Montag, 20. Juli 2015

Mein erstes Mal Bayreuth

Weia! Waga!
Woge, du Welle,
walle zur Wiege!
Wagala weia!
Wallala, weiala weia! 


Ein Tagesausflug

Freitagmorgen, sieben Uhr mit der S-Bahn zum ZOB, Zentralen Busbahnhof, natürlich mit Unterbrechung, nach Halensee geht es nur alle 20 Minuten, gut so, sonst würde ich gar nicht glauben können, dass ich mit der Berliner S-Bahn unterwegs bin. Dann meine erste Reise mit einem Überlandbus in Deutschland. Deutsche Bahn, du hast Konkurrenz, die ist genauso unzuverlässig wie du, nur billiger. Der Bus ist voll, der Bus ist heiß, das Wlan funktioniert nicht, aber der Bus kommt, zumindest auf der Hinreise, pünktlich in der Goethestrasse in Bayreuth an. 
Bayreuth ist voll, Bayreuth ist heiß, Bayreuth ist außerordentlich häßlich, und im Besitz von ungewöhnlich vielen Eisdielen. Die westdeutsche Provinz ist der ostdeutschen in einigen augenfälligen Dingen erstaunlich ähnlich, da die Bauwut der 50er, 60er und 70er Jahre, hie wie da, eine große Menge abgrundtief unansehnlicher Gebäude hervorgebracht hat, die, auch hellgelb oder grasgrün verputzt, ihre lieblose, pragmatische und betonvernarrte Herkunft nicht verleugnen können. Fahrt mal nach Senftenberg oder Schwedt!
Aber nun Bayreuth. Noch haben die WAGNERFESTSPIELE nicht begonnen und die Stadt wirkt relativ normal. Hie und da ein lila WAGNERFIGÜRCHEN mit dem Bild eines berühmten WAGNERSÄNGERS und selbstverständlich eine Häufung WAGNERAFFINER Strassennamen, nicht anders als es Weimar mit GOETHE/SCHILLER treibt. 
Um 17.00 Uhr bewege ich mich auf den heiligen Hügel zu, oben das Festspielhaus, hinauf führt eine begärtnerte Allee, direkt davor ein riesiges Blumenbeet, dass, wie ein Freund sagt, irritierend einem blumigen Davidstern ähnelt. Abbitte oder Fehlinterpretation? Das Publikum ist multinational und, da heute ja "nur" die Generalprobe des ersten Teiles der Tetralogie stattfinden wird, verwirrend bekleidet, zwischen Jeans und Abendrobe. Wobei die Roben, in Knallgelb, Glitzerblau und halterlosem Grasgrün mich ein bisschen an die Fensterdekorationen der zahlreichen Hochzeitsausstatter in Neukölln erinnert.
Das Haus selbst ist gerade im Zustand der Restauration, die Außenfassade ist eingekleidet, innen wirkt es verblüffend karg, viel Holz, griechische Säulen, minimale Ornamente. Es wurde in den Jahren 1872–75 von Otto Brückwald nach Entwürfen von Richard WAGNER im Stil der hellenistischen Romantik errichtet, sagt Wiki. Die Sitze sind das Unbequemste, was ich je die Ehre hatte zu besitzen. Ob WAGNER damit eine pädagogische Absicht verfolgte? Wenn mein Hintern schmerzt, bleibe ich wach und muß zuhören? Wer weiß. Auf jeden Fall mag ich es nicht. Aber die Akustik soll einmalig sein. 
Aber, ein aber ohne wenn und aber: Der Herr war begeisterter Antisemit, ein wesentliches Detail, dass ich nicht in der Lage und nicht willens bin zu ignorieren. In seiner Broschüre Das Judenthum in der Musik (1869) schrieb Richard WAGNER vom „natürlichen Widerwillen gegen jüdisches Wesen“ und „Der Jude ist nach dem gegenwärtigen Stande der Dinge dieser Welt wirklich bereits mehr als emanzipiert: er herrscht, und wird solange herrschen, als das Geld die Macht bleibt, vor welcher alles unser Thun und Treiben seine Kraft verliert“. An die Juden gerichtet, schloss er mit den Worten: „Aber bedenkt, dass nur Eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluche sein kann: die Erlösung Ahasvers, – der  Untergang!" 

"Rheingold" ist kurz, nur zwei und eine halbe Stunde ohne Pause, genug für mich als Neuling. Die Musik ist herrlich, aber, aber was? Aber, nichts als ABER. Frank Castorf unterläuft das Pathos oder vermeidet den Konflikt, je nach Sichtperspektive, durch die konsequente Inszenierung seines eigenen Filmes - True Detektive, David Lynch, The Walking Dead und Whateverthefuck I have seen on tv or in the movies in den letzten zehn Jahren, konglomerieren zu einem Sittengemälde (was für eine archaische Bezeichnung) unserer gewinnorientierten, emotional und erotisch gestörten Zeit. Und parallel, zeitgleich dirigiert Kirill Petrenko ganz wunderbar die Partitur, Er ist Jude, was deutsche Zeitungen auffällig häufig bemerken, und wird, so höre ich, durch den, auf mich, deutschnational und sehr konservativ wirkenden Herrn Christian Thielemann allzubald von diesem Pult entfernt werden.


Ich höre/sehe eine Geschichte über Geschäfte. Walhalla wird gebaut ohne die notwendige finanzielle Sicherung und ob es nun Rheingold heißt oder Raubgold, es, das Gold, muß herbeigeschafft werden. Castorfs Methode des Unterlaufens von verlogenen übergroßen Emotionen war mir beim Zugucken/Zuhören sehr hilfreich. Heißt der Kerl Lehmann Brothers oder Wotan, was macht den Unterschied?
Nun ist es Nacht in Bayreuth, mein Bus fährt, laut Fahrplan, um 1.30 Uhr, und wird sich um 35 Minuten verspäten, sagt die freundliche Email von Flixbus. Ich sitze um 2.00 Uhr allein in der Goethestrasse, kein Bus, keine Auskunft, da überlastet, mein Ipad zeigt eine englische Krimiserie, es ist dunkel, es ist sehr einsam. Es ist eine Stunde nach der erwarteten Ankunftszeit - nichts - eine viertel Stunde später, noch bin ich nicht hysterisch - der Bus kommt - ich steige ein. Eine Stunde später wird eine sehr höfliche deutsche Polizei elf Passagiere aus dem Bus entfernen, sie haben keinen Pass, sie sind Flüchtlinge, sie sind verboten. Wird die Polizei so höflich bleiben, wenn keine Zuhörer da sind? Vier aus Syrien und die anderen aus Eritrea. Was für Not muß mich erdrücken, bevor ich mich und meine Kinder auf solch eine Reise begebe? 
 Wagner war verstörend, aber der Anblick von sehr müden Kindern um 3 Uhr nachts auf einer deutschen Tankstelle, die nicht wissen, wo sie schlafen werden, war verstörender. Ich hatte danach zwei freie Sitze zum Schlafen.

 

Mittwoch, 15. Juli 2015

Der Tod, Der Eine, und Die Kunst des Theaters - Howard Barker

Das Theater befindet sich am Ufer des Styx (auf der Seite der Lebenden). Die wirklich Toten auf der gegenüberliegenden Seite, flehend wiedererkannt zu werden. Ihre Münder klaffen ... Auf dem Fluß, zwischen den Lebenden und den Toten ist ein Boot. Auf diesem Boot sind die Figuren eines Stücks. Die Figuren sprechen die Worte der Toten zu den Lebenden.

Theatre is situated on the bank of the Styx (the side of the living). The actually dead cluster at the opposite side, begging to be recognized. What is it they have to tell? Their mouths gape ... On the river, in between the living and the dead, there is a boat. On this boat, there are the characters of a play. These characters are speaking the words of the dead to the living.

Howard Barker “Death, the One, and the Art of the Theatre”


Ein eigenartiger Text, nur ein Auszug, nicht immer meine Meinung, aber er hat eine! Eine starke, eine unerbittliche. Hat mich sehr an Jan Fabre und Mount Olympus denken lassen.

Tod, Der Eine, und Die Kunst des Theaters

Death, The One, and The Art of Theatre


excerpt
by Howard Barker


Nichts,
was über den Tod gesagt wird
von den Lebenden, kann vom Tod so erzählen,
wie er erfahren wird indem man stirbt. Nichts
was die Toten über den Tod wissen,
kann den Lebenden mitgeteilt werden.
Über diesen entsetzlichen Abgrund wirft die Tragödie eine zerbrechliche
Brücke der Vorstellungskraft.

Als das Theater aufgehört hat, den Tod zu seinem Subjekt zu machen, hat es seine Autorität über die menschliche Seele aufgegeben. Als es sich erlaubt hat, in weltliche Projekte von politischer Indoktrination und Sozialtherapie hineingezogen zu werden, hat es seine Macht abgegeben. Theater wird immer verleitet vom Idealismus seiner Macher. Immer verleumdet von den Sentimentalen. In der Theaterkunst bemitleiden wir den Idealisten, wie wir einen Mann mit einer tödlichen Krankheit bemitleiden würden. Dieses Mitleid ist sehr begrenzt. Während viele versucht haben Theater in Hospitäler umzubauen, halten wir unsere Bühne infektionsfrei.

Wir werden nicht voll Sünde geboren, wir werden voll vom Appetit darauf geboren.

Der Tod ist die Hauptbeschäftigung großer Kunst, auch dann, wenn er nicht ihr Thema ist.

Als die Nützlichkeitsdenker das Theater an sich gerissen haben, stand der Tod einfach im Foyer, geduldig wie ein Chauffeur.

Welche Aufgabe hat das Lachen in der Tragödie? Können wir von einer Aufgabe in der Tragödie sprechen. Lasst es uns anders sagen. Wie dient das Lachen der Erfahrung der Tragödie. Indem es uns in seinen verführerischen Akt einbezieht. Es ist das fallengelassene Taschentuch.

 
An den Schauspieler - versuche nicht trotz deiner Figur geliebt zu werden. Werde beneidet wegen deiner Rolle (die unerklärliche Anziehungskraft der Fakten . . .).


Die tragische Figur - die Verzweiflung der Psychoanalytiker . . . nichts wird unterdrückt . . . 

Das Problem ist nicht die Zuschauer kritisch zu machen (Kollektiver Seufzer inszenierter Empörung . . .) sondern gefährlich.

Zu sterben . . . tin die Dunkelheit zu gehen . . . wenn es Dunkelheit ist . . . zum Fluß zu gehen ... wenn es ein Fluß ist ... aber allein und ohne die Illusion der Liebe . . . nackt und schrecklich frei . . . das ist die Beschaffenheit des tragischen Helden . . .  

Nothing
said
about death by the living can possibly relate to death as it will
be experienced by the dying. Nothing
known
about death by the dead can be
communicated to the living. Over this appalling chasm tragedy throws a frail
bridge of imagination

Since theatre ceased to make death its subject it surrendered its authority
over the human soul. Since it allowed itself to be incorporated into mundane
projects of political indoctrination and social therapy it abdicated its power.
Always theatre is suborned by the idealism of its makers. Always it is traduced by the sentimental. In the art of theatre
we pity the idealist as one pities the
man with a fatal disease. This pity is strictly circumscribed. Whilst many have tried to make hospitals from theatres we keep our stage infection-free.

We are not born full of sin, we are born full of the appetite for it.

Death is the preoccupation of great art even where it is not the
subject of it.
When the utilitarians seized the theatre Death simply stood in the foyer, as patient as a chauffeur

What is the function of laughter in tragedy? Can we talk of a function in
tragedy? Let us put it another way. How does laughter serve the experience
of tragedy? By implicating us in its seductive process. It is a dropped
handkerchief.
To the actor – do not try to be loved despite your character. Be envied because of your character (the inexplicable attraction of the facts . . .). 
The tragic character – the despair of the psychoanalysts . . . nothing is repressed . . .
 
The problem is not to make the audience critical (the collective sigh of orchestrated dismay . . .) but hazardous . . .  
 
To die . . . to go into the darkness . . . if it is darkness . . . to go to the river...if it is a river...but alone and without the illusion of love . . . naked and disastrously free . . . this is the condition of the tragic character . . .

Dienstag, 14. Juli 2015

Kontraste - 36 Stunden Kultur

Die ganze Kunst zu gefallen, besteht darin, nie von sich selbst zu reden, und die anderen von sich selbst reden zu machen. Jeder weiß das, und alle Welt vergisst es.
Idées et sensations, 1866, mit Jules de Goncourt

Die schöne Helena: Operette in der Komischen Oper

Terminator: Genisys im Sonycenter: 3D im iMax

Richard III: inszeniert von Ostermeier auf Arte

Vielleicht, möglicherweise, unter Umständen, vermutlich habe ich wirklich einen Dachschaden. Ich habe Ferien, und tue was - gehe und gucke Theater.  "Jedes Thierchen will sein Pläsirchen." Und mein Pläsir, nicht mein einziges, Gott sei Dank, aber ein zeitaufwendiges, ist nun einmal das Theater. Diesesmal gab es ein besonders heftiges Kontrastprogramm, und zwischendurch war ich auch noch bei der Zahnprophylaxe.

Offenbach flirrte, hetzte, girrte und traf doch nicht. Zu viel. Zu viele Gags, zu viel lustiger Tanz, zu viel derbe Ironie, zu viel von Vielem. Barrie Kosky hat Kopf und Bauch voll phantastischer musikliebender Kreativität, aber diesesmal hat er zu wenige seiner Lieblinge gekillt, überbordend mag ich, aber dafür muß es halt ein Bord, eine Grenze geben, die übertreten wird.
Wenn die Liebe einbricht in eine Gesellschaft, in der, wie die Brüder Goncourt es beschrieben, man nur glücklich ist, wenn man schläft oder wenn man tanzt (Zitat aus der Kritik der Berliner Zeitung), dann muß sich an dem Punkt, wo wirkliche Leidenschaft auftaucht, doch etwas verändern, der irrlichternde Rausch bedroht durch das anarchistische Gefühl, warum sonst der Trojanische Krieg als Ergebnis dieser banalen "Affaire"? 10 Jahre Schlachten, weil zwei Leute sich verlieben.
Hier war vom ersten Moment an alles und alle so überdreht, dass kein Unterschied zu finden war zwischen vorher und nachher, zwischen ungehemmter Verdrängung und überraschender Liebe. Tolle Bilder, ein paar gute Witze, drei Ohrwürmer und doch blieb ein schaler Geschmack. Nichtsdetotrotz denke ich, dass Kosky momentan der wagemutigste Intendant der Stadt ist.

Terminator: Genisys - zwei Stunden Film als Folie für Schwarzeneggers One-liner. Das erste und für einige Zeit auch letzte Mal 3D im iMax: eine 19 Meter breite Leinwand und das Kino ist zu klein. Diese Technik muß noch besser werden. Unschärfen, angestrengte Augen und sobald die Schnitte schnell wurden, habe ich nur noch Lichter gesehen. Das Mädchen aus Game of Thrones, Emilia Clarke, sieht viel schöner aus mit dunklen Haaren. Im nächsten Terminator wird Matt Smith, der letzthin noch Doktor Who war, sicher der Hauptbösewicht. Es war Quark. Wenn man mit Zeitreisen spielt, muß man es schon ein bisschen intelligenter tun.

Richard III - Ian Mckellen ist immer noch der beste. Robert Beyer als Königin Margaret und Mörder war großartig. Lars Eidinger ist ein faszinierendes Phänomen, schlau, wach, talentiert, alles was man nur wünschen kann, und ich vergesse keine Minute lang, dass er das auch weiß und weiß, dass ich es weiß. Der Bösewicht ist ein ehrlicher Bösewicht, ok, aber, was er will, ist die Krone, und besiegt wird er von mittelmäßigen Politikern. Manche große Schauspieler können nicht verlieren, auch wenn der Text es verlangt, eine Crux.

Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns, vor uns liegen die Mühen der Ebenen. Bertolt Brecht


In der Provinz ist schon Regen eine Zerstreuung.
Idées et sensations, 1866, mit Edmond de Goncourt

Sonntag, 12. Juli 2015

Friedhöfe in Berlin - Liesenstrasse - Berlin Mitte


Die Friedhöfe an der Liesenstraße entstanden in den 1830er und 1840er Jahren, zu einem Zeitpunkt, als das Gelände am nördlichen Stadtrand Berlins lag. Als ältester Friedhof wurde ab 1830 der Domfriedhof I der Oberpfarr- und Domkirche genutzt. 1834 folgte der alte Domfriedhof der St.-Hedwigs-Gemeinde und ein Jahr später wurde der Friedhof der Französisch-Reformierten Gemeinde eingeweiht. Diese drei Friedhöfe liegen nebeneinander an der Südseite der Liesenstraße im Bezirk Mitte. WIKI

Ich bin in Berlin-Mitte aufgewachsen und habe nichts von diesem Ort gewusst. 
Man geht die Chausseestrasse Richtung Schwartzkopfstrasse entlang am monströsen BND Gelände vorbei, in die Wöhlertstrasse rechts abbiegen und durch einen balkonbehangenen Wohnblock mit Gartenanlagen gelangt man zum Hintereingang des Geländes - der ist nach 16.00 Uhr verschlossen, weil die Anwohner angeblich nächtens Parties zwischen den Gräbern gefeiert haben.

Drei Friedhöfe, ein evangelischer, ein katholischer und einer für Hugenotten, ineinander übergehend, auf einem riesigen parkähnlichen Gelände, durch das 1961 schnell und hart ein Teil der Mauer gebaut wurde, auf alten Gräbern, neue Gräber schaffend. Zwischen Mauerbau und Mauerfall kein neues Grab, der Friedhof durfte, da Grenzgebiet, nur mit Passierschein besucht werden.

Grabkarte für Angehörige zum Besuch vo Gräbern auf Friedhöfen im Grenzgebiet
Dieses Dokument wurde nur für Bewohner der DDR ausgestellt, die Verstorbene auf einem entsprechenden Friedhof hatten. Der Besuch eines Friedhofs im sowjetsektoralen Grenzgebiet (Ostberlin), aus touristischen, historischen oder sonstigen Gründen war untersagt.
 
Berlin im Jahre 1962 an der Berliner Mauer im Wedding
Friedhof Liesenstraße, auch er wurde einfach mit Planierraupen
platt gemacht. Neben dem Lichtmast ist die Hundelaufanlage. Dort wurden Hunde zum Überwachen angebunden. Sie konnten dann 150 Meter weit laufen.
 ©  Gerd Henschel  

Eine blassrote Stoffrose in der Hand, ein gläsernes Herz an der Brust, 
Kopf und Flügel aufgerissen, das Kleid grünspanfarben 
könnte Dali sie da hingestellt haben.


Viele französische Namen natürlich, auf dem katholischen Teil der Friedhofsanlage schlesische, russische (niederschlesische wie Barthel oder Hahnel und oberschlesische wie Grzeszkiewicz, Wosnik oder Kolodziejski) und hier und da ein einsamer Italiener. Der Domfriedhof bietet viele Krauses, und auch Anna Bier, ein schöner Name. 

 Fontanes Grab - ich wusste gar nicht, dass der Hugenotte war.

Theodor Fontane 

Prolog zur Feier des zweihundertjährigen Bestehens der Französischen Kolonie
 
Zweihundert Jahre, daß wir hier zu Land
Ein Obdach fanden, Freistatt für den Glauben,
Und Zuflucht vor Bedrängnis der Gewissen.
Ein hochmuther Fürst, so frei wie fromm,
Empfing uns hier, und wie der Fürst des Landes
Empfing uns auch sein Volk. Kein Neid ward wach,
Nicht Eifersucht, - man öffnete die Thür
Und hieß als Glaubensbrüder uns willkommen.
Land-Fremde waren wir, nicht Herzens-Fremde.
So ward die Freistatt bald zur Heimathstätte,
Drin schlugen Wurzel wir und was seitdem
Durch Gottes Rathschluß dieses Land erfahren,
Wir lebten's mit, sein Leid war unser Leid
Und was es freute war auch unsre Freude.
Wohl pflegten wir das Eigne, der Gemeinde
Gedeihn und Wachsthum blieb uns Herzenssache,
Doch nie vergaßen wir der Pflicht und Sorge,
Daß, was nur Theil war auch dem Ganzen diene.
Mit fleiß'ger Hand, in Allem wohlerfahren,
Was älterer Kultur und wärmrer Sonne
Daheim entsproß und einem reichren Lande -
So wirken wir. Und Gottes Segen krönte
Der Hugenotten redlich Mühn, daß reich
Und glücklich manch Geschlecht dahier erblühte
Als eine Zierde unsrer neuen Heimath.
Sy, Godet, Humbert, Mathieu, Bourgignon,
Roux, Jordan, Erman, Rousset, Michelet,
Sarre, Révir, Reclam, Naudé, Cabanis,
d'Heureuse, Plantier, Charton, Lancizolle -
Und hundert Andre, die ich nennen könnte
Gleich guten Klanges, ja berühmtere noch.
Verschieden all, in Einem aber einig:
Von Herzen treu dem Land, dem Fürstenhause,
Das, treu des Ahnherrn edelstem Vermächtnis,
Von Fürst zu Fürst uns gnädiglich beschütze -
Dem hocherhabenen Haus der Hohenzollern.
Doch nicht zu rühmen ist, was heut uns ziehmt,
Heut ziemt uns nur zu huldigen, zu danken,
Und dieser Dank, was lieh' ihm größ're Kraft
Und Inbrunst, als ein Rückblick auf das Leid, 
das unsre Väter aus der Heimath trieb. -
Erklinge denn Musik und führ' herauf,
Im Widerspiel zu dieser Stunde Glück,
Uns Bilder aus der Zeit der Hugenotten.


Spiegelartikel zum Thema Preussen und seine Hugenotten
Unsere lieben Hugenotten

 Der Kurt von Paris

Die Adlons

Die Familie Hacks



Samstag, 11. Juli 2015

Theater hat Vertrauen


"Versuch's doch mal so." 
"Das funktioniert nicht."
"So wär es vielleicht besser."
"Nee, ist langweilig."
"Nochmal."
"Schneller!" 
"Anschlüsse!"
"Scheiße!"
"Hast Du 'ne Idee?"
"Das war gut, das lassen wir weg."
"Geht gar nicht!"
"Wunderbar!" 
Kicher, kicher, kicher....
"Wunderbar!"
"Oder doch besser so?"

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"Anstatt uns auf eure Gegensätze zu konzentrieren, laßt uns auf eure gemeinsame Liebe zum Theater zurückkommen."
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Regisseur und Spieler, ein delikates Paar, balancierend auf dem schmalen scharfen Grat zwischen Einlassen und Unterordnen für den einen, zwischen Fordern, Fördern und Mißbrauch für den anderen. Vollständige gegenseitige Abhängigkeit mit all den implizierten Gefährdungen und Möglichkeiten.

Wie ein Paar, das sich bei einem schrägen Speed-Dating* trifft - erste Probe, der Regisseur stellt sich vor, man kann es auch Konzeption nennen - "Wenn ich mich theoretisch ausziehe, machst Du Dich echt für mich nackt?". Zweite Probe, der Schauspieler, selbst der erfahrenste, gibt Talentbeweise. Angst ist im Raum. Und die muß da raus.

Es wird erzählt, dass einst zwei Schauspieler vor sich hinprobierten und irgenwie wurde einer von beiden nach unten, in den Zuschauerraum geschickt, um zu gucken, ob der andere in der Mitte stand - und da ist er unten geblieben und hat angefangen, den oben gebliebenen hin und her zu bewegen - die Geburt des Regisseurs. Hybris, die notwendige Vorraussetzung für die Berufs-Eignung.

"Eine gemeinsame Sprache zu finden", die poetisch-hoffnungsvolle Umschreibung dafür, dass der eine ums Verrecken nicht weiß, was der andere meint und der, oft selbst nicht sicher ist, was genau er gerade sagen will. 

Eines meiner besten Premierengeschenke, überreicht von einer Praktikantin mit Humor, war ein Textbuch, in das sie meine Regieanweisungen eingebaut hatte. Mein Gott, was ich in Proben so von mir gebe! Ja, hin und wieder ein guter Gedanke, aber auch grammatikalische Monstrositäten, frei erfundene Wörter, z.B. "ein Schnurpelchen mehr, du weißt schon...", und Assoziationsketten, die mir in der realen Welt eine krankenkassen-finanzierte Unterkunft mit weichen Wänden und reichlich Tabletten sichern würden. Artikel aus der "Brigitte", obskure Filme, Kindheitserinnerungen, wahre und im Augenblick erfundene, Farben, Gerüche, Fetzen aus mitgehörten Gesprächen, Zitate, Traumsequenzen, ordinäre Witze. Gut dass nur ich in meinem Kopf lebe. Im besten Fall ist das Gegenüber ebenso wirr und manisch. Im schlimmsten,, leerer Blick, Panik, Aggression oder hilflose Unterwerfung. Das ist wirklich der schlimmste Fall. Wenn du einen Schauspieler verlierst. Ist mir passiert. Nicht oft, aber zu oft. Gräme mich immer noch, über jeden von ihnen.

Vertrauen*, ein Geschenk, überreicht ohne Sicherheiten, großzügig gegeben und sorgfältig entgegengenommen. Ohne Vertrauen funktioniert die Chose nicht. Beidseitig. Risikobewußt und kindlich.

*Unter Speed-Dating versteht man eine ursprünglich aus den USA stammende Methode, schnell neue Flirt- oder Beziehungspartner, aber auch Geschäftskontakte zu finden. Als Urheber (seit 1998) gilt Rabbi Yaacov Deyo, Mitglied der orthodox-jüdischen Organisation Aish HaTorah mit Sitz in Los Angeles (Kalifornien, USA). Sein Ziel war eine Kontaktplattform für die jüdische Gemeinde, damit sich Alleinstehende jüdischen Glaubens schneller und effizienter kennenlernen können mit der Aussicht, schließlich zu heiraten und damit die Zahl jüdischer Ehen zu erhöhen. WIKI

*Vertrauen ist in psychologisch-­persönlichkeits­theoretischer Perspektive definiert als subjektive Überzeugung von der (oder auch als Gefühl für oder Glaube an die) Richtigkeit, Wahrheit bzw. Redlichkeit von Personen, von Handlungen, Einsichten und Aussagen eines anderen oder von sich selbst (Selbstvertrauen). Zum Vertrauen gehört auch die Überzeugung der Möglichkeit von Handlungen und der Fähigkeit zu Handlungen. Man spricht dann eher von Zutrauen. Als das Gegenteil des Vertrauens gilt das Misstrauen. WIKI

Donnerstag, 9. Juli 2015

Mads Mikkelsen mit Hasenscharte und fliehendem Kinn



Men & Chicken - Menschen & Hühner 
ein Film von Anders Thomas Jensen

Das ist Mads Mikkelsen.

Als Kreuzung wird das Ergebnis der geschlechtlichen Fortpflanzung zwischen zwei verschiedenen Arten von Pflanzensorten oder Tierrassen verstanden. Der Vorgang der Fortpflanzung, das Kreuzen, kann natürlich oder künstlich erfolgen. So in etwa sagt es Wiki. Der Film, der von Kreuzungen handelt, ist selber eine solche. Eine tragische Groteske? Ein philantropischer Monsterfilm? Ein Ding, im Sinne von das ist ja ein Ding, ein Unding, eine Frechheit. Eine Liebeserklärung an Familienbande oder die Horrorversion der Olsenbande? 
H.G. Wells hat 1896 eine Geschichte geschrieben, aus der vielleicht die Wurzeln dieses Drehbuches gewachsen sind - Die Insel des Doktor Moreau. 
In der alten Erzählung und dem neuen Film ist der Mißbrauch gentechnischer Forschung nur Vehikel für das Durchspielen anderer Themen - wie fühlt der Außenseiter, Andersartige, das Monster. Und wie menschlich ist so ein Monster? Wie monströs erscheinen wir ihm?

Monster oder Monstrum bezeichnet ein widernatürliches, meist hässliches und angsterregendes Gebilde oder eine Missbildung. So beschreibt es Wiki. Es ist hässlich, also hassenswert? Es erregt Angst, wovor und hat es selber welche? Es ist eine Missbildung, also ein verzerrtes Abbild unserer Selbst? Im etymologischen Wortsinn ist ein Monster, ein Omen kommenden Unheils, man könnte also sagen, es zeigt uns, zu was wir fähig sind, sein werden, sein könnten. 
Nachdem ich in den Dänischen Delikatessen mit zwei Mördern und Menschfleisch verkaufenden Schlachtern sympathisiert habe, und in Adams Äpfeln mit einem Nazi und einem hochneurotischen Pfarrer, habe ich heute Abend das nicht ungetrübte Vergnügen gehabt, in mir Zuneigung zu fünf "widernatürlichen, meist hässlichen und angsterregenden" Halbmenschhaltiergeschöpfen zu finden.

Jensen hat den Spaß weit, sehr weit getrieben, manchmal wohl auch übers Ziel hinaus. Zuviel Kichern zwischen Ekel und Ungläubigkeit schwächt die Empathie, denke ich. Aber dennoch schafft er es, mich nicht zu verlieren. Und spätestens beim Schlußtableau, ich werde den Teufel tun und es beschreiben, nein, geht und guckt selber, also spätestens in dieser letzten Szene werde ich mir wieder sicher, dass hier einer den Menschen liebt, den Menschen das Monster.

Mittwoch, 8. Juli 2015

Hofesh Shechter - barbarians


barbarians

Dreimal in acht Wochen in der Schaperstrasse, zweimal Aufregendes erlebt, Baal und Mount Olympos, jetzt Tanztheater aus London, Hofesh Shechters Company mit einer Uraufführung, genannt babarians - a trilogy.

Teil 1 the barbarians in love
Teil 2 tHE bAD
Teil 3 Two completely different angles of the same fucking thing

Ich kannte Shechters Arbeiten bisher nur aus Youtube-Schnipseln, heftig, krass, lustvoll, fremd. Anziehend.

Volkstanzelemente des Nahen Ostens, Hip-Hop Moves, theatralische Gänge, rund Schultern, geknickte Beine, Barocktanzzitate, Sprünge, viele Sprünge und Hüpfer, wenig Berührungen, außer im letzten Teil. 
Perfekte Synchronität, die sich in verschiedene Gruppen auflöst, scheinbar auseinanderfällt und urplötzlich wieder zusammenkommt. Erst denkt man, einer hat sich vertanzt, und begreift dann, wie kunstvoll das scheinbar Zufällige gebaut ist. Strenge wechselt mit Improvisiertem, oder zumindest frisch erfunden Wirkendem. Hohe Kraftanstrengung wechselt überraschend in Entspannung, Wildheit in Ruhe.


© Jake Walters

Teil 1 - Sechs Tänzer in Gruppe, einer bricht aus, o nein zwei, die anderen vier, teilen sich zu drei und einem, der sein Solo aber nicht als Solo tanzt, sondern immer im Bezug auf die anderen, die schon wieder die Gruppen gewechselt haben. Und dann sind wieder alle sechs wie einer. Selbst zuschauende Tänzer, die ich befragt habe, wußten nicht, wie gezählt wurde, welche Zeichen zu so perfekten Wechseln halfen. Über Ton eine weibliche Stimme, die Liebesanweisungen gibt. Immer wieder: "You are not alone!". Dann ein Dialog mit dem Regisseur/Choreographen, der unsicher versucht, seine Absichten zu erklären und am Ende zum Schweigen aufgefordert wird, da alles, was er redet, Nonsense sei.

Die Musik ist laut, aber nicht zu laut, obwohl der Einlasser, wohl in Betracht meines höheren Alters, nur schwer davon zu überzeugen war, dass ich den Abend ohne Ohrstöpsel überstehen würde.
Und moving lights, suchscheinwerferartig eingesetzt und Nebel viel Nebel und viel Beinah-Dunkelheit.

Teil 2 - Drei Tänzer in einer Probensituation. Aussteiger, verbale Kommentare zum Berufsalltag, Party und harte Arbeit.

Teil 3 - Zwei werben umeinander, ER in bayrischer Tracht, SIE in weißer Seidenbluse und elegant geschnittenen Hosen, man weiß, das kann nicht gut gehen, und wenn ihnen auch ein kurzes Mitinander gelingt, so dauert es doch nicht lang, bis er übergriffig wird, grapscht, sie ohrfeigt. Dan folgt die stärkste Szene des Abends, ER hockt, SIE, unangestrengt und darum tödlich, offeriert ihm den ultimaten kalten und eben doch hocherotischen Verführungstanz. Die Tänzer aus Teil 1 & 2 kommen dazu, alle gemeinsam terrorisieren den zunehmend bewegungsunfähigen Trottel mit der Erotik, die er nie wird haben können.
Wieder die Stimme des Choreographen, und - er hat ein Vaterproblem. Welches jüdische Kind hat keins? Wer meldet sich? Wer? Ich nicht.

Freunde, die frühere Abende von Shechter gesehen hatten, sagten, er wiederholt sich, er schwächelt. Ich, als Neuling, war interessiert, aber wenig hingerissen. Hey, zwei von drei Theaterabenden, die mich gerissen haben, das ist dich großartig, oder?


© Jake Walters

Hofesh Shechter ist kein Künstler der leisen Töne. Arbeiten wie „Political Mother“ und „Sun“, die beide bei den Berliner Festspielen zu Gast waren, beschwören apokalyptische Vorahnungen herauf, mit bombastischen Musiktracks und explosiven Choreografien. Seine Choreografien entlarven die Mechanismen von Gewalt, Macht und Unterdrückung und zeigen uns Shechter als einen kraftvollen Choreografen, der uns auffordert, selbst zu denken. Sein neuer Abend „barbarians“, der bei Foreign Affairs seine Uraufführung erlebt, ist nachdenklicher, ironischer – doch nicht weniger düster als die Vorgänger. Der stets unberechenbare Shechter erschafft eine karge Welt, in der sich drei völlig unterschiedliche Versionen von Intimität, Leidenschaft und der Banalität der Liebe entfalten. Eleganz und Intimität seiner Choreografie offenbaren sich in dem gefeierten und verstörenden Stück „the barbarians in love“, mit dem der Abend beginnt. Eine geistliche Barockpartitur begleitet zitternd vor Emotionen, die von einer strikten Ordnung gehalten werden, eine wahrhaft zeitgenössische Beichte. Die beiden darauffolgenden neuen Stücke, eine Explosion aus Dubstep-Grooves zu einer beinahe urbanen Choreografie, tHE bAD, und ein skurriles Duett, vervollständigen einen Abend, der die einmalige, ironische Stimme ihres Schöpfers und die Vielseitigkeit und das Talent seiner einzelnen Tänzer*innen ins Licht rückt.
 

Sonntag, 5. Juli 2015

GEWITTER


Gewitter. 
Die Welt, gierig auf Nässe, atmet ein und auf. 
Ihr ist egal, ob Blitze einschlagen oder Donner schreckt. 
Regen. Trinken. Nach Tagen voll Hitze ohne Luft.
Diese Gleichgültigkeit der Erde ist ein gutes Ding. 
Sie verhindert, dass ich glauben kann, diese Welt drehe sich um mich.
Die Natur interessiert sich einen Scheiß für meine Sicherheit, mein Wohlergehen.
Sie macht ihr Ding.
In unserer durchbetonierten, versicherungsgesicherten, zukunftsgläubigen Welt ist kein Platz für Großes, Uraltes.
In Island habe ich den Boden lebendig gesehen, pulsierend, blubbernd, röchelnd, lebendig, gefährlich.

Das Gewitter war heftig und kurz. 
Es ist noch immer heiß und stickig.
Es war nur eine Probe.

Berlin heute nacht © aleksandar zivanovic

EIGENGRAU


Was für ein schönes Wort: eigengrau.
Das Grau, das ich sehe, wenn es vollkommen dunkel ist.
Mein ganz eigenes Grau.
Schwarz kann ich nur sehen, wenn es noch Weißes zum Vergleich gibt.
Wenn alles Licht gelöscht ist, wird alles grau.

EIGENGRAU IST DIE FARBE, DIE WIR IN VOLLKOMMENER DUNKELHEIT SEHEN.

Was wir im Dunkeln sehen ist nicht Schwarz (000000), sondern Eigengrau 
(16161D hex or 22,22,29 RGB).

EIGENGRAU, auch Eigenlicht oder Eigenrauschen (die deutsche Bezeichnung ist auch im englischen Sprachraum üblich), ist die Farbe, die man in völliger Dunkelheit sieht. Der Begriff wurde um 1860 von Gustav Theodor Fechner eingeführt. Damals war aufgefallen, dass bei sehr großen wie bei sehr kleinen Helligkeiten die Empfindlichkeit des Auges von der Vorhersage des Fechnerschen Gesetzes (dass sich die subjektiv empfundene Stärke von Sinneseindrücken proportional zum Logarithmus der objektiven Intensität des physikalischen Reizes verhält.) abweicht.
Eigengrau wird heller wahrgenommen als schwarze Objekte bei normalen Lichtbedingungen. Das liegt daran, dass bei der Wahrnehmung der Kontrast wichtiger als die eigentliche Helligkeit ist. Zum Beispiel erscheint der Nachthimmel wegen des durch die Sterne hervorgerufenen Kontrastes dunkler als eigengrau. Eine reine Schwarzempfindung des Auges ist nur bei gleichzeitigem Kontrast zu einer Weißempfindung möglich, wie Ewald Hering 1874 beschrieb. Wiki

DU DUNKELHEIT, AUS DER ICH STAMME

Du Dunkelheit, aus der ich stamme
ich liebe dich mehr als die Flamme,
welche die Welt begrenzt,
indem sie glänzt
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen –:
für irgend einen Kreis,
aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.

Aber die Dunkelheit hält alles an sich:
Gestalten und Flammen, Tiere und mich, wie sie's errafft,
Menschen und Mächte –

Und es kann sein: eine große Kraft
rührt sich in meiner Nachbarschaft.

Ich glaube an Nächte.
 
Rainer Maria Rilke 1919


Donnerstag, 2. Juli 2015

GOTTFRIED BENN - Wie hält es der Dichter mit der Macht?

Erkläre mir einer den Menschen,
irgendeinen.


Sich irren 
und
doch seinem Inneren weiter Glauben schenken müssen, 
das ist der Mensch.

Hassenswertes, dummes, kindererzeugendes, Wohnung suchendes, omnibusbesteigendes, aufbauendes, weibersichzuwedelndes, plauderndes, gebildetes, ehrbar strebendes, redliches, meinungsäußerndes, mädchenengagierendes, ferienverbringendes, ostseefrohes, Sachzusammenhänge erörterndes Geschmeiß von Bremen bis Villach u. Domodossola bis Kurische Nehrung. G.B.

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Was schlimm ist

Wenn man kein Englisch kann,
von einem guten englischen Kriminalroman zu hören,
der nicht ins Deutsche übersetzt ist.

Bei Hitze ein Bier sehn,
das man nicht bezahlen kann.

Einen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann,
wie es die Professoren tun.

Nachts auf Reisen Wellen schlagen hören
und sich sagen, daß sie das immer tun.

Sehr schlimm: eingeladen sein,
wenn zu Hause die Räume stiller,
der Café besser
und keine Unterhaltung nötig ist.

Am schlimmsten:
nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.

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Gottfried Benn starb am 7. Juli 1956, mitten im Sommer.

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 Gottfried Benn in Berlin an Gertrud Zenzes in San Francisco, den 23.9.33

Vielleicht aber, Trudchen, interessiert es Sie doch, nochmal von mir persönlich zu hören, was ja in meinem Buch [Der neue Staat und die Intellektuellen – J. B.] schon steht, dass ich und die Mehrzahl aller Deutschen den neuen Staat bejahen, Hitler für einen sehr grossen Staatsmann halten und vor allem vollkommen sicher sind, dass es für Deutschland keine andere Möglichkeit gab. Das alles ist ja auch nur ein Anfang, die übrigen Länder werden folgen, es beginnt eine neue Welt, die Welt, in der Sie und ich jung waren und gross wurden, hat ausgespielt und ist zu Ende. Sie müs[s]en das alles nicht so gefühlvoll ansehen, auch nicht so pathetisch, Sie müssen in sich den Gedanken ganz feste Gestalt annehmen lassen, dass wir vor einer Wendung der abendländischen Geschichte stehen, die vielleicht nur dem elften Jahrhundert verglichen werden kann oder dem Ausgang der Antike. Man kann eigentlich heute jeden nur, der Einwände macht, fragen: Denken Sie geschichtlich oder denken Sie privat? Denkt er privat, kann er natürlich kritisieren und das übliche intellektuelle Geschwätz vom Stapel lassen. Wer aber geschichtlich denkt, wird schweigen, alles hinnehmen, was ihm diese Zeit an innerer Zerstörung und auch persönlichem Schaden zufügt denn er weiss, dahinter stehen die Gesetze des Lebens, die nicht auf Glück ausgehen, sondern auf Schicksal. Ich halte es für sehr möglich, dass dies dem Bewohner eines anderen Landes drollig klingt, hochtrabend, auch etwas unwirklich. Aber es ist ausgesprochen das, was wir erlebt haben, es ist das Erlebnis Deutschlands: der Abbau des Individuums für das Volk, für die Rasse, für das ferne, mythische Kollektiv, das nun einmal die Menschheit darstellt. 
Was nun das Judenproblem angeht, an dem Sie vielleicht besonders leiden und das Nordamerika mit seinem unvergleichlichen Rassenmischmasch natürlich ganz fremd ist, so sehen Sie das sicher auch ganz falsch. Denken Sie einmal, unter den Berliner Ärzten waren 85% Juden, den Rechtsanwälten 75%. In den journalistischen und Theaterbetrieben auch ungefähr 80%. Es ist doch vollkommen selbstverständlich, dass dieser Zustand eines Tages als unmöglich angesehen wurde. Jetzt sagen die Juden selber, sie hätten ihrerseits Massnahmen treffen müssen, um einem solchen Zustand vorzubeugen. Aber im Augenblick ist es natürlich zu spät. Das Judenproblem ist ja sehr, sehr schwierig. 

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Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde Gottfried Benn als Nachfolger Heinrich Manns kommissarischer Vorsitzender der Sektion. Am 13. März, kurz nach der Reichstagswahl März 1933, verfasste er zusammen mit Max von Schillings eine Loyalitätsbekundung für Hitler, die den Mitgliedern eine nicht-nazistische politische Betätigung verbot: Sind Sie bereit unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter Ihre Person der Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung dieser Frage schließt die öffentliche politische Betätigung gegen die Reichsregierung aus und verpflichtet Sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten geschichtlichen Lage. 
Die Mitglieder mussten bei Drohung ihres Ausschlusses unterschreiben. Thomas Mann und Ricarda Huch traten aus; Gerhart Hauptmann, Oskar Loerke und Alfred Döblin, der dennoch als Jude seinen Austritt erklärte, und viele andere unterschrieben. Ausgeschlossen wurden z. B. Franz Werfel und Leonhard Frank. 
WIKI 
 
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Menschen Getroffen

Ich habe Menschen getroffen, die,
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,
auch noch eine Benenung zu haben −
„Fräulein Christian“ antworteten und dann:
„wie der Vorname“, sie wollten einem die Erfassung erleichtern,
kein schwieriger Name wie „Popiol“ oder „Babendererde“ −
„wie der Vorname“ – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht!

Ich habe Menschen getroffen, die
mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchenherde lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen −
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa,
die reine Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehn.

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Wie einer zum Nazi wird

Gottfried Benn über "Probleme der Lyrik" 1951
Schwer vorstellbar, dass der Denker & Redner dieser Worte auch diese Gedichte geschrieben hat.

Er wütet in sich herum  - Der Spiegel 14/1950