Dienstag, 20. November 2012

Fetzen einer Erinnerung - Die Hamletmaschine



Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.

Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:
Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden? Sterben – schlafen –

Nichts weiter! Und zu wissen, daß ein Schlaf
Das Herzweh und die tausend Stöße endet,
Die unsers Fleisches Erbteil, ’s ist ein Ziel,
Aufs innigste zu wünschen. Sterben – schlafen –
Schlafen! Vielleicht auch träumen! Ja, da liegts:

August Wilhelm von Schlegel 

To be or not to be, that is the question:
Whether 'tis nobler in the mind to suffer
The slings and arrows of outrageous fortune,
Or to take arms against a sea of troubles,
And by opposing, end them? To die: to sleep;

No more; and by a sleep to say we end
The heart-ache and the thousand natural shocks
That flesh is heir to, ’tis a consummation
Devoutly to be wish’d. To die, to sleep;
To sleep: perchance to dream: ay, there’s the rub;

William Shakespeare

Hamlet und Ophelia von Dante Gabriel Rossetti

Einst trug Hamlet schwarze Samtpantalons und litt an der Welt. So komplizert es war, war es doch auch einfach, böser feudalistischer Onkel hier, humanistischer Verzweifler dort. 
Und "there's the rub" zu deutsch "Ja, da liegt’s" oder "da liegt der Hase im Pfeffer", wie es die idiomatische Übersetzung sagt, oder "ja da steckts", wie es Dresen schreibt, oder 
"da ist der Hund begraben" wie es Müller übersetzt, oder "da ist der Haken", wie ich es übersetzen würde, der Haken, an dem man sich erhängen könnte, zersprengte eine Vorstellungswelt christlicher Sicherheit vom Leben nach dem Tod und fairer Belohnung eines rechten Lebens. Am Ende des 20. Jahrhunderts schrieb Heiner Müller "Die Hamletmaschine". Ewas war vorgefallen, das alle bisherige Deutung in Frage stellte. 
Dieses ETWAS zersprengt unser Denken, entläßt uns in die Zeit nach dem der Haken eingeschlagen worden, der Strick geknüpft und der Stuhl bereit gestellt ist. 
 


HEINER MÜLLER: DIE HAMLETMASCHINE
 
1

FAMILIENALBUM 

Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und sprach mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. Die Glocken läuteten das Staatsbegräbnis ein, Mörder und Witwe ein Paar, im Stechschritt hinter dem Sarg des hohen Kadavers die Räte, heulend in 
schlecht bezahlter Trauer WER IST DIE LEICHE IM LEICHENWAGEN / UM WEN HÖRT MAN VIEL SCHREIN UND KLAGEN / DIE LEICHE IST EINES GROSSEN / 
GEBERS VON ALMOSEN Das Spalier der Bevölkerung, Werk seiner Staatskunst 
ER WAR EIN MANN NAHM ALLES NUR VON ALLEN. Ich stoppte den Leichenzug, stemmte den Sarg mit dem Schwert auf, dabei brach die Klinge, mit dem stumpfen gelang es, und verteilte den toten Erzeuger FLEISCH UND FLEISCH GESELLT SICH GERN an die umstehenden Elendsgestalten. Die Trauer ging in Jubel über, der Jubel in Schmatzen, auf dem leeren Sarg besprang der Mörder die Witwe SOLL ICH DIR HINAUFHELFEN ONKEL MACH DIE BEINE AUF MAMA. Ich legte mich auf den Boden und hörte die Welt ihre Runden drehen im Gleichschritt der Verwesung.
I’M GOOD HAMLET GI’ME A CAUSE FOR GRIEF
AH THE WHOLE GLOBE FOR A REAL SORROW
RICHARD THE THRID I THE PRINCEKILLING KING
OH MY PEOPLE WHAT HAVE I DONE UNTO THEE
WIE EINEN BUCKEL SCHLEPP ICH MEIN SCHWERES GEHIRN ZWEITER CLOWN IM KOMMUNISTISCHEN FRÜHLING SOMETIHING IS ROTTEN IN THIS AGE OF HOPE

LET’S DELVE IN EARTH AND BLOW HER AT THE MOON
Hier kommt das Gespenst das mich gemacht hat, das Beil noch im Schädel. Du kannst deinen Hut aufbehalten, ich weiß, dass du ein Loch zu viel hast. Ich wollte, meine Mutter hätte eins zu wenig gehabt, als du im Fleisch warst: Ich wäre mir erspart geblieben. Man sollte die Weiber zunähn, eine Welt ohne Mütter. Wir könnten einander in Ruhe abschlachten, und mit einiger Zuversicht, wenn uns das Leben zu lang wird oder der Hals zu eng für unsere Schreie. Was willst du von mir. Hast du an einem Staatbegräbnis nicht genug. Alter Schorrer. Hast du kein Blut an den Schuhn. Was geht mich deine Leiche an. Sei froh, dass der Henkel heraussteht, vielleicht kommst du in den Himmel. 

