der eine aus Portsmouth gebürtig, der andere aus Plymouth, die seit vielen Jahren von einander gehört hatten, ohne sich zu sehen, beschlossen, da sie in London zusammentrafen, zur Entscheidung der Frage, wem von ihnen der Siegerruhm gebühre, einen öffentlichen Wettkampf zu halten. Demnach stellten sich beide, im Angesicht des Volks, mit geballten Fäusten, im Garten einer Kneipe, gegeneinander; und als der Plymouther den Portsmouther, in wenig Augenblicken, dergestalt auf die Brust traf, daß er Blut spie, rief dieser, indem er sich den Mund abwischte: brav! – Als aber bald darauf, da sie sich wieder gestellt hatten, der Portsmouther den Plymouther, mit der Faust der geballten Rechten, dergestalt auf den Leib traf, daß dieser, indem er die Augen verkehrte, umfiel, rief der letztere: das ist auch nicht übel –! Worauf das Volk, das im Kreise herumstand, laut aufjauchzte, und, während der Plymouther, der an den Gedärmen verletzt worden war, tot weggetragen ward, dem Portsmouther den Siegsruhm zuerkannte. – Der Portsmouther soll aber auch Tags darauf am Blutsturz gestorben sein.

Boxer
Britisch, 18. Jahrhundert
ART BY CHARLES REUBEN RYLEY / ENGRAVED BY J. GROZER