Dienstag, 28. März 2023

Pinocchio

Ein gewöhnliches Stück Holz. Eine Marionette ohne Führungskreuz und -fäden. Frei sich zu bewegen. Ein Junge aus Holz. 

Eine Geschichte über Kindererziehung, die Bürger des 19. Jahrhunderts mussten sicherstellen, dass ihre Kinder gute Erben werden würden und Collodi, der Autor unserer Geschichte, stimmt ihnen zu und doch läßt seine überbordende Phantasie, es nicht zu, dass sein Text nur eine Moralpredigt wird.

Vier Schauspieler und eine Musikerin, eine Bühnen- und Kostümbildnerin, eine Maskenbauerin, zwei Schneiderinnen, drei technische Fachkräfte. Sieben Wochen Proben durchmischt mit reichlich zu spielenden anderen Vorstellungen. Sieben Wochen, um eine Geschichte für Kinder in eine Geschichte über unsere Kindheit zu verwandeln. 

Es war einmal … ein König! Nein, falsch! Es war einmal ein gewöhnliches Stück Holz.

Photo Marianne Menke 

Eigentlich soll das gewöhnliche Stück Holz ein Tischbein werden. Aber es kommt anders, der alte Geppetto schnitzt sich daraus eine Marionette, die ihn immer lieben soll und mit der er sich ein Zubrot verdienen will.

Aber es kommt anders, Pinocchio, die Holzpuppe, hat eine laute Stimme, schräge Ideen, übermütigen Eigensinn, großzügiges Mitgefühl, reichlich Neugier und ungebremsten Mut und rennt von einem Abenteuer ins nächste. In brenzligen Situationen lügt er auch gelegentlich und dann wird seine Nase länger. 

Blaue Fee: Das Lügen lange Nasen macht, habe ich mir ausgedacht, weil lange Nasen viel lustiger sind als kurze Beine!

Und jedes Mal wenn Pinocchio haarscharf einer Katastrophe entkommt, denkt er bei sich: Ich möchte so sehr ein braver Junge werden, um jeden Preis!“ Wie hoch ist der Preis? Was muss er aufgeben, um ein „braver“ Junge zu werden? Nicht mehr wild, zutraulich und warmherzig, sondern angepasst, artig, arbeitsam. Menschwerdung kostet.

Am Schluss schaut ein Junge namens Pinocchio auf seinen nun leblosen Holzkörper und denkt: „Wie lustig war ich, als ich eine Marionette war und wie glücklich bin ich jetzt, wo ich ein braver kleiner Junge bin!

Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, um brave Jungen zu werden? Wie lang sind unsere Nasen?

 
Photo Marianne Menke

So viele Wörter in einem Wort, pino und io und ochio und pinco, Pinie und ich und Auge und Dummkopf, Holzköpfchen. So viele sich scheinbar widersprechende Züge in der einen Figur, in Pinocchio. Die Marionette, die keine Fäden braucht, die eigenständig laufen, rennen, lachen, sprechen und lügen kann. Pinocchio kann lügen, kann etwas erfinden, auch wenn er es meist nur tut, um einer Strafe zu entgehen. Aber er kann es. Und er kann träumen. Auf diesem Planeten können nur wir Menschen Geschichten erfinden, alle anderen Lebewesen sind an die Wahrheit gefesselt. Wir können uns Dinge ausmalen, die es nicht gibt oder noch nicht gibt. Wir können unsere Geschichte immer wieder anders erzählen, neu erfinden, verbessern. Was für ein Geschenk. Geschichten, halten die Welt am Leben, die Welt würde ohne sie, aufhören zu existieren, heißt es im Imaginarium des Doktor Parnassus. Und unser kleiner Holzkopf hat dieses Geschenk auch erhalten und dann kommen die Menschen und wollen ihm dieses Geschenk entreißen, sie tun es auf vielerlei Art, mit Gewalt, Drohung, Erpressung, Manipulation. Manche berufen sich dabei darauf, ihn zu lieben, andere geben zu, dass es ihnen nur um ihren Vorteil geht. Aber alle wollen ihn anders als er ist. Entweder wollen sie ihn töten oder ihn zu einem braven Jungen machen. Kommt fast auf dasselbe hinaus, oder? Pinocchio will ein richtiger Junge werden, wie alle anderen, und als er es geschafft hat, liegt der alte Pinocchio, die Holzpuppe, das wilde Kind mit verrenkten Gliedern in der Ecke.

Eine Geschichte, die wir alle gelebt haben. Wir kommen in die Welt, schreiend und voll Energie und ohne Wissen über Grenzen und wir werden eines Besseren belehrt. Regeln. Regeln. "Regeln sind alles was wir haben."




Photos Marianne Menke

Wie wird eine Nase länger auf der Bühne? Wie sieht ein Kater aus, ein Fuchs, ein Gorilla, eine blaue Fee, eine Grille? Kein Video, keine Bühnenzüge, nur Schauspieler, Masken, Licht, Kostüme und Theatertricks, leicht zu durchschauen, doch magisch. Vier Schauspieler und eine Musikerin füllen die Bühne, erschaffen eine Welt, die dicht bevölkert ist. 

Ein Schauspieler mitte Fünfzig rennt wochenlang mit einer vorläufigen Maske im blauen Babystrampler herum, eine Schauspielerin spricht so hoch, dass einem fast die Trommelfelle einreißen, eine andere verkrampft ihren schönen Mund, um ihn der Harlekinmaske anzupassen, die Musikerin, als Schnecke besetzt, wird immer langsamer, außer wenn ihre Finger über die Tasten flitzen. Sie bedient auch eine Kreissäge, allerlei Holz, eine Mühle, eine Glocke und unzählige andere geräuscherzeugende Gegenstände und sie isst, langsam, Salat. Sie singen, sie tanzen, sie spielen Tiere, ohne zoologische Imitationen, sie ziehen sich geschätzte 100 Mal in höchster Eile um und können dann, den Eindruck erwecken, alle Zeit der Welt zu haben. Sie sind Zauberer. 

Ich liebe Theater. Und glücklicherweise lieben es einige andere auch.

Sonntag, 26. März 2023

Probieren ist wunderbar. Die Hexenjagd.

Ich bekomme ein Angebot von einem Theater und lese daraufhin ein Stück. 

Dann ist mir schon alles passiert, entnervtes in die Ecke werfen, Liebe auf den ersten Blick, völlige Verwirrung, Erweckung meines Forscherdrangs, extreme Abneigung und faszinierte Fremdheit. 

Wo ist der Punkt, an dem ich einsteigen kann? Was irritiert mich? Wo knarrt es in der scheinbar kohärenten Erzählung? Bei Shakespeare heißt es: "There's the rub." "Da liegt der Hund begraben." "Das ist des Pudels Kern." Da passt was nicht, da lauert ein Widerspruch, da kann ich ansetzen zu meiner persönlichen Entdeckungsfahrt.

Wie Alice brauche ich einen Brunnen, in den ich fallen kann.

Wir haben "Hexenjagd" von Arthur Miller probiert. "The crucible" im Original, der Schmelztiegel oder die Feuerprobe und, damit deutsche Zuschauer besser vorbereitet sind, Hexenjagd. Was für ein gut konstruiertes, gedachtes und gekonntes Stück von geradezu widerlicher Aktualität. A well made play nennen es die Briten.

Worum geht es? Der gesellschaftliche Konsens ist im Wanken, deshalb wird noch genauer auf die Einhaltung der Regeln geachtet, Ausbrüche werden hart geahndet, harte moralische Urteile werden gefällt und Widerspruch nicht geduldet, das ist die Ausgangssituation. Das ist unsere Ausgangssituation, damals bei den Puritanern im 17. Jahrhundert, 1953 in den USA, hier im Heute und auch im Theater.

Was passiert? Junge Frauen tanzen nachts im Wald, Lust, Befreiung, Entäußerung. Da ist Liebe und Trauer um Verlust, Sehnsucht nach Freiheit, die ausgelebt werden. Sie werden erwischt. Aus Angst vor Bestrafung lügen sie und ihre Lügen passen anderen Leuten aus verschiedensten Gründen gut in den Kram, daraus entsteht: Verleumdung. Die Lügen werden größer, kaum weiß noch jemand wo die Wahrheit aufhört und die Lüge anfängt. Ein Wahrheitsgemetzel beginnt. Menschen werden beschuldigt ohne den Hauch einer Unschuldsvermutung. 

Euer Ehren, wir sind hier, um herauszufinden, was niemals niemand jemals gesehen hat.

Was ist wahr? Wer lügt? Aus welchen Gründen lügt man? Wovor hat man Angst? Wann glaubt man die eigene Lüge?

Die Verführung und Zerstörungskraft der Lüge sind gigantisch. Die Lüge ist allgegenwärtig, oft gut verkleidet, bietet Bestätigung, Wohlbefinden, Sicherheit. Die Wahrheit liegt, wie Ionesco sagt, zwischendrin, ist anstrengend, ambivalent, unbequem, im schlimmsten und besten Fall von explosiver Veränderungskraft. Aber erkennt man die Wahrheit noch, wenn man die Lüge gewohnt ist? Fake news sind Fake Wahrheiten. Und mittlerweile scheint es mir, als seien gefühlte Wahrheiten für viele wahrer, als wissenschaftliche Fakten. Wahr, wahrer, am wahrsten. Die Erde ist flach, Trump ist cool, Putin verteidigt Russlands Rechte, Chemtrails überall.

Das Stück spielt in einem kleinen Ort in Massachuchetts, Salem. Jeder kennt jeden, jeder "weiß" alles über jeden. Also sind alle Spieler immer auf der Bühne, jeder hat seinen Stuhl, sie lauschen aus dem Hintergrund, reagieren. Jeder Szene ist nur ein Möbel zugeordnet, Bett, Tisch, Mülltonne, Kaffeeautomat. Die Kostüme sind an Uniformen erinnernde Einteiler mit sehr individuellen Details in Blautönen. Wenig Maske.

Die Schauspieler, was kann ich sagen, eine Freude, ein Erlebnis, ein Abenteuer. Hin- und herhgehetzt zwischen Weihnachtsmärchen, regulären Vorstellungen, Lesungen etc. kommen sie, um etwas Neues zu probieren. Erstmal habe ich die Samstag-Proben gecancelt, irgendwann müssen sie doch mal ausschlafen, ihre Kinder bespielen, Text lernen oder Schlittschuh fahren, oder? Und ihre Laune ist besser am Montagmorgen. Und sie haben geschuftet, so viel Klappsätze und merkwürdige Formulierungen, so emotional und genau gedacht. Gelacht haben wir auch viel, unbedingt notwendig bei solch teuflischem Text. Und immer wenn vom Teufel die Rede ist, schnipsen alle über die linke Schulter. 

Währenddessen ist das Theater in Greifswald wegen anstehender Sanierung schon seit Juni geschlossen und die zugesagte Ausweichspielstätte wurde, trotz Zusage, nicht zur Verfügung gestellt. Drei Jahre soll es dauern, also wahrscheinlich fünf? Harte Zeiten. Ich wünsche diesem Ensemble in diesen harten Zeiten nur Gutes, das Beste. 

https://www.vanheesen.de/


Bühne: Nicolaus Heyse / Kostüme: Jenny Schall / Musik: Ludger Novak

Spieler: Markus Voigt, Nora Hickler, Philipp Seidler, Anjo Czernich, Katharina Rehn, Amelie Kriss-Heinrich, Gabriele Völsch, Lutz Jesse, Susanne Kreckel, Philipp Staschull, Jan Bernhardt, Hannes Rittig

Mädchen aus Salem: Pauline Altendorf, Marlene HeßeHenriette Held, Adele Mesing, Charlotte Brunk, Timea Daedelow, Freya Kairies, Frida Krüger, Jördis Werner

Al Pacino als Teufel in dem Film "im Auftrag des Teufels" 

Für wen schuftet ihr? Für Gott? Das ist es? Für Gott? Naja, ich sag euch, lasst mich euch ein bisschen Insider-Information über Gott geben. Gott schaut gern zu. Er ist ein Witzbold. Denkt mal drüber nach. Er gibt dem Menschen Instinkte. Er gibt euch dieses außergewöhnliche Geschenk und was tut Er dann? Ich schwöre, für Sein Amusement, für Sein privates Vergnügen, setzt Er die Regeln in Opposition. Das ist der größte Gag aller Zeiten. Gucke, aber fass nicht an. Fass an, aber schmecke nicht. Schmecke, aber schlucke nicht. Ihr erinnert euch an Clinton und Monica Lewinsky? Und während ihr von einem Fuß auf den anderen hüpft, was tut Er? Er lacht sich seinen kranken, verfluchten Arsch ab. Er ist ein Geizhals. Er ist ein Sadist. Er ist ein nie erreichbarer Vermieter. Den Anbeten. Niemals! ... Warum nicht? Ich bin hier unten mittendrin seit die ganze Sache begann. Ich habe jedes Begehren das im Menschen geweckt wurde genährt! Ich habe mich um seine Wünsche gekümmert und ihn nie verurteilt. Warum? Weil ich ihn nie zurückgewiesen habe trotz seiner Unvollkommenheit. Ich bin ein Fan des Menschen. I’m a fan of man! Ich bin ein Humanist. Vielleicht der letzte Humanist. Wer, der bei klarem Verstand ist, kann leugnen, dass dieses Jahrhundert ganz und gar meines ist? Jetzt ist meine Zeit. Es ist unsere Zeit.

O – raison d'esclave

"Krücken, Krücken! gebt uns Krücken!

Ach, wie geht die Menschheit lahm,

seit man, neu sie zu beglücken,

ihr die alten Stützen nahm.

 

Brillen, Brillen! gebt uns Brillen!  

grün und blau und gelb und rot!

Volles Licht ist für Pupillen

unsrer Art der sichre Tod.

 

Lügen, Lügen! gebt uns Lügen!

Ach, die Wahrheit ist so roh!

Wahrheit macht uns kein Vergnügen,

Lügen machen fett und froh!

 

Gängelbänder, Schaukelpferde,

Himmel, Hölle und Moral –

und dich selbst gib deiner Herde

neu zurück, o großer Baal!

 

Christian Morgenstern