Samstag, 23. Mai 2020

Das C-Wort XX - Bösewichte

Erinnert ihr euch an die Bösewichte eurer Jugend?
Die Hexe mit ihrem Appetit auf Kinderfleisch und der bedauernswerten Kurzsichtigkeit. Die Stiefmutter, besessen von der eigenen Schönheit, gezwungen auf allerlei lächerliche Verkleidungen zurückzugreifen. Die bösen Stiefschwestern, dümmlich, selbstsüchtig und eitel. Kneif deine Wangen, wenn Du kein Rouge hast! Auric Goldfinger mit der weißen Perserkatze und den Piranhas, der die Weltherrschaft plante. Gute Bösewichte sind was Großartiges. Nicht, wie fast alle Nazis in fast allen Filmen, nicht finster blickende, brüllende Pappmaché Figuren, sondern charmante, verführerische, undurchsichtige Gestalten mit Untiefen und überraschend, verstörend sympathischen Seiten.

ABER JETZT wird ernsthaft behauptet:
Anne Frank befand sich auch im Lockdown ( Sven Liebich) , der Wissentschaftler Drosten ist wie Mengele, die Gefährdung der Impfgegner gleicht der der Juden im III. Reich und die Corona-Einschränkungen dem Ermächtigungsgesetz von 1933, wir leben in einer faschistischen Diktatur, Bill Gates oder Rothschild oder die Bilderberger oder DIE Juden sind darauf aus uns zu knechten, 5G tötet tausende Vögel und verbreitet nebenbei den Corona Virus, Merkel ist ein Reptiloid - WtF? 
Während wir, im Vergleich zu anderen Ländern, unter anderem Brasilien und die USA, relativ unversehrt, ich betone "relativ", durch die nun (hoffentlich) abebbende Coronakrise waten, beschließen einige meiner Mitbürger, sich zu Opfern unerträglicher Unterdrückung zu erklären und dabei unsere gemeinsame schwierige Geschichte zu vergewaltigen. Wo sind die Gaskammern, die Massenerschießungen, die Verhaftungen, die Folter, die Mundtotmachung? Diese trendigen Opfer können die Verweigerung ihrer Meinungsfreiheit in vielerlei Kameras und Mikrophone brüllen und was passiert ihnen? In der DDR wären sie in ein Stasi-Gefängnis verfrachtet worden, unter den Nazis ins KZ. Hier und heute werden ihre Ausweis-Informationen aufgenommen. O weh!
Ich habe gravierende Schwierigkeiten mit der Ungerechtigkeit, die ein grundlegendes Prinzip unserer Gesellschaftsornung ist, aber ich ziehe doch, widerwillig, unsere hinkende, bucklige Demokratie all den anderen real existierenden Formen und Verkrüppelungen vor. Hier noch einmal ein Churchill Zitat: "Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen - abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind." 
Es ist eine beschissene Zeit. Bedrückend. Viele von uns sorgen sich um ihre Zukunft. Kinder vermissen ihre Spielkameraden, Jugendliche die ihnen zustehende Sorglosigkeit, Mütter sind überbelastet, die Gewalt in Familien nimmt zu, Kleinunternehmer bangen zu Recht um ihre Zukunft, Künstler, gute und weniger gute, stehen vor dem Nichts - ABER wir sind nicht völlig verlassen. 
Wir leben nicht in Favelas, sind nicht Bewohner eines Landes ohne medizinische Grundversorgung, unsere vielgeschmähte Frau Merkel ist in der Lage wissenschaftliche Daten zu verarbeiten, wir werden versorgt, wenn wir erkranken.

Ist da gar keine Erleichterung? Wir verzeichnen nur "8261" Tote zum jetzigen Zeitpunkt, nicht mehr, nicht 100 000, nicht 500 000, wie es der mißmutige Herr Castorf benannte. Nicht mehr tote Großväter, Großmütter, Dicke, Zuckerkranke, Raucher, Asthmatiker? Solche die selber schuld sind oder sowieso nicht mehr lang leben?
 Dankbarkeit. Das klingt demütig, und ist vielleicht angebracht.


Freitag, 15. Mai 2020

Das C-Wort XIX - Unnormal Normal oder Normal Unnormal

Tagesablauf: 

Der Koffer ist gepackt und enthält (Ein erstes Mal!) Desinfektionsmittel, meinen antiken DDR-Impfausweis und eine kleine Sammlung von Gesichtsmasken.

Um 5 Uhr klingelt der Wecker, dann schnell zum Bahnhof für den Zug um 6.40 Uhr nach Bremen via Hamburg. (Meine erste Zugfahrt in acht Wochen.). Der Zug ist merkwürdig leer, die Maske über drei Stunden erträglich.

