GEORGES SEURAT
SONNTAGNACHMITTAG AUF DER INSEL
LA GRANDE JATTE
Un dimanche après-midi à l'Île de la Grande Jatte
1884-1886 Art Institute of Chicago
Des kleinen Mannes höllisches Utopia
Der Kunstkritiker Jules Christophe schrieb 1890 in der Seurat gewidmeten Nummer 368 der Zeitschrift Les Hommes d'aujourd'hui
(Die Menschen von heute) in einem von Seurat persönlich mitgestalteten Artikel:
„An einem Nachmittag unter flimmerndem Sommerhimmel sehen wir die
glitzernde Seine, elegante Villen am gegenüberliegenden Ufer, kleine,
auf dem Fluß dahingleitende Dampfschiffe, Segelboote und ein Ruderboot.
Unter den Bäumen, ganz in unserer Nähe, gehen Leute spazieren, andere
sitzen
oder liegen faul im bläulichen Gras. Einige angeln. Wir sehen
junge Mädchen, ein Kinderfräulein, eine alte Großmutter unter einem
Sonnenschirm, die aussieht
wie Dante, einen Bootsmann, der faul
hingestreckt seine Pfeife raucht und dessen Hosenbeine von der hellen
Sonne regelrecht verschlungen werden.
Ein dunkelvioletter Hund
schnuppert am Gras, ein roter Schmetterling fliegt umher,
eine junge
Mutter geht mit ihrer kleinen Tochter spazieren, die ganz in
Weiß
gekleidet ist und eine lachsfarbene Schärpe trägt. Nahe dem Wasser
stehen zwei Kadetten der Militärschule Saint-Cyr. Ein junges Mädchen
bindet
einen Strauß; ein Kind mit rotem Haar und blauem Kleid sitzt im
Gras.
Wir sehen ein Ehepaar mit seinem Baby und ganz rechts das
hieratische, aufsehenerregende Paar, einen jungen Geck mit seiner
eleganten Begleiterin
am Arm, die einen purpur-ultramarinfarbenen Affen
an der Leine führt.“
Ernst Bloch in "Das Prizip Hoffnung":
Dieses Bild ist ein einziges Mosaik der Langeweile, eine meisterhafte Darstellung
der enttäuschten Hoffnung des süßen faulen Lebens ...
Das Gemälde zeigt einen Mittelstands-Sonntag-Morgen auf einer Insel
in der Seine bei Paris ... der, trotz der Erholung, die hier stattfindet,
eher zum Hades gehört als zu einem Sonntag ...
Das Ergebnis ist endlose Langeweile, des kleinen Mannes höllisches Utopia,
den Sabbath zu umgehen und doch an ihm festzuhalten;
sein Sonntag wird zu einem lästigen Muss, statt einer kurzen Kostprobe des Paradieses.
This picture is one single mosaic of boredom, a masterful rendering of the disappointed longing
and the incongruities of a dolce far niente ... The painting depicts a middle-class Sunday morning
on an island in the
Seine near Paris…despite the recreation going on there, seems to belong
more to
Hades than to a Sunday…The result is endless boredom, the
little man's hellish utopia of skirting
the Sabbath and holding onto it
too; his Sunday succeeds only as a bothersome must, not as a
brief taste
of the Promised Land.
Sonntag im Park mit George
(Sunday in the Park with George)
Sunday, by the blue purple yellow red water
On the green purple yellow red grass
Let us pass through our perfect park
Pausing on a Sunday
By the cool blue triangular water
On the soft green elliptical grass
As we pass through arrangements of shadow
Toward the verticals of trees
Forever
By the blue purple yellow red water
On the green orange violet mass of the grass
In our perfect park
Made of flecks of light
And dark
And parasols
Bum bum bum bum bum bum
Bum bum bum
People strolling through the trees
Of a small suburban park
On an island in the river
On and ordinary Sunday
Sunday
Sunday
Stephen Sondheim
Das Buch stammt von James Lapine
Anderes Lied aus demselben Musical, es singt Bernadette Peters!
Im Paradies der Kleinbürger sind alle Menschen Fremde
Als "Mosaik von Langeweile" beschrieb der Philosoph Ernst Bloch das
Bild. Der 1977 gestorbene Marxist sah nur "Sonntagselend" und
"Landschaft des gemalten Selbstmordes" auf dem Gemälde "Grande Jatte"
von Georges Seurat ( 1859 bis 1891 ).
Für den Kunstkriker Felix
Feneon dagegen, einen Zeitgenossen des Malers, war es ein heiteres
Werk: "Eine sonntägliche zusammengewürfelte Menge", erblickte er auf der
Leinwand, "die sich im Freien vergnügt, unter einem hochsommerlichen
Himmel." Feneon bewunderte die zwischen 1884 und 1886 gemalte "Grande
Jatte"; in seinen Artikeln warb er für Seurat und seinen "neuen Weg, die
Wirklichkeit zu entschlüsseln" _ aufgerastert nämlich in unzählige,
winzige Lichtpunkte; Das Bild dokumentiert die Erfindung des
Pointillismus. Das Publikum folgte dem Kritiker nicht, das Bild blieb im
Besitz des Malers bis zu dessen frühem Tod 1891 " "So gerne", notierte
der Maler Paul Signac in seinem Tagebuch, hätte Seurats Mutter "die
großen Werke ihres Sohnes den Museen vermacht, doch welches Museum wäre
heute bereit, sie anzunehmen?" Neun Jahre nach Seurats Tod
veranstalteten Signac und seine Freunde im Auftrag der Familie eine
Verkaufsschau. Ungerahmt kosteten Seurats Zeichnungen zehn Franc, mit
Rahmen 100. Die "Grande Jatte" ging tür 800 Franc an einen Pariser
Großbürger. 1911 weigerte sich der Vorstand des Metropolitan Museum in
New York, den Ankauf zu bewilligen; mehr Kunstsinn und Mut bewies 1924
der reiche Frederic Clay Bartlett aus Chicago: In Paris erstand er das
Gemälde für 20000 Dollar. Kurz danach stiftete er es dem Art Institute
of Chicago, wo es als Schlüsselwerk der europäischen Moderne gehütet
wird. 1931 bot ein französisches Konsortium 400000 Dollar, um es
zurückzukaufen. Vergeblich. Die Leinwand mißt 207 mal 308 Zentimeter und
paßte nur knapp in das Atelier des 25 Jahre alten Malers. Ein Kollege
beschrieb ihn als "unendlich hartnäckig", er sei "von einer Energie, die
nicht minder extrem ist als seine Schüchternheit". Künstlerische
Experimente konnte sich der 1859 geborene Seurat leisten; Sein Vater,
ein durch Grundstücksspekulation reich gewordener Gerichtsbeamter,
unterstützte ihn großzügig. Die Kunstakademie hatte er schon mit 21
verlassen, er wollte keines der üblichen Historienbilder malen, auch
keine Nixen und Nymphen _ er verzichtete auf eine der üblichen
Künstlerkarrieren. Bei der vierten Impressionisten-Ausstellung 1879 habe
er einen "tiefen, unerwarteten Schock" erlitten, schreibt der
Ausstellungsmacher Robert L. Herbert im Katalog der Seurat-Retrospektive
1991 im Pariser Grand Palais. Danach arbeitete der Künstler allein,
zeichnete mit dem fetten, schwarzen Conte-Stift Porträts und Figuren von
einfachen Leuten, malte kleinformatige Landschaften und ging, wie die
Impressionisten, ins Freie, besonders gern ans Wasser. Das Licht
einzufangen wurde Seurat wichtig, und nirgends sprach es ihn so an wie
an der Seine in Asnieres, einem Vorort im Nordwesten von Paris. "Die
Badenden, Asnieres" heißt sein erstes großformatiges Gemälde, das 1884
vom offiziellen Salon zurückgewiesen wurde, dafür aber bei der
Ausstellung der "Unabhängigen Künstler" auffiel. Es zeigt badende Männer
und )ungen am Ufer der Seine, sie blicken hinüber zu einer nahen Insel
im Fluß: Es ist die Grande Jatte, der Schauplatz seines nächsten Werkes.
Die Impressionisten, bestrebt, den Augenblick einzufangen, malten meist
spontan in der Matur. Seurat dagegen bereitete sein Gemälde sorgfältig
vor. An Ort und Stelle fixierte er aufvielen Holztäfelchen das Ufer,
Rasen und Bäume, teilweise ohne Menschen. Die zeichnete er parallel dazu
in unterschiedlichen Positionen als Studien in Schwarzweiß, Im Atelier
fügte er beides zusammen. Etwa 40 Figuren, so beschreibt Feneon die
Menschen auf dem Bild, "steif dasitzend, horizontal ausgestreckt,
kerzengerade aufgerichtet". Zeitgenossen sprachen gar von einer
"pharaonischen Prozession", und Seurat selbst bezeichnet den Tempelfries
des griechischen Bildhauers Phidias als Vorbild: "Die Panathenäen des
Phidias bildeten eine Prozession. Ich möchte moderne Menschen
darstellen, die sich wie aufdiesem Fries ergehen, in ihrem Wesentlichen
erfaßt." Als modernes Arkadien zeigt Seurat die Insel in der Vorstadt:
Weder Flaschen noch Picknickkörbe sind auf dem gepflegten Rasen zu
sehen. Unsichtbar bleiben auch die Restaurants, Cafes, Bootswerften und
Wohnhäuser, die Anfang der achtziger Jahre bereits zwei Drittel der
Inselfläche bedeckten. Die Besucher, Seurats "moderne Menschen", ergehen
sich gesittet oder lagern im Schatten. Keiner badet, niemand hat sich
seiner Kleidung entledigt. Feneon nennt sie eine "zusammengewürfelte"
Gesellschaft, und wirklich trafen sich damals auf der schmalen Landzunge
in der Seine Angehörige verschiedener sozialer Schichten - für den
heutigen Betrachter ist jedoch schwer zu erkennen, ob der hingestreckte
Mann mit Mütze und Pfeife ein Arbeiter aus dem nahen Industrie-Vorort
Clichy ist oder ein Wassersportler aus Paris im zünftigen Outfit. Für
die Bürger der Hauptstadt war Asnieres, von wo eine Fähre zur Grande
Jatte übersetzte, dank der neuen Eisenbahnlinie bequem und schnell zu
erreichen. Doch Technik und Fortschritt ver-änderten die idyllischen
Erholungszentren, überzogen sie mit Fabriken und Billigquartieren für
Arbeitskräfte _ sie wurden zum Eldorado für Spekulanten wie Seurats
Vater. Auch das ländliche Asnieres hatte in den letzten Jahren seine
Bevölkerung verdoppelt und sich zur Schlafstadt für Kleinbürger
entwickelt _ jene aufstrebende Schicht, die von der Regierung der
Dritten Republik als sozialer Stabilitätsfaktor gefördert wurde. So
dürfte denn die Grande Jatte am Sonntag vorwiegend von kleinen
Kaufleuten, Verkäuferinnen, Angestellten und Beamten samt ihren Familien
besucht worden sein. Im Hintergrund des Bildes sind zwei Soldaten zu
erkennen und - am weißen Umhang und an der Haube mit den langen Bändern -
eine Krankenschwester in Rückenansicht, neben der alten Frau unter dem
Schirm. Alle anderen haben ihre Berufskleidung mit dem Sonntagsstaat
vertauscht. Die Frauen auf dem Bild sind ins enge Korsett geschnürt, die
meisten tragen den modischen, die weiblichen Formen betonenden "cul de
Paris" unter dem weiten Rock und den Hut, ohne den _ und ohne männliche
Begleitung _ sich keine ehrbare Frau in der Öffentlichkeit zeigte.
Vielen hat das Bild Rätsel aufgegeben: Sollten die zwei Mädchen zu Füßen
des Trompeters leichte Beute für die herannahenden Soldaten darstellen?
Sollte die Anglerin nach einem Mann fischen? Immerhin klingen die
französischen Wörter für "fischen" (pecher) und "sündigen" (pecher) fast
gleich. Und signalisieren Hund und Affe, von der Dame im Vordergrund an
der Leine geführt, nur modische Extravaganz oder (nach traditioneller
Symbolik) niedere Wollust? Der Begleiter dieser Dame trägt Zylinder,
Stock und Monokel, typische Attribute des Großbürgers, der für
gewöhnlich im Bois de Boulogne promenierte, einem Ort, der im
Unterschied zur Grande Jatte nicht als gemischt, sondern als exklusiv
galt. Dorthin gehörte der "wohlbekannte Pariser Herr aus den besten
Kreisen", dessen Gattin - so berichtet das Journal "Autour de Paris"
1887 - einen Skandal machte, als sie herausfand, daß er mit ihrem
Kammermädchen den Sonntag auf der Grande Jatte verbracht hatte. Doch
Seurat erzählt keine Anekdoten, seine Protagonisten haben weder Gesicht
noch Körpersprache, weder eigene Geschichte noch Individualität. Die
"modernen Menschen", die er "in ihrem Wesentlichen erfassen" wollte, hat
er auf typische Attribute wie Zylinderhut, Stöckchen oder Korsett
reduziert - sie sind Zeichen in seinem Fries. Der Schlüssel zur Moral
der Arbeiterklasse liegt in einem sonntäglichen Ruhetag", lautete 1874
das Fazit eines von der Academie des Sciences Morales et Politiques
preisgekrönten Textes. Statt unter sich zu bleiben wie die Männer auf
Seurats "Die Badenden, Asnieres", sollten die Arbeiter den Sonntag mit
ihren Familien verbringen. So empfahl es auch die Regierung der Dritten
Republik: Proletarier sollten Kneipen und Protestversammlungen meiden
und durch bürgerliche Verhaltensweisen Ordnung und Stabilität sichern.
Zwar war ein arbeitsfreier Tag in der Woche üblich, aber nicht durch
Gesetze garantiert - die gab es erst 1892 für Frauen und Kinder und 1906
für Männer. Besonders in den achtziger Jahren wurde leidenschaftlich
darüber debattiert: Seurats Thema war aktuell. Ob die Arbeiter oder
Kleinbürger mit dem ihnen verordneten "bürgerlichen Familiensonntag"
viel anfangen konnten, ist fraglich; es gibt wenig Männer auf Seurats
Grande Jatte. "Lauter glückloses Nichtstun" sieht Ernst Bloch darauf,
"Puppen, intensiv mit starrem Lustwandel beschäftigt". In den Augen des
Marxisten kündet Seurats Bild vor allem von der Malaise der Arbeiter und
Kleinbürger, von der Entfremdung in der industriellen Gesellschaft.
Auszug eines Artikels in art, das Kunstmagazin: