Dienstag, 2. April 2019

Über die Schönheit ein Essay von Susan Sonntag

Über die Schönheit  
Neun Thesen - statt einer Definition 
von Susan Sontag  


1. Als Papst Johannes Paul II. im April zu den sexuellen Übergriffen katholischer Priester in den USA endlich Stellung nahm, sagte er vor den versammelten amerikanischen Kardinälen: „Ein großes Kunstwerk kann man verunstalten, doch seine Schönheit bleibt bestehen; und jede intellektuell redliche Kritik muss die Wahrheit dieses Satzes anerkennen. “Ist der Vergleich, den der Papst hier zwischen der katholischen Kirche und einem großen – also auch schönen – Kunstwerk zieht, nicht völlig verfehlt? Vielleicht nicht. Denn so abwegig er zu sein scheint, er gestattet es dem Papst, aus den abscheulichenVerfehlungen etwas zu machen, über das wir hinwegsehen können, das wir – wie die Kratzer auf einer alten Stummfilmkopie oder das Craquelé auf einem alten Gemälde – automatisch ausblenden. Der Papst liebt hehre Gedanken. Und als Begriff ist Schönheit seit eh und je ein probates Mittel, um Werturteilen Nachdruck zu verleihen. Dauer indes gehört nicht gerade zu den augenfälligen Merkmalen der Schönheit. Oft empfindet, wer Schönes betrachtet, jene Trauer, die uns in Shakespeares Sonetten begegnet. Traditionelle Feste zur Feier der Schönheit, zum Beispiel das Kirschblütenfest in Japan, sind unverkennbar von Schwermut umweht. Die erregendste Schönheit ist zugleich die flüchtigste, und es bedurfte etlicher Basteleien und Begriffsverrenkungen, um aus der Schönheit etwas Unvergängliches zu machen. Dabei erwies sich die Idee der Schönheit stets als so faszinierend, so stark, dass es einer Verschwendung gleichgekommen wäre, den Begriff allein zum Lob äußerlicher, oberflächlicher Schönheit zu benutzen. Ziel war, Raum zu schaffen für verschiedene Arten vonSchönheit, die sich, ihrem Wert und ihrer Unverwüstlichkeit entsprechend, in eine Rangordnung bringen ließen. Dabei wurde den metaphorischenSpielarten wie „geistige Schönheit“, „spirituelleSchönheit“ der Vorrang gegenüber all jenem eingeräumt, was die Umgangssprache als schön preist –nämlich das, was sinnliche Freude macht.

Die weniger „erhabene“ Schönheit von Gesicht und Körper ist nach wie vor der Schauplatz, wo wir das Schöne am häufigsten suchen. Aber es ist schwer vorstellbar, dass sich der Papst auf die Schönheit in diesem Sinne beruft, wenn er angesichts der sexuellen Belästigung von Kindern durch Geistliche und deren Vertuschung nach entlastenden Formulierungen sucht. Als besser geeignet erscheint da die „höhere“ Schönheit der Kunst. Denn auch wenn die Kunst eine Sache der Oberfläche und der sinnlichen Empfänglichkeit zu sein scheint, hat man ihr dennoch die Ehrenbürgerschaft im Bereich der „inneren“ (im Gegensatz zur „äußeren“) Schönheit angetragen. Schönheit, so scheint es, ist unwandelbar – zumindest wenn sie als Kunst daherkommt, also feste Form angenommen hat. Denn die Schönheit als ewige Idee, wird am ehesten in der Kunst verkörpert. Schönheit (wenn man das Wort in diesem Sinne verwenden will) liegt in der Tiefe, nicht an der Oberfläche; manchmal ist sie verborgen und gerade nicht offensichtlich; sie ist tröstlich, nicht verstörend; sie ist unzerstörbar wie in der Kunst, und nicht kurzlebig wie in der Natur. Schönheit – in ihrer erhabenen Spielart – ist dauerhaft. 

2. Die beste Theorie der Schönheit ist ihre Geschichte. Über diese Geschichte nachzudenken heißt: zu untersuchen, wie bestimmte Gesellschaften mit der Schönheit und ihrem Begriff umgegangen sind. Manchmal werden Gesellschaften von ihren Vorderleuten regelrecht darauf eingeschworen, sich einer für verderblich erachteten Flut neuer Schönheitsideale entgegenzustellen. Sie haben kein Interesse daran, den Schutzwall zu schwächen, den ihnen ein auf Anpreisung und Tröstung zielender Begriff von Schönheit bietet. Es überrascht nicht, dass dem Papst und der auf Bewahrung und Selbsterhaltung bedachten Institution, für die er spricht, ein derart auf Verklärung bedachtes Schönheitsideal so willkommen ist wie die Idee des Guten. Umgekehrt war es unvermeidlich, dass gerade die Schönheit sofort in Misskredit geriet, als vor fast hundert Jahren die auf dem Gebiet der „schönen“ Künste einflussreichen Kreise ihre drastischen Erneuerungprojekte in Angriff nahmen. Schönheit musste den Machern und Verkündern dieses Neuen als konservativer Maßstab erscheinen; Gertrude Stein meinte, wer ein Kunstwerk „schön“ nenne, erkläre es für tot. Schön bedeutet seither „bloß schön“ – es gibt kein schaleres, spießigeres Kompliment. Anderswo – wie denn auch nicht? – blieb die Schönheit allerdings unangefochten. Als der notorische Schönheitsliebhaber Oscar Wilde in „Der Verfall des Lügens“ schrieb: „Kein halbwegs kultivierter Mensch spricht heute noch von der Schönheit eines Sonnenuntergangs. Sonnenuntergänge sind ganz aus der Mode“ – da verfinsterten sich die Sonnenuntergänge zwar kurzfristig, erholten sich jedoch rasch von dieser Attacke. Nicht so die „Schönen Künste“, als ihnen die Forderung nach Modernität entgegenschallte. Dass die Schönheit aus dem Katalog der Wertmaßstäbe für die Kunst verschwunden ist, bedeutet ja nicht, dass niemand mehr an die Schönheit glaubt. Es bedeutet bloß: Niemand glaubt mehr an so etwas wie Kunst.

3. Auch als Schönheit noch ein unumstrittener Maßstab für den Wert von Kunst war, definierte man sie am liebsten indirekt, auf Umwegen. So brachte Lessing mit seiner Gleichsetzung von Schönheit und Harmonie eine zweite allgemeine Idee dessen, was vorzüglich oder erstrebenswert sei, ins Spiel. Da eine strenge Definition von Schönheit offenbar nicht existierte, nahm man an, es müsse, zumindest was die Kunst angeht, ein bestimmtes Organ oder eine bestimmte Fähigkeit für die Wahrnehmung der Schönheit (das heißt, des Werts) geben, den „Geschmack“; und außerdem einen Kanon von Werken, die von Leuten mit „gutem“ Geschmack für wertvoll befunden wurden. Denn in der Kunst, so glaubte man, fiel Schönheit – anders als im Leben – nicht notwendigerweise jedem ins Auge. Mit dem Geschmack verband sich allerdings das Problem, dass er auf privaten, unmittelbaren, widerruflichen Haltungen zur Kunst gründete. Mochten noch so viele ein Urteil teilen – die Übereinstimmung blieb stets begrenzt. Um diesem Mangel abzuhelfen, entwickelte Kant die Vorstellung von einer besonderen Fertigkeit, der „Urteilskraft“, die auf klar umrissenen allgemeinen und stets gültigen Prinzipien beruhen sollte; der Geschmack und die Vorlieben, die vor dieser Urteilskraft Bestand hatten, sollten Gemeinbesitz allersein. Aber auch der Kantschen Urteilskraft gelang es nicht, den „Geschmack“ nachprüfbar abzusichern und ihn auf diese Weise gewissermaßen zu demokratisieren. Die Schwachstelle: Prinzipiengeleitete Urteile lassen sich auf bedeutende Kunstwerke nur schwer anwenden, da sie mit ihnen nur sehr schwach und indirekt verbunden sind – anders als der geschmeidigere empirische Geschmack. Dem allerdings fehlt eine zuverlässige Legitimation heute noch mehr als im ausgehenden 18. Jahrhundert. Wessen Geschmack soll maßgeblich sein? Wer hat das Sagen? Mit dem Aufkommen des Relativismus im Bereich der Kultur gerieten die alten Rangordnungen immer mehr unter Druck, und die Definitionen von Schönheit wurden immer inhaltsärmer. Für Paul Valéry bestand das Wesen der Schönheit schließlich darin, dass sie sich nicht definieren ließ; Schönheit sei geradezu das „Unsagbare“.Noch einmal: In diesem Versagen des Schönheitsbegriffs spiegelt sich der Ansehensverlust, den die Urteilskraft selbst als interesselose oder objektive, nicht irgendwelchen privaten Interessen oder Zwecken dienstbare Instanz erleidet. Es spiegelt sich darin auch, wie bestimmte bipolare Diskurse innerhalb der Kunst in Misskredit geraten. Wer nicht bereit ist, etwas hässlich zu nennen, der kann auch nichts als schön bezeichnen, einerseits. Andererseits entstehen heute immer mehr Tabus, die es verbieten, etwas als hässlich zu bezeichnen. Zu alledem wächst der Widerstand gegen die Vorstellung von „gutem Geschmack“, das heißt gegen die Dichotomie von gutem und schlechtem Geschmack – außer wenn es darum geht, die Niederlage des Snobismus und den Triumph dessen zu feiern, was er einst herablassend als schlechten Geschmack abgetan hat. Die Vorstellung von gutem Geschmack gilt heute sogar als noch rückständiger als die Idee der Schönheit. Die strenge, schwierige „Moderne“ in Kunst und Literatur wirkt altmodisch – wie eine Verschwörung von Snobs. Innovation bedeutet mittlerweile nur noch Lockerheit – die populäre Kunst gibt grünes Licht für alles und jedes. Im kulturellen Klima der letzten Jahre, das die konsumorientierte Kunst begünstigt, hat das Schöne nur die Wahl, als Selbstverständlichkeit oder als Anmaßung empfunden zu werden. So wird gerade da, wo wir absurderweise von Kulturkämpfen sprechen, die Schönheit regelmäßig zum Prügelknaben gemacht. 

4. Einst lagen die Stärke und der Reiz der Schönheit schlicht darin, dass sie manchen Dingen eignete und anderen nicht: Sie war ein Unterscheidungskriterium. Schönheit gehörte zur Familie jener Begriffe, die Rang begründen. Und fügte sich von daher gut in eine Gesellschaftsordnung, die sich für Standes- und Klassenunterschiede wie für hierarchische Verhältnisse nicht entschuldigen zu müssen glaubte – und die das Recht, andere auszuschließen, als selbstverständlich in Anspruch nahm. Was einst ein Vorzug gewesen war, wurde mit der Zeit zur Belastung. Früher schien der Begriff der Schönheit verletzlich, weil er zu allgemein, zu locker, zu durchlässig war; nun zeigte sich, dass er zu vieles ausschloss. Diskriminieren, die Fähigkeit, Unterschiede zu machen und zu erkennen, war einst ein positiv besetzter Begriff; er verwies auf kultivierte Urteilsfähigkeit, auf hohe Maßstäbe und hohe Ansprüche. Später verkehrte er sich dann ins Negative, bedeutete nun Vorurteil, Dünkel, Blindheit gegenüber allem, was mit dem Eigenen nicht identisch war. Der kräftigste und erfolgreichste Angriff gegen die Schönheit wurde im Bereich der Kunst geführt: Schönheit und das Interesse an ihr seien restriktiv oder, im Zeitjargon, elitär. Unsere Empfehlungen können daher viel mehr einschließen, wenn wir nicht mehr sagen, etwas sei „schön“, sondern: es sei „interessant“. Wenn Leute ein Kunstwerk „interessant“ nennen, bedeutet das natürlich nicht unbedingt, dass sie es auch mögen (und schon gar nicht, dass sie es schön finden). Es bedeutet meistens nur, dass sie glauben, sie sollten es mögen. Oder zumindest, dass sie es „irgendwie“ mögen, obwohl es nicht schön ist. Zuweilen allerdings erspart das Wort „interessant“ aber doch nur die banale Feststellung, etwas sei schön. Die Fotografie war die erste Kunstform, in der „das Interessante“ triumphierte – von Anfang an: Die fotografische Sehweise machte buchstäblich aus Allem und Jedem einen möglichen Gegenstand für die Kamera. Das Schöne war so viel thematischem Raum nicht gewachsen, und geriet schon deshalb als Maßstab aus der Mode. Über die Aufnahme eines Sonnenuntergangs, eines schönen Sonnenuntergangs, sagte nun jeder, der über einen gewissen Sinn für sprachliches Raffinement verfügte: „Ja, dieses Foto ist interessant.“ 

5. Also gut: Was ist eigentlich interessant? Vor allem das, was zuvor nicht als schön (oder gut) galt; hier kommt ein Tabu ins Spiel. Die Kranken sind interessant, wie Nietzsche bemerkt hat; die Bösen ebenfalls. Das heißt: die Bewunderung gilt nun dem Originellen, nicht dem Wahrhaftigen; sie gilt der Grobheit, der Frechheit, der Normüberschreitung, nicht dem Respekt. Als Wertmaßstab fördert „das Interessante“ die Vorliebe für den Zusammenprall, nicht für die Harmonie; sein Gegenteil ist „das Langweilige“. Der Liberalismus sei langweilig, schrieb Carl Schmitt 1932 in „Der Begriff desPolitischen“ (und trat im Jahr darauf der NSDAP bei). Einer Politik, die liberale Grundsätze befolgt, fehlt es an Dramatik, an Stimmung, an Konflikt, während eine starke, autokratische Politik – auch wo sie in den Kriegf ührt – rasend „interessant“ ist. Das Interessante als Wertmaßstab begegnet also den Konsequenzen von Handeln oder von Kunst mit Geringschätzung. Wahrheit kommt dabei als Gesichtspunkt nicht einmal in Betracht. Das Interessante ist ein verbraucherorientiertes, auf die Ausweitung seines Geltungsbereichs bedachtes Konzept: Je mehr Dinge interessant werden, desto größer ihr Markt. Das „Langweilige“ steht für eine Leere, die auf eben dies Gegenmittel verweist: die leere, wahllos repetierte Beteuerung des „Interessanten“ – eine besonders unschlüssige Art von Realitätswahrnehmung. 

6. Schönheit kann ein Ideal anschaulich machen, als etwas Vollkommenes. Sie kann aber auch auf Grund ihrer Identifikation mit Frauen (genauer gesagt: mit der Frau) die bekannte Ambivalenz auslösen, die auf die uralte Herabsetzung des Weiblichen zurückgeht. Vieles von dem, was die Schönheit in Misskredit bringt, lässt sich nur vor dem Hintergrund des Gegensatzes zwischen den Geschlechtern verstehen. Auch Misogynie mag zuweilen im Spiel sein, wenn es darum geht, Schönheit ins Metaphorische und damit über die Sphäre des „bloß“ Weiblichen, des Unernsten, des Trügerischen hinaus zu „heben“. Frauen werden ihrer Schönheit wegen zwar angebetet. Doch wegen der Sorgfalt, die sie auf die Herstellung oder Bewahrung dieser Schönheit verwenden, werden sie zugleich mit Herablassung gestraft. Schönheit ist „Theater“, es geht um Gesehen- und Bewundertwerden, und mit dem Wort Schönheit assoziiert man Schönheitsindustrie, Schönheitssalons, Schönheitsprodukte und das ganzeTheater weiblicher Oberflächlichkeit ebenso leicht wie die Schönheit der Kunst oder der Natur. Wie sonst sollte man die Assoziation der Schönheit – das heißt: der Frauen – mit der Dummheit erklären? Wer sich um die eigene Schönheit kümmert, läuft Gefahr, dass man ihm Narzissmus und Oberflächlichkeit vorwirft. Man denke an all die Synonyme für Schönheit, angefangen bei „niedlich“ und „hübsch“, die erst transponiert werden müssen, ehe sie sich auf Männer anwenden lassen. Auch wenn sich Wörter wie „stattlich“oder „gut aussehend“ nicht anders als das Wort „schön“ auf die äußere Erscheinung beziehen, wirken sie nüchterner, weniger überschwänglich. 

7. Im Allgemeinen hält man Schönheit für eine ganz und gar „ästhetische“ Kategorie, wodurch sie nach Meinung vieler auf Kollisionskurs mit dem Ethischen gerät. Doch selbst in ihrer unmoralischen Spielart kommt die Schönheit nie nackt daher; in die Zuschreibung von Schönheit mischen sich stets auch moralische Wertvorstellungen. Das Ästhetische und das Ethische waren ursprünglich keineswegs Gegensatzpole, wie Kierkegaard und Tolstoi behaupteten, sondern das Ästhetische selbst galt als quasi-moralisches Projekt. Seit Platon taucht immer wieder die Frage nach dem angemessenen Verhältnis des Guten zum Schönen auf, das sich aus dem Wesen der Schönheit selbst ergeben soll. Die übliche Art, Urteile über das Schöne als moralische Urteile zu etablieren, folgt dem alten Verfahren, das die Schönheit in ein binäres Konzept verwandelt, sie also in eine „innere“ und eine „äußere“, eine „höhere“ und eine„niedere“ Schönheit aufspaltet. Aus der Sicht Nietzsches oder Oscar Wildes mag das unangemessen sein, aber mir scheint es unvermeidlich. Und die Weisheit, die einem aus einer intensiven, lebenslangen Beschäftigung mit dem Ästhetischen zufließt, ist, so behaupte ich, durch keine andere Form von Ernsthaftigkeit zuersetzen. Die verschiedenen Definitionen von Schönheit kommen ja einer plausiblen Bestimmung von Tugend und erfüllter Humanität mindestens so nah wie alle Versuche, das Gute auf dem direkten Weg zu definieren.

8. Der Schönheitsbegriff gehört zur Geschichte der Idealisierung, die ihrerseits in die Geschichte des Trostes gehört. Aber Schönheit tröstet nicht immer. Die Schönheit von Gesicht und Gestalt quält, wühlt auf, unterjocht; sie ist herrisch – und weckt den Wunsch nach Beherrschung: Menschliche wie künstlich gemachte Schönheit lösen Besitzphantasien aus. Unser Modell vom interesselosen Wohlgefallen knüpft dagegen an die Schönheit der Natur – einer fern liegenden, allumfassenden, nicht zu besitzenden Natur. Im russischen Winter des Jahres 1942 schrieb ein deutscher Soldat in einem Brief: „Das schönste Weihnachten, das ich je erlebt habe, nur ausuneigennützigen Empfindungen bestehend, ohne kitschiges Drumherum. Ich war allein unter einem riesigen, mit Sternen übersäten Himmel, und ich kann mich erinnern, wie mir an der eisigen Wange eine Träne herunterlief, keine Schmerz- und keine Freudenträne, sondern eine Träne des Gefühls, ausgelöst durch dieses innige Erleben...“ Anders als die oft flüchtige Schönheit ist die Fähigkeit, sich von der Schönheit überwältigen zulassen, erstaunlich robust. Sie widersteht gröbsten Ablenkungen; der Krieg vermag sie so wenig auszulöschen wie die sichere Aussicht auf den eigenenTod. 

9. Die Schönheit der Kunst steht, Hegel zufolge, über der Naturschönheit, weil sie von Menschen gemacht und ein Werk des Geistes ist. Aber auch die Wahrnehmung von Naturschönheit geht auf die Traditionen von Bewusstsein und Wahrnehmung, auf Kultur und, mit Hegel zu reden, auf Geist zurück. Die Reaktionen auf die Schönheit in der Kunst und die auf Naturschönheit stehen in einer Wechselbeziehung. Die Kunst lehrt uns nicht nur, die Natur auch gezielt wahrzunehmen, (wie Wilde es im Hinblick auf Dichtung und Malerei formulierte – heute setzt vor allem die Fotografie die Maßstäbe der Naturschönheit). Sondern das Schöne erinnert uns auch an die Natur als solche, an das, was jenseits des Menschlichen und des Gemachten liegt; sie weckt und vertieft damit unser Bewusstsein von der Fülle der Wirklichkeit, die uns umgibt: der unbelebten ebenso wie der belebten. Ein erfreuliches Nebenprodukt dieser Einsicht, wenn es denn eine Einsicht ist: Schönheit gewinnt so ihre Festigkeit zurück, ihre Unausweichlichkeit als Urteilsmaßstab, dessen jeder Mensch bedarf. Nur so kann er begreifen, was ihn anzieht und mit Bewunderung erfüllt. Bloß konkurrierende Begriffe wirken dagegen lächerlich. Stellen Sie sich vor, jemand würde sagen: „Dieser Sonnenuntergang isti nteressant.“

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