Worauf wartest du. Die Hähne sind geschlachtet. Der Morgen findet nicht mehr statt.
SOLL ICH
WEILS BRAUCH IST EIN STÜCK EISEN STECKEN IN
DAS NÄCHSTE FLEISCH ODER INS ÜBERNÄCHSTE
MICH DRAN ZU HALTEN WEIL DIE WELT SICH DREHT
HERR BRICH MIR DAS GENICK IM STURZ VON EINER BIERBANK
Auftritt Horatio. Mitwisser meiner Gedanken, die voll Blut sind, seit der Morgen verhängt ist mit dem leeren Himmel
DU KOMMST ZU SPÄT MEIN FREUND FÜR MEINE GAGE /
KEIN PLATZ FÜR DICH IN MEINEM TRAUERSPIEL.
Horatio, kennst du mich. Bist du mein Freund, Horatio. Wen du mich kennst, wie kannst du mein Freund sein. Willst du den Polonius spielen, der bei seiner Tochter schlafen will, die reizende Ophelia, sie kommt auf ihr Stichwort, sieh wie sie den Hintern schwenkt, eine tragische Rolle. HoratioPolonius. Ich wusste, dass du ein

Schauspieler bist. Ich bin es auch, ich spiele Hamlet. Dänemark ist ein Gefängnis, 
zwischen uns wächst eine Wand. Sieh was aus der Wand wächst. Exit Polonius. Meine Mutter ist die Braut. Ihre Brüste ein Rosenbeet, der Schoß die Schlangengrube. Hast du deinen Text verlernt, Mama. Ich souffliere WASCH DIR DEN MORD AUS DEM GESICHT MEIN PRINZ / UND MACH DEM NEUEN DÄNMARK SCHÖNE AUGEN Ich werde dich wieder zur Jungfrau machen, Mutter, damit der König eine blutige Hochzeit hat. DER MUTTERSCHOSS IST KEINE EINBAHNSTRASSE. Jetzt binde ich dir die Hände auf den Rücken, weil mich ekelt vor deiner Umarmung, mit deinem Brautschleier. Jetzt zerreiße ich dein Brautkleid. Jetzt musst du schreien. Jetzt beschmiere ich die Fetzen deines 
Brautkleids mit der Erde, die mein Vater geworden ist, mit den Fetzen dein Gesicht deinen Bauch deine Brüste. Jetzt nehme ich dich, meine Mutter, in seiner, meines Vaters, unsichtbaren Spur. Deinen Schrei ersticke ich mit meinen Lippen. Erkennst du die Frucht deines Leibes. Jetzt geh in deine Hochzeit, Hure, breit in der dänischen Sonne, die auf Lebendige und Tote scheint. Ich will die Leiche in den Abtritt stopfen, dass der Palast erstickt in königlicher Scheiße. Dann lass mich dein Herz essen, Ophelia, das meine 
Tränen weint.

2
DAS EUROPA DER FRAU
 

Enormous room. Ophelia. Ihr Herz ist eine Uhr. 

OPHELIA [CHOR / HAMLET]
Ich bin Ophelia. Die der Fluss nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd. Gestern habe ich aufgehört mich zu töten. Ich bin allein 

mit meinen Brüsten meinen Schenkeln meinem Schoß. Ich zertrümmere die Werkzeuge meiner Gefangenschaft den Stuhl den Tisch das Bett. Ich zerstöre das Schlachtfeld das mein Heim war. Ich reiße die Türen auf, damit der Wind herein kann und der Schrei der Welt. Ich zerschlage das Fenster. Mit meinen blutenden Händen zerreiße ich die Fotografien der Männer die ich geliebt habe und die mich gebraucht haben auf dem Bett 
auf dem Tisch auf dem Stuhl auf dem Boden. Ich lege Feuer an mein Gefängnis. Ich 
werfe Kleider in das Feuer. Ich grabe die Uhr aus meiner Brust, die mein Herz war. 
Ich gehe auf die Straße, gekleidet in mein Blut. 

3
SCHERZO

Universität der Toten. Gewisper und Gemurmel. Von ihren Grabsteinen (Kathedern) aus werfen die toten Philosophen ihre Bücher auf Hamlet. Galerie (Ballett) der toten Frauen. 
Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern usw. Hamlet betrachtet 
sie mit der Haltung eines Museums(Theater )-Besuchers. Die toten Frauen reißen ihm die Kleider vom Leib. Aus einem aufrechtstehenden Sarg mit der Aufschrift HAMLET 1 treten Claudius und, als Hure gekleidet und geschminkt, Ophelia. Striptease von Ophelia.

OPHELIA
Willst du mein Herz essen, Hamlet.
Lacht. HAMLET Hände vorm Gesicht:
Ich will eine Frau sein.
Hamlet zieht Ophelias Kleider an, Ophelia schminkt ihm eine Hurenmaske, Claudius, jetzt Hamlets Vater, lacht ohne Laut, Ophelia wirft Hamlet eine Kusshand zu und tritt mit Claudius/Hamlet Vater zurück in den Sarg. Hamlet in Hurenpose. Ein Engel, das Gesicht im Nacken: Horatio. Tanzt mit Hamlet.

STIMME(N) aus dem Sarg:
Was du getötet hast sollst du auch lieben.
Der Tanz wird schneller und wilder. Gelächter aus dem Sarg. Auf einer Schaukel die Madonna mit dem Brustkrebs. Horatio spannt einen Regenschirm auf, umarmt Hamlet. Erstarren in der Umarmung unter dem Regenschirm. Der Brustkrebs strahlt wie eine Sonne.


4
PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND

Raum 2, von Ophelia zerstört. Leere Rüstung, Beil im Helm.

HAMLET
Der Ofen blakt im friedlosen Oktober
A BAD COLD HE HAD OF IT JUST THE WORST TIME
JUST THE WORST TIME OF THE YEAR FOR A REVOLUTION
Durch die Vorstädte Zement in Blüte geht
Doktor Schiwago weint
Um seine Wölfe
IM WINTER MANCHMAL KAMEN SIE INS DORF
ZERFLEISCHTEN EINEN BAUERN


legt Maske und Kostüm ab.


HAMLETDARSTELLER
Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. Meine Gedanken saugen den Bildern das Blut aus. Mein Drama findet nicht mehr statt. Hinter mir wird die Dekoration aufgebaut. Von Leuten, die mein Drama nicht interessiert, für Leute, die es nichts angeht. Mich interessiert es auch nicht mehr. 

Ich spiele nicht mehr mit. Bühnenarbeiter stellen, vom Hamletdarsteller unbemerkt, einen Kühlschrank und drei Fernsehgeräte auf. Geräusche der Kühlanlage. 
Drei Programme ohne Ton. Die Dekoration ist ein Denkmal. Es stellt in hundertfacher Vergrößerung einen Mann dar, der Geschichte gemacht hat. Die Versteinerung einer Hoffnung. Sein Name ist auswechselbar. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Das Denkmal liegt am Boden, geschleift drei Jahre nach dem Staatsbegräbnis des Gehassten und Verehrten von seinen Nachfolgern in der Macht. Der Stein ist bewohnt. In den geräumigen Nasen- und Ohrlöchern, Haut- und Uniformfalten des zertrümmerten Standbilds haust die ärmere Bevölkerung der Metropole. Auf den Sturz des Denkmals folgt nach einer angemessenen Zeit der Aufstand. Mein Drama, wenn es noch stattfinden würde, fände in der Zeit des Aufstands statt. Der Aufstand beginnt als Spaziergang. Gegen die Verkehrsordnung während der Arbeitszeit. Die Straße gehört den Fußgängern. 
Hier und da wird ein Auto umgeworfen. Angsttraum eines Messerwerfers: 
Langsame Fahrt durch eine Einbahnstraße auf einen unwiderruflichen Parkplatz zu, 
der von bewaffneten Fußgängern umstellt ist. Polizisten, wenn sie im Weg stehen, 
werden an den Straßenrand gespült. Wenn der Zug sich dem Regierungsviertel nähert, kommt er an einem Polizeikordon zum Stehen. Gruppen bilden sich, aus denen Redner aufsteigen. Auf dem Balkon eines Regierungsgebäudes erscheint ein Mann mit
schlecht sitzendem Frack und beginnt ebenfalls zu reden. Wenn ihn der erste Stein trifft, zieht auch er sich hinter die Flügeltür aus Panzerglas zurück. Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung. Man beginnt die Polizisten zu entwaffnen, stürmt zwei drei Gebäude, ein Gefängnis eine Polizeistation ein Büro der Geheimpolizei, hängt ein dutzend Handlanger der Macht an den Füßen auf, 
die Regierung setzt Truppen ein, Panzer. Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber. Ich stehe im Schweißgeruch der Menge und werfe Steine auf Polizisten Soldaten Panzer Panzerglas. 
Ich blicke durch die Flügeltür aus Panzerglas auf die andrängende Menge und rieche meinen Angstschweiß. Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust gegen mich, der hinter der Glastür steht. Ich sehe, geschüttelt von Furcht und Verachtung, in der andrängenden Menge mich, Schaum vor meinem Mund, meine Faust gegen mich schütteln. Ich hänge mein uniformiertes Fleisch an den Füßen auf. Ich bin der Soldat im Panzerturm, mein Kopf ist leer unter dem Helm, der erstickte Schrei unter den Ketten. Ich bin die Schreibmaschine. Ich knüpfe die Schlinge, wenn die Rädelsführer aufgehängt werden, ziehe den Schemel weg, breche mein Genick. Ich bin mein Gefangener. Ich füttere mit meinen Daten die Computer. Meine Rollen sind Speichel und Spucknapf Messer und Wunde Zahn und Gurgel Hals und Strick. Ich bin die Datenbank. Blutend in der Menge. Aufatmend hinter der Flügeltür. Wortschleim absondernd in meiner schalldichten Sprechblase über der Schlacht. Mein Drama hat nicht stattgefunden. Das Textbuch ist verloren gegangen. Die Schauspieler haben ihre Gesichter an den Nagel in der 
Garderobe gehängt. In seinem Kasten verfault der Souffleur. Die ausgestopften 
Pestleichen im Zuschauerraum bewegen keine Hand. Ich gehe nach Hause und 
schlage die Zeit tot, einig/ Mit meinem ungeteilten Selbst.
Fernsehn Der tägliche Ekel Ekel
Am präparierten Geschwätz Am verordneten Frohsinn
Wie schreibt man GEMÜTLICHKEIT
Unseren täglichen Mord gib uns heute
Denn dein ist das Nichts Ekel
An die Lügen die geglaubt werden
Von den Lügnern und niemand sonst Ekel
An die Lügen die geglaubt werden Ekel
An die Visagen der Macht gekerbt
Vom Kampf um die Posten Stimmen Bankkonten
Ekel Ein Sichelwagen der von Pointen blitzt
Geh ich durch die Straßen Kaufhallen Gesichter
Mit den Narben der Konsumschlacht Armut
Ohne Würde Armut ohne die Würde
Des Messers des Schlagrings der Faust
Die erniedrigten Leiber der Frauen
Hoffnung der Generationen
In Blut Feigheit Dummheit erstickt
Gelächter aus toten Bäuchen
Heil COCA COLA
Ein Königreich
Für einen Mörder
ICH WAR MACBETH DER KÖNIG HATTE MIR SEIN DRITTES KEBSWEIB 

ANGEBOTEN ICH KANNTE JEDES MUTTERMAL AUF IHRER HÜFTE RASKOLNIKOW AM HERZEN UNTER DER EINZIGEN JACKE DAS BEIL FÜR DEN / EINZIGEN / SCHÄDEL DER PFANDLEIHERIN
In der Einsamkeit der Flughäfen Atme ich auf Ich bin
Ein Privilegierter Mein Ekel
Ist ein Privileg

Beschirmt die Mauer
Stacheldraht Gefängnis
Fotografie des Autors.
Ich will nicht mehr essen trinken atmen eine Frau lieben einen Mann ein Kind ein Tier. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten.


Zerreißung der Fotografie des Autors.

Ich breche mein versiegeltes Fleisch auf. Ich will in meinen Adern wohnen, im Mark 
meiner Knochen, im Labyrinth meines Schädels. Ich ziehe mich zurück in meine Eingeweide. Ich nehme Platz in meiner Scheiße. Irgendwo werden Leiber zerbrochen, 
damit ich wohnen kann in meiner Scheiße. Irgendwo werden Leiber geöffnet, damit ich allein sein kann mit meinem Blut. Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn. Mein Gehirn ist eine Narbe. Ich will eine Maschine sein. Arme zu greifen Beine zu gehn kein Schmerz kein Gedanke.
Bildschirme schwarz. Blut aus dem Kühlschrank. Drei nackte Frauen: Marx Lenin Mao. Sprechen gleichzeitig jeder in seiner Sprache den Text 

ES GILT ALLE VERHÄLTNISSE UMZUWERFEN, IN DENEN DER MENSCH...

 Hamletdarsteller legt Kostüm und Maske an.

HAMLET DER DÄNE PRINZ UND WURMFASS STOLPERND VON LOCH ZU LOCH 
AUFS LETZTE LOCH ZU LUSTLOS IM RÜCKEN DAS GESPENST DAS IHN GEMACHT HAT GRÜN WIE OPHELIAS FLEISCH IM WOCHENBETT
UND KNAPP VORM DRITTEN HAHNENSCHREI ZERREISST
EIN NARR DAS SCHELLENKLEID DES PHILOSOPHEN
KRIECHT EIN B ELEIBTER BLUTHUND IN DEN PANZER


Tritt in die Rüstung, spaltet mit dem Beil die Köpfe von Marx Lenin Mao. Schnee. Eiszeit.


5
WILDHARREND / IN DER FURCHTBARREN RÜSTUNG / JAHRTAUSENDE
Tiefsee. Ophelia im Rollstuhl. Fische Trümmer Leichen und Leichenteile treiben vorbei.
 

OPHELIA
 

Während zwei Männer in Arztkitteln sie und den Rollstuhl von unten nach oben in Mullbinden schnüren. 

Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer. Ich stoße allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. 
Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand der Tod. Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.
Männer ab. Ophelia bleibt auf der Bühne, reglos in der weißen Verpackung. 
 

Montag, 19. November 2012

Max Beckmann - Was für eine Fresse


Kunst ist eine grausame Angelegenheit, deren Rausch bitter bezahlt werden muß.


Ein Gesicht wie eine Waffe und doch liefert er sich schutzlos dem Betrachter aus.




Selbstportrait 1901


... Ich amüsiere mich oft über meinen eigenen blödsinnig zähen Willen zum Leben und zur Kunst. Ich sorge wie eine liebende Mutter für mich, spucke, würge, stoße, drängle, ich muß leben, und ich will leben. Ich habe niemals bei Gott oder so etwas mich gebückt, um Erfolg zu haben, aber ich würde mich durch sämtliche Kloaken der Welt, durch sämtliche Erniedrigungen und Schändungen hindurchwinden, um zu malen. Ich muß das. Bis auf den letzten Tropfen muß alles, was an Formvorstellung in mir lebt, raus aus mir, dann wird es mir ein Genuß sein, diese verfluchte Quälerei loszuwerden. M. B.

Selbsportrait 1923

Nahaufnahme

Da wir immer noch nicht wissen, was dieses “Ich” wirklich ist, dieses Ego, das dich und mich, jeden in seiner Art bildet, müssen wir tiefer und tiefer in seiner Entdeckung vordringen. Denn das “Ich” ist das größte und verschleiertste Geheimnis der Welt. David Hume und Herbert Spencer haben das “Ich” auf eine Reihe von Vorstellungen zurückgeführt, an deren Ende sie nichts finden können. Nun, ich glaube an das “Ich” in seiner ewigen und unvergänglichen Form, dessen Wege in unbegreiflicher Art unsere Wege sind. Aus diesem Grunde interessiere ich mich für das Individuum, das gesamte sogenannte Individuum, und suche es auf jede Weise zu ergründen und darzustellen. Was bist du? Was bin ich ? Das sind die Fragen, die mich unaufhörlich verfolgen und quälen, aber vielleicht auch zu meiner künstlerischen Arbeit beitragen.

Max Beckmann, seine Zitate und Quotes von: Beitrag von ‘Über meine Malerei’, Vortrag, in den New Burlington Galleries, London, 1938, – “Schriften und Gespräche”, S. 49 -50 

Selbstportrait mit Horn 1938 
© Adagp

 Selbstportrait mit Handschuhen 1948

Sonntag, 18. November 2012

Volkstrauertag - Ein stiller Tag


  Wiki sagt:  
  Der Volkstrauertag ist in Deutschland ein staatlicher Gedenktag 
  und gehört zu den „Stillen Tagen“. Er wird seit 1952 zwei Sonntage vor 
  dem ersten Adventssonntag begangen und erinnert an die Kriegstoten 
  und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen. 
  
  Auch wieder einer dieser verqueren artifiziellen Erinnerungsfeiertage. 
  Heute denken wir mal alle an Tote, aber nur an solche, die durch 
  Waffengewalt oder anderweitige staatliche Brutalisierung ums 
  Leben gekommen sind. An die übrigen Toten denken wir heute nicht!
  An die anderen Verstorbenen können wir ja an Allerseelen 
  oder am Totensonntag denken, je nach Konfession. Oder wir nutzen 
  Jom haScho'a speziell für die Opfer des Holocaust und des 
  jüdischen Widerstandes, oder Qingming, den Tag an dem viele 
  Chinesen die Gräber ihrer Vorfahren reinigen und schmücken. Oder
  einen Tag, eine Stunde, eine Minute nur mal so, rein privat, 
  sozusagen freiwillig.

  Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge schickt meiner Mutter in 
  schöner Regelmäßigkeit Geldbittbriefe, er hat diesen Feiertag 1919
  "erfunden", was verständlich ist, bedenkend, dass die Zahl der
  durch ihn zu versorgenden Gräber in den 5 Jahren zuvor um eine 
  erschreckende Zahl gewachsen war. Man geht von etwa zwei 
  Millionen gefallenen, vermissten, nicht mehr auffindbaren, zerfetzten,
  verreckten, zerschossenen, vergasten deutschen Soldaten im Ersten 
  Weltkrieg aus, der ja damals, in seliger Nichtkenntnis des Kommenden,
  nur einfach Weltkrieg hieß. Gerade im September 2011 haben
  Archäologen noch die Überreste von 21 toten deutschen Soldaten im
  Elsass geborgen.Der Musketier Martin Heidrich aus Schönfeld und der
  Gefreite Harry Bierkamp, der am 18. Januar 1896 in Hamburg 
  geboren wurde, zum Zeitpunkt des Todes am 18. März 1918 gerade 22 
  also Jahre alt war, wurden Opfer eines Minenangriffs, der wiederum 
  die Reaktion auf eine Senfgasattacke war.  


  Wäre es nicht besser einen Volkswuttag einzuführen, einen lauten Tag,
  an dem wir uns lauthals über den Irrsinn des Krieges erregen? Politiker
  anbrüllen und Generäle? Allein im 20. Jahrhundert starben zwischen
  100 bis 185 Millionen (100 000 000 - 185 000 000) Menschen in Folge
  von Kriegshandlungen.  

GRODEK
 
Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düster hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt,
Das vergossne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre,
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.

Georg Trakl 1914
Dies war sein letztes Gedicht. 
  
  Im August 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Trakl wurde als 
  Militärapotheker ins Heer einberufen. Er erlebte die Schlacht bei 
  Grodek mit. Dabei hatte er fast einhundert Schwerverwundete 
  unter schlechten Bedingungen allein und ohne zureichendes 
  Material zu versorgen. Zwei Tage und zwei Nächte arbeitete 
  er in dem Lazarett, das später in der Presse als eine der 
  „Todesgruben von Galizien“ bezeichnet wurde. Trakl hatte 
  keine Möglichkeit, den Sterbenden zu Hilfe zu kommen, 
  was ihn in Verzweiflung stürzte. Nach dem Zeugnis seiner 
  Vorgesetzten waren eine halbe Stunde vor der Schlacht dreizehn 
  Ruthenen auf Bäumen vor dem Zelt gehängt worden. 
  Trakl erlitt daraufhin einen Nervenzusammenbruch.  
  Ein Suizidversuch wurde verhindert und Trakl wurde zur 
  Beobachtung seines Geisteszustandes in ein Krakauer 
  Militärhospital eingewiesen. Am Abend des 3. November 1914 
  starb er dort nach Einnahme einer Überdosis Kokain an Herzstillstand.
  Quelle: Wiki

  „Der Mord ist ein Verbrechen, wenn ein einzelner ihn begeht; aber
  man ehrt ihn als Tugend und Tapferkeit, wenn ihn viele begehen! Also
  nicht mehr Unschuld sichert Straflosigkeit zu, sondern die Größe des 
  Verbrechens!“
  Cyprian von Karthago
   

Eugen Onegin in der Schaubühne


Eugen Onegin, der Mann ohne Eigenschaften, der "Ästhet des Nihilismus" *, einer, der die gefühlte, ihn überwältigende Leere der Welt verneinen will durch die vollständige Perfektionierung seiner äußeren Erscheinung und Lebensweise, einer der Nein sagt, bevor ihm etwas verweigert werden kann, an das er sowieso nicht glauben kann, einer der der Sinnlosigkeit des Daseins die vollständige und kunstvolle Durchorganisation der eigenen Nutzlosigkeit entgegenstellt. Sein Nein wird ihm zum Todesurteil, denn die Liebe erträgt kein Nein, auch oder gerade indem sie es anerkennt. 

 Eine wunderbare Geschichte der Verzweiflung, vorgestellt in der Schaubühne in einer Inszenierung von Alvis Hermanis.

„Der Dandy ist ein Mann, dessen Status, Arbeit und Existenz im Tragen von Kleidung besteht. Er widmet jedes Vermögen seiner Seele, seines Geistes, seiner Geldbörse und seiner Person heldenhaft der Kunst, seine Kleidung gut zu tragen: Während die anderen sich kleiden um zu leben, lebt er, um sich zu kleiden.“  Thomas Carlyle in Sartor Resartus, 1834


George Bryan ‘Beau’ Brummel, der "Erfinder" des Dandytums

Ich betrete den Theaterraum und bin froh. Die Bühne ist alt und neu. Alt, weil sie geradezu naturalistisch ist in ihrer Detailverliebtheit die Zeit des Stückes betreffend, also etwa um 1800. Und doch neu, weil sie mir all diese Kostbarkeiten flächig angeordnet, sozusagen direkt an die Rampe liefert. Auftritt von fünf Schauspielern in Alltagskleidung, die mir durch vielerlei historische Texte und Fakten einen Weg in die fremde Zeit bahnen. Waschen war verpönt, Zahnpflege bestand im Auftragen von schwarzer Schutzpaste und dem gelegentlichen Putzen der vorderen, sichtbaren Zähne. Das macht Spaß, überrascht und die projezierten historischen Photos vervollständigen das Erlebnis zur googleartigen Reise in einer Theater-Zeitmaschine. So weit, so gut.
Dann beginnen sich die Spieler in die zeitgemäße "Verkleidung" zu verkleiden und da fängt es an zu hapern.
Denn merkwürdigerweise nimmt die Inszenierung die eigenen Vorgaben nicht mehr ernst. Ein Korsett, beschrieben als atemberaubendes, körperzerstörendes Instrument der Folter zur Erreichung eines imaginierten Ideals, wird harmlosigst und hilfreich von Gardrobieren angelegt. Kein Schmerz, keine wirkliche Behinderung, nur Zeichen. Der Text wird illustriert und Mitgefühl oder Zorn stellt sich nicht ein. Dem Vergnügen der ersten 20 Minuten folgt lauwarmes Rezitieren der Puschkintexte. Eine grandiose Idee verflüchtigt sich in Bebilderung. Schade.

Albert Camus sagte:
Der Dandy erschafft sein Selbst mit Hilfe der Ästhetik. Aber es ist eine Ästhetik der Verneinung. "Zu leben und zu sterben vor einem Spiegel":, das ist Baudelaire zufolge, das Motto des Dandys. Es ist wahrhaftig ein schlüssiges Motto. Der Beruf des Dandys ist es in Opposition zu sein. Er kann nur durch Widerspruch existieren. Bisher leitete der Mensch seine Selbsverständnis vom Erschaffer her. Aber von dem Moment an, wo er sich seiner Abtrennung vom IHM widmete, fand er sich dem vergänglichen Moment ausgeliefert, den vergehenden Tagen und den vergeudeten Empfindsamkeiten. Darum muß er sich selbst in die Hand nehmen. Der Dandy versammelt seine Kräfte um sich unnd erschafft eine Einheit für sich durch die Gewalt seiner Verweigerung. Gesinnungslos, wie alle ohne Lebensinhalt, ist er nur stimmig als Schauspieler. Aber ein Schauspieler schließt ein Publikum ein; der Dandy kann seine Rolle nur spielen indem er sich in Opposition setzt. Er kann sich der eigenen Existenz nur versichern, indem er sie in den Gesichtern anderer Leute findet. Andere Menschen sind sein Spiegel. Ein Spiegel der schnell trüb wird, da die menschliche Aufmerksamkeitsspanne kurz ist. Sie muß ständig stimuliert werden, angestachelt durch Provokation. Der Dandy muß also ständig Erstaunen auslösen.Außergewöhnlichkeit ist seine Berufung, Exzess sein Weg zur Perfektion. Auf ewig unfertig zwingt er die anderen ihn zu erschaffen, gleichzeitig ihe Werte verneinend. Er spielt mit dem Leben, weil er es nicht leben kann.
Warum klingt das so heutig? Der TREND als Schutzraum vor der befürchteten Sinnlosigkeit des Daseins? Die individuelle Ästhetisierung der eigenen Erscheinung als Defensivwaffe gegen die verachtete Beliebigkeit. Die ganz wunderbaren Darsteller des heutigen Abends wurden nicht dazu verführt, diese Fragen gründlich zu untersuchen. Der Onegin Darsteller mußte seine Lebenskrise sogar dadurch bebildern, dass er "sein Korsett nicht loswurde"! Aber solche Fragen überhaupt zu stellen, ist schon ein freudiges Ereignis. Oder?



"Dem den ich liebe, wünsche ich es  frei zu sein -- sogar von mir."

" Him that I love, I wish to be free -- even from me." 
Ann Morrow Lindbergh 
* Jean Baudrillard

Freitag, 16. November 2012

Vorigen Handschuh verlor ich meinen Herbst


Vorigen Handschuh verlor ich in meinem Herbst

 Vorigen Handschuh verlor ich in meinem Herbst
   da ging ich drei Tage finden, eh´ ich ihn suchte
                     Da kam ich an eine Guck und lochte hinein
da saßen drei Stühle auf drei Herrendie aßen Kaffee und tranken Kuchen
      Da nahm ich meinenTag ab und sagte:
     "Guten Hut, meine Herren!"
                       Und da bauchten sie
                  daß ihnen der Lach platzte
Da gab ich ihnen drei Lagen Strümpfe
     und sagte, sie sollten mir Garn stricken
   Da ging ich weiter und kam an einen See
        Da standen drei funkelnagelneue Schiffe
      Das erste war durchlöchert
das zweite hatte keinen Boden
                und das dritte war gar nicht da
Da stieg ich in das, was gar nicht da war
              und fuhr ans jenseitige Ufer
Da kam ich an eine steinerne Kirche
                    die aus Holz erbaut war
 Drin predigte ein blaupapierner Pfarrer folgendermaßen:
             Als einst die Weser brannte
 und die tollen Hunde kein Stroh zum Löschen fanden
 Kam eine Bauersfrau auf einem ungesalzenen Faß Butter dahergeritten
 und stieg auf einen Maulbeerbaum
 und pflückte sich die Taschen voll Äpfel
                                          und als sie sich die Taschen voll Birnen gepflückt hatte
    stieg sie von dem Zwetschgenbaum
 Da rief ihr der Bauer des nächsten Dorfes zu
 dem der Flachs gehörte:
            "Hennesm gehst aus meinen Schoten!"
Da packte sie eiligst ihre Borstäpfel zusammen
                                                                      und lief von dannen

bei Lewalter , mündlich aus Kassel um 1911, Nr. 493 


                                                                                                 
                    Paul Klee 1939 Ein Kinderspiel             

   Gedicht in Bi-Sprache
 
   Ibich habibebi dibich,
   Lobittebi, sobi liebib.
   Habist aubich dubi mibich
   Liebib? Neibin, vebirgibib.

   Nabih obidebir febirn,
   Gobitt seibi dibir gubit.
   Meibin Hebirz habit gebirn
   Abin dibir gebirubiht.

   Joachim Ringelnatz 

   aus: Deutsche Unsinnspoesie, Hrsg: Klaus Peter Dencker, Philipp Reclam jun. Stuttgart1978
 

Donnerstag, 15. November 2012

Ode an die Freude - Alfred Eisenstaedt


  Warnung: heute mit Pathos!

  ALFRED EISENSTAEDT


  Der Time-Life Reporter David Friend betitelte ein Essay über 

  den Photographen: "Eisenstaedts Ode an die Freude". 
  Die Freude ist eine Beglückung, eine helle oder heitere Stimmung, 
  ein Frohgefühl, sagt Wiki. Und Graham Greene wiederum schrieb im 
  "Ende einer Affaire": Das Gefühl unglücklich zu sein, läßt sich so viel 
  leichter mitteilen, als das des Glücks. Im Leid scheinen wir uns 
  unserer Existenz bewusst zu sein, auch wenn es in der Form eines 
  monströsen Egoismus ist: Dieser Schmerz ist meiner, dieser Nerv, 
  der zuckt, gehört zu mir und niemandem sonst. Aber Glücklichsein 
  löscht uns aus: wir verlieren unsere Identität." 
  Vielleicht stimmt das. Glücklich sind wir in Konzentration auf einen 
  anderen, auf etwas anderes. In der Liebe, in der Großzügigkeit, im 
  Augenblick der Entstehung von etwas Neuem oder Überraschendem
  beim Anblick von Schönheit, sei es der eines Baumes, eines Himmels, 
  eines Regens oder eines dieser verblüffend großartigen Kinder, die 
  man manchmal trifft.
  Auslöschen klingt mir zu angstvoll und absichtlich, nennen wir es, 
  wir vergessen uns für einen Moment. Selbstvergessen, auch so ein 
  Wort, dass mir selten unterkommt.
  Die Amerikaner haben einen unerwarteten Satz in 
  ihrer  Unabhängigkeitserklärung: "Wir halten diese Wahrheiten 
  für offensichtlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass 
  der Schöpfer ihnen bestimmte unveräußerliche Rechte verliehen hat, 
  zu denen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören." 
  Das Recht auf das Streben nach Glück! Man kann es, leider, auch 
  mit Jagd nach dem Glück oder Verfolgung des Glücks übersetzen. 
  Erschafft Sprache dann Realität? Das Streben nach dem Glück ist aktiv, 
  das Glücklichsein aber kann es nicht sein. Dem Glück liefern wir uns aus.

  We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, 
  that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, 
  that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.

  Wem der große Wurf gelungen,
  Eines Freundes Freund zu sein;
  Wer ein holdes Weib errungen,
  Mische seinen Jubel ein!
  Ja  -  wer auch nur eine Seele
  Sein nennt auf dem Erdenrund!
  Und wer's nie gekonnt, der stehle
  Weinend sich aus diesem Bund!



30. Oktober 1950, im Life Magazin. Tambourmajor und sieben Kinder 
 
 
Life Magazin, 1. Januar 1973, Die Tochter von Allen Cook Guckt auf das Maul eines frischgefangenen gigantischen Fisches
 

Dienstag, 13. November 2012

Max Ernst - Eine Woche der Güte




Wenn die Kunst ein Spiegel der Zeit ist, so muss sie wahnsinnig sein.
Max Ernst

Une semaine de bonté ou Les septs éléments capitaux - Eine Woche der Güte oder Die sieben Hauptelemente
Erschienen 1934


Alphonse d'Ennery Illustration of Martyre
Max Ernst der Hof des Drachen 7
© Isidore Ducasse Fine Arts

1933 - Max Ernst reist nach Italien, genauer nach dem Castello di Vigoleno in der Emiliana, dem Schloß der Gräfin Ruspoli. Im Gepäck, unter anderem, Bündel billiger viktorianischer Groschenromane mit comicartigen Holzschnitten von Mord, Totschlag und Leidenschaft, auch Kataloge und naturwissenschaftliche Journale aller Art, Miltons "Das verlorene Paradies" illustriert von Gustav Dore und eine Schere und wahrscheinlich Klebstoff. In nur drei Wochen erschafft er Un semaine de bonte, einen wortlosen Roman in sieben Abteilungen und fünf Heften oder Pamphleten, der 1934 in einer Auflage von 816 Kopien. Die Originale wurden 1936 im Museo Nacional de Arte Moderna in Madrid, öffentlich gezeigt und dann erst wieder 2008 in der Albertina in Wien.
Die gütige Woche "beginnt am Sonntag und endet am Sabbat, den Tagen sind sieben éléments capitaux zugeordnet, in Anlehnung an die sieben péchés capitaux,Todsünden."  (Zitiert aus dem Blog des ComicNeurotikers)

Erstes Heft. Sonntag. Element: Der Schlamm
Zweites Heft. Montag. Element: Das Wasser.
Drittes Heft. Dienstag. Element: Das Feuer. 
Viertes Heft. Mittwoch. Element: Das Blut.
Fünftes Heft. Donnerstag. Element: Das Schwarze.
                     Freitag. Element: Das Sehen.
                     Samstag. Element: Das Unbekannte.



1933 - Max Ernsts Bilder werden von den Nationalsozialisten als entartet erklärt. Wiki sagt: Das Wort „Entartung“ stammt ursprünglich aus dem Mittelhochdeutschen, wo es die Bedeutung „aus der Art schlagen“ hatte.






DIE GRÜNE TASCHE



  Ich habe mir heute eine GRÜNE TASCHE gekauft.

Sie ist riesig. Sie ist grün. Ungeheuer grün. Und innen golden. Mit ganz vielen Sonderfächern. Liebeskind, ein guter Labelname. Erstaunlich, dass Herr Joop 
trotz all der Straffung und Hautverknappung, so etwas Schönes erdenken kann.
Ich mag grün, besonders im Winter. Je gräulicher das Land, je ernsthafter die 
Bekleidung meiner Mitmenschen, desto bunter wird es mir. Nein, ich brauchte 
keine Tasche, aber ich brauchte diese Tasche. Ja, sie war zu teuer und bald wird 
sie auch zu voll sein. Wundersamerweise verlasse ich das Haus mit einer mäßig 
gefüllten Tasche und wenn ich das erste Mal irgendetwas, Portemonnaie, Schlüssel, Textbuch oder was weiss ich herausnehmen will, ist es zwischen den urplötzlich anwesenden tausenden Dingen, nicht zu finden. Aber das macht nichts, das gehört 
zum Leben, wie verschwundene zweite Socken in Waschmaschinen, blaue Strümpfe 
zum schwarzen Rock, weil morgens die Augen noch nicht so genau sind, Bücher die 
beim Lesen in der Badewanne in dieselbige fallen und getrocknet aussehen wie 
dickliche, wellige Früchte, aber doch noch lesbar sind. In meiner Tasche zu wühlen 
ist Teil meiner Taschenliebe. Manchmal finde ich Dinge, die ich schon monatelang 
verloren glaubte, denn das Umpacken von Tasche zu Tasche geschieht im Kippverfahren. Der Inhalt meiner Tasche beschreibt mich wahrscheinlich auf sehr intime Art
wird also hier nicht im Detail benannt. Aber zum Beispiel, als das Kind klein war, 
fanden sich da Pflaster, Notnähzeug, Tempos, eine kleine Schere und ungeordnete Buntstifte. Oder der eifrige, verkrampfte US-amerikanische Grenzbeamte, 
der meine 4cm lange Nagelfeile unter gefährliche Waffen einordnete 
und sie beschlagnahmte und mich mit dem Bild eines Piloten entließ, der, 
unter der Bedrohung, dass ihm sein Daumennagel abgefeilt wird, in panischer Angst 
gen Kuba fliegt.


 Das Grün ist im Original noch um einiges grüner!

Was ist das zwischen mir und Taschen? Ich habe Freundinnen, die lieben Schuhe, 
eine liebt die zerfetzte Tasche, die sie von ihrer Großmutter geerbt hat, 
meine Mutter hat mindestens 15 nicht sehr verschiedene schwarze Taschen,  
eine andere Freundin geht nicht aus dem Haus ohne einen Taschenhalterhaken, 
eine Konstruktion mit der sie ihre Handtasche neben sich an den Tisch hängen kann. 
Wie überleben Männer ohne Handtasche? Dicke Geldbörsen in der Arschtasche sehen 
blöd aus, Handgelenkschlenkertaschen sind eine modische und menschliche Katastrophe, Rucksäcke bei Männern über 25 auch. Benötigen Männer keine Taschentücher, 
Stadtpläne, Reisenotlektüre, kein Aspirin, keinen Lieblingsstein? Aktenkoffer sind Nahkampfwaffen, keine Lustobjekte
Und diese grässlichen, praktischen, kompakten Rollkoffer der internationalen Dienstreisendengemeinde sind doch auch kein persönliches Bekleidungsstück? Wohin stecken Männer ihre dingliche Persönlichkeit, wenn sie das Haus verlassen? 

Wiki sagt es wieder ganz besonders schön: Eine Tasche ist ein Behältnis zum 
Transportieren von Gegenständen. Taschen haben im Allgemeinen Griffe oder Henkel. 
Sie bestehen, je nach Art und Verwendungszweck, zumeist aus Leder oder anderen Qualitäten.

Die anderen Qualitäten sind es über die ich spreche.

"Das Gedicht ist die Tasche, in der du dein Herz trägst." Marko Pogačar