(Um 11.00 Uhr bin ich im Theater, zum ersten Mal in acht Wochen). Ein gutaussehender Amtsarzt verkleidet sich in einen langen grünen Kittel und Mundschutz plus Plastikvisier und nimmt uns allen einen Corona-Abstrich ab. 10 cm in die Nase geht bei mir gar nicht, ein zweiter Versuch im Rachen klappt. Die Ergebnisse bekommen wir morgen. Wenn nur einer von uns positiv testet ... 14 Tage Quarantäne?

Dann verpasst mir der hübsche Arzt eine Pneumokokkenimpfung für den Fall des Falles. Nur ein kleiner Pieks, erst am Abend wird der Arm schmerzen.

Um 12.00 Uhr ist dann richtiger Probenbeginn. (Der ersten Probe in acht Wochen.) Die Spieler legen ihre Gesichtsschilde aus Plastik an. (Alice fiel in den Brunnen und durch den Spiegel.) Ihre Visiere spiegeln die Neonröhren des Arbeitslichtes, jede Kopfbewegung erzeugt ein kleines glitzerndes, funkelndes Feuerwerk über ihren Gesichtern. 

Um 14.00 Uhr folgt ein gemeinsam vereinzeltes Mittaggessen an von einander entfernten Tischen. Es schmeckt, wie immer, großartig. (Mit so vielen Leuten war seit acht Wochen nicht mehr in einem Raum - Maske auf, Maske ab, Hände desinfizieren.) Essen mit Maske geht nicht.

Um 15.00 Uhr folgt mein Einzug in die Theaterwohnung. Danach noch schnell der Einkauf des Nötigsten - Kaffee, Milch, blabla. (Die letzten acht Wochen habe ich jeden Tag gekocht, das werde ich jetzt in der fremden Küche erstmal nicht mehr können.)

Um 19.00 Uhr Abendprobe - was passiert mit dem Erarbeiteten unter den neuen, irren Bedingungen? Unser Stück spielt in der Hölle, also hätten die Figuren keinen Grund sich vor einem Virus zu fürchten. (Aber die Schauspieler haben einen.)

Hinter ihren Visieren klingen die Stimmen anders, wie aus zu kleinen Tonstudios oder wie aus einer Plastiktonne. Der Stirnreif drückt, die Schilde verändern die Sicht, manchmal sieht man das eigene Spiegelbild. (Gibt es entspiegelte Plastikfolie?) Es ist anstrengend. Kopfschmerzen. Instinktive Reaktionen ohne Sicherheitsgedanken sind erstmal nicht möglich. Jede Stunde lüften wir, um die Aerosolhäufungen wegzublasen. 

Die "Metaebene" unseres Stückes ist die neue deutsche Rechte, die sich gerade in die aus Verunsicherung und Denkfaulheit geborene Querfronten einparkt, Corona schützt uns nicht vor faschistoide Gedankenwelten.

Jetzt, um 24 Uhr, bin ich knülle.

 © Bild: cover-covid
 

Sonntag, 10. Mai 2020

Das C-Wort XVIII - Demonstrationen

Wir demonstrieren - ein merkwürdiger Vorgang. Mehr oder weniger Menschen treffen sich und laufen langsam, stockend eine lange Weile auf vorgeplantem Weg, um ihre Zustimmung, Ablehnung, Empörung, Überzeugung durch eben dieses Bewegen zum Ausdruck zu bringen.

Eine Demonstration (von lateinisch demonstrare, zeigen, hinweisen, nachweisen) im politischen Sinne ist eine in der Öffentlichkeit stattfindende Versammlung mehrerer Personen zum Zwecke der Meinungsäußerung.

Meine ersten Demonstrations-Erfahrungen in den Tiefen der DDR waren geprägt vom jährlichen Aufmarsch der Berliner Bühnen zum 1. Mai, da bin ich als Baby im Kinderwagen mitgefahren worden, als ungeduldiges Kind, als unwillige Jugendliche und schließlich als pflichtbewußtes Mitglied des Deutschen Theaters. Mit Politik, so verdrängte ich lange, hätte das wenig zu tun, es schien mir mehr wie ein jährliches Rendezvous mit den Leuten von den anderen Berliner Theatern, ein Mini-Ferienlager.
Treffpunkt irgendwo ums Rathaus rum, dann Latschen unter Beschallung. "Du brauchst keine Brille, um Deinen Weg zu finden" sang, wahrscheinlich, der Oktoberclub und ich, schwer kurzsichtig, hatte meine Zweifel. Zum offiziellen Höhepunkt an der Tribüne auf dem Marx-Engels-Platz vorbei, vorbei an hölzern winkenden, greisen Politikern, mysteriösen, chinesischen Delegierten und "unser" Hans-Peter Minetti, Mitglied des ZK der SED, der ekstatisch grinsend mit beiden Händen wild wackelte, während der Wind seine dreifach über den Kopf gelegte Haarsträhne in ein halbmeterlanges Fähnchen verwehte. Erst danach begann das Eigentliche, Eisbein und Erbspüree im BE. Kollegen treffen, quatschen, ein heiterer, geselliger Tag, vorstellungsfrei. 
Und es gab auch die Luxemburg/Liebknecht Demo am 15. Januar, dem Gedenktag ihrer Ermordung, ein, im Rückblick, surrealer Vorgang, um die zu ehren, die beim Anblick der Realitäten der DDR, in Tränen der Wut ausgebrochen wären. 

Uralter DDR Witz. Karl Marx wird durch DNA-Cloning wieder zum Leben erweckt. Er bekommt eine Stunde Redezeit im DDR-Fernsehen, die wird aber durch Sondermeldungen des ZK der SED immer weiter verkürzt. Am Ende bleiben ihm fünf Minuten. Er schweigt lange, sehr lange und sagt dann: " Proletarier aller Länder, Entschuldigung."

1989. Im Oktober sah ich, wie friedlich Demonstrierende von der Volkspolizei brutal zusammengetrieben wurden und im November, wie ein Volk die Strasse mit Würde für sich zurückeroberte. Aber "Wir sind das Volk" verschob sich schnell zu "Wir sind ein Volk" und eine gänzlich neue, andere Zeit begann.

Zwischendurch bin ich nur einmal marschiert, was für ein grässliches Wort, für den Bau des neuen Gebäudes der Schauspielschule "Ernst Busch".

Ein neues Kapitel, so dachte ich, begann mit der "Glänzenden Demonstration" gegen die AfD-Kundgebung in Berlin, Tausende in goldener Kostümierung, meist strahlend leuchtenden Feuerschutzplanen, liefen bei der im Mai 2019 durch Berlin, später dann noch einmal. Friedliche, heitere, herrlich bunte Spaziergänge gegen Rechts.

Und jetzt. Jetzt. 
Hygienedemos. Querfront, Unruhe, nervöse Aggression und unterschwellige Propaganda. Manche halten das Grundgesetz in der Hand, andere tragen die silberne Querdenkerbommel um den Hals, manche meditieren für den Frieden, manche schwafeln von jüdischen, imperialistischen, reptiloiden Verschwörungen. Der frishgegründete "Widerstand 2020" will viel und weiß nur nicht genau was. Alt-Nazis, AfDler, Antifa-Anhänger, Öko-Hippies, Psychotiker, Q-Anon-Gläubige, Impfhasser, durchschnittliche Dumpfbacken, wohlstandsverwahrloste Yuppies und verängstigte Menschen aller Schichten, deren Sorge und Verunsicherung, sie verzweifelt nach Erklärungen und Schuldigen suchen läßt. 
Einer vergleicht die Eindämmungsversuche der Regierung mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Eine Frau, die Impfungen ablehnt, trägt den gelben Judenstern des Dritten Reiches, mit der Inschrift "Nicht geimpft". Schwitzige und nervende Stoffmasken werden zu Körperverstümmelungen hochstilisiert, das Verbot von Parties zu unmenschlicher Isolation. Und wir durften wochenlang nicht einkaufen gehen!

Ist es Bill Gates, der uns durch subkutane Chipeinpflanzung gleichschalten will? Ist es die Mafia? Ist es MacDonald? Oder die Nazis, die unterirdisch am Südpol oder auf den Mond weiterb agieren?Wird die Zwangsimpfung kommen, wenn es einst ein Impfserum geben wird? Wird das Bargeld abgeschafft werden, um uns alle in den Würgegriff der Banken zu zwingen? Wer will die Welt regieren?

Nur zum Atemholen: die da über die brutalen Eingriffe in ihre Freiheit schimpfen, tuen es, während sie nicht verhaftet, erschossen oder sonstwie verletzt werden. Es wurden keine Parteien verboten, keine Wahlen abgesagt, keine Zeitungen verboten.

Was ist mit uns los? Wir haben Glück, nicht so viele Tote wie New York oder Bergamo oder wer weiß wo. Wir haben Glück im Unglück. Ein wohlhabendes Land mit medizinischer Versorgung für jeden, auch wenn es Privatversicherte unverdient besser haben. Wir hatten einen bequemen Lockdown, mit Spaziergängen und der Möglichkeit jederzeit Lebensmittel u.ä. einzukaufen. Hier wird niemand verhungern. Das ist anderswo anders. In Indien, im Iran, in New York.
 
Vielleicht geht es einfach vorbei, vielleicht kommt die gefürchtete Zweite Welle. Wer weiß es.
Und das ist der Punkt. Ich weiß es nicht. Und scheinbar weiß es niemand mit Sicherheit. Also wasche ich brav meine Hände und stülpe eine blöde Maske über mein Gesicht. 
Und abschließend ohne direkten Zusammenhang, zum Muttertag, ein Photo, das ich liebe: