Sonntag, 18. November 2012

Volkstrauertag - Ein stiller Tag


  Wiki sagt:  
  Der Volkstrauertag ist in Deutschland ein staatlicher Gedenktag 
  und gehört zu den „Stillen Tagen“. Er wird seit 1952 zwei Sonntage vor 
  dem ersten Adventssonntag begangen und erinnert an die Kriegstoten 
  und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen. 
  
  Auch wieder einer dieser verqueren artifiziellen Erinnerungsfeiertage. 
  Heute denken wir mal alle an Tote, aber nur an solche, die durch 
  Waffengewalt oder anderweitige staatliche Brutalisierung ums 
  Leben gekommen sind. An die übrigen Toten denken wir heute nicht!
  An die anderen Verstorbenen können wir ja an Allerseelen 
  oder am Totensonntag denken, je nach Konfession. Oder wir nutzen 
  Jom haScho'a speziell für die Opfer des Holocaust und des 
  jüdischen Widerstandes, oder Qingming, den Tag an dem viele 
  Chinesen die Gräber ihrer Vorfahren reinigen und schmücken. Oder
  einen Tag, eine Stunde, eine Minute nur mal so, rein privat, 
  sozusagen freiwillig.

  Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge schickt meiner Mutter in 
  schöner Regelmäßigkeit Geldbittbriefe, er hat diesen Feiertag 1919
  "erfunden", was verständlich ist, bedenkend, dass die Zahl der
  durch ihn zu versorgenden Gräber in den 5 Jahren zuvor um eine 
  erschreckende Zahl gewachsen war. Man geht von etwa zwei 
  Millionen gefallenen, vermissten, nicht mehr auffindbaren, zerfetzten,
  verreckten, zerschossenen, vergasten deutschen Soldaten im Ersten 
  Weltkrieg aus, der ja damals, in seliger Nichtkenntnis des Kommenden,
  nur einfach Weltkrieg hieß. Gerade im September 2011 haben
  Archäologen noch die Überreste von 21 toten deutschen Soldaten im
  Elsass geborgen.Der Musketier Martin Heidrich aus Schönfeld und der
  Gefreite Harry Bierkamp, der am 18. Januar 1896 in Hamburg 
  geboren wurde, zum Zeitpunkt des Todes am 18. März 1918 gerade 22 
  also Jahre alt war, wurden Opfer eines Minenangriffs, der wiederum 
  die Reaktion auf eine Senfgasattacke war.  


  Wäre es nicht besser einen Volkswuttag einzuführen, einen lauten Tag,
  an dem wir uns lauthals über den Irrsinn des Krieges erregen? Politiker
  anbrüllen und Generäle? Allein im 20. Jahrhundert starben zwischen
  100 bis 185 Millionen (100 000 000 - 185 000 000) Menschen in Folge
  von Kriegshandlungen.  

GRODEK
 
Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düster hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt,
Das vergossne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre,
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.

Georg Trakl 1914
Dies war sein letztes Gedicht. 
  
  Im August 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Trakl wurde als 
  Militärapotheker ins Heer einberufen. Er erlebte die Schlacht bei 
  Grodek mit. Dabei hatte er fast einhundert Schwerverwundete 
  unter schlechten Bedingungen allein und ohne zureichendes 
  Material zu versorgen. Zwei Tage und zwei Nächte arbeitete 
  er in dem Lazarett, das später in der Presse als eine der 
  „Todesgruben von Galizien“ bezeichnet wurde. Trakl hatte 
  keine Möglichkeit, den Sterbenden zu Hilfe zu kommen, 
  was ihn in Verzweiflung stürzte. Nach dem Zeugnis seiner 
  Vorgesetzten waren eine halbe Stunde vor der Schlacht dreizehn 
  Ruthenen auf Bäumen vor dem Zelt gehängt worden. 
  Trakl erlitt daraufhin einen Nervenzusammenbruch.  
  Ein Suizidversuch wurde verhindert und Trakl wurde zur 
  Beobachtung seines Geisteszustandes in ein Krakauer 
  Militärhospital eingewiesen. Am Abend des 3. November 1914 
  starb er dort nach Einnahme einer Überdosis Kokain an Herzstillstand.
  Quelle: Wiki

  „Der Mord ist ein Verbrechen, wenn ein einzelner ihn begeht; aber
  man ehrt ihn als Tugend und Tapferkeit, wenn ihn viele begehen! Also
  nicht mehr Unschuld sichert Straflosigkeit zu, sondern die Größe des 
  Verbrechens!“
  Cyprian von Karthago
   

Eugen Onegin in der Schaubühne


Eugen Onegin, der Mann ohne Eigenschaften, der "Ästhet des Nihilismus" *, einer, der die gefühlte, ihn überwältigende Leere der Welt verneinen will durch die vollständige Perfektionierung seiner äußeren Erscheinung und Lebensweise, einer der Nein sagt, bevor ihm etwas verweigert werden kann, an das er sowieso nicht glauben kann, einer der der Sinnlosigkeit des Daseins die vollständige und kunstvolle Durchorganisation der eigenen Nutzlosigkeit entgegenstellt. Sein Nein wird ihm zum Todesurteil, denn die Liebe erträgt kein Nein, auch oder gerade indem sie es anerkennt. 

 Eine wunderbare Geschichte der Verzweiflung, vorgestellt in der Schaubühne in einer Inszenierung von Alvis Hermanis.

„Der Dandy ist ein Mann, dessen Status, Arbeit und Existenz im Tragen von Kleidung besteht. Er widmet jedes Vermögen seiner Seele, seines Geistes, seiner Geldbörse und seiner Person heldenhaft der Kunst, seine Kleidung gut zu tragen: Während die anderen sich kleiden um zu leben, lebt er, um sich zu kleiden.“  Thomas Carlyle in Sartor Resartus, 1834


George Bryan ‘Beau’ Brummel, der "Erfinder" des Dandytums

Ich betrete den Theaterraum und bin froh. Die Bühne ist alt und neu. Alt, weil sie geradezu naturalistisch ist in ihrer Detailverliebtheit die Zeit des Stückes betreffend, also etwa um 1800. Und doch neu, weil sie mir all diese Kostbarkeiten flächig angeordnet, sozusagen direkt an die Rampe liefert. Auftritt von fünf Schauspielern in Alltagskleidung, die mir durch vielerlei historische Texte und Fakten einen Weg in die fremde Zeit bahnen. Waschen war verpönt, Zahnpflege bestand im Auftragen von schwarzer Schutzpaste und dem gelegentlichen Putzen der vorderen, sichtbaren Zähne. Das macht Spaß, überrascht und die projezierten historischen Photos vervollständigen das Erlebnis zur googleartigen Reise in einer Theater-Zeitmaschine. So weit, so gut.
Dann beginnen sich die Spieler in die zeitgemäße "Verkleidung" zu verkleiden und da fängt es an zu hapern.
Denn merkwürdigerweise nimmt die Inszenierung die eigenen Vorgaben nicht mehr ernst. Ein Korsett, beschrieben als atemberaubendes, körperzerstörendes Instrument der Folter zur Erreichung eines imaginierten Ideals, wird harmlosigst und hilfreich von Gardrobieren angelegt. Kein Schmerz, keine wirkliche Behinderung, nur Zeichen. Der Text wird illustriert und Mitgefühl oder Zorn stellt sich nicht ein. Dem Vergnügen der ersten 20 Minuten folgt lauwarmes Rezitieren der Puschkintexte. Eine grandiose Idee verflüchtigt sich in Bebilderung. Schade.

Albert Camus sagte:
Der Dandy erschafft sein Selbst mit Hilfe der Ästhetik. Aber es ist eine Ästhetik der Verneinung. "Zu leben und zu sterben vor einem Spiegel":, das ist Baudelaire zufolge, das Motto des Dandys. Es ist wahrhaftig ein schlüssiges Motto. Der Beruf des Dandys ist es in Opposition zu sein. Er kann nur durch Widerspruch existieren. Bisher leitete der Mensch seine Selbsverständnis vom Erschaffer her. Aber von dem Moment an, wo er sich seiner Abtrennung vom IHM widmete, fand er sich dem vergänglichen Moment ausgeliefert, den vergehenden Tagen und den vergeudeten Empfindsamkeiten. Darum muß er sich selbst in die Hand nehmen. Der Dandy versammelt seine Kräfte um sich unnd erschafft eine Einheit für sich durch die Gewalt seiner Verweigerung. Gesinnungslos, wie alle ohne Lebensinhalt, ist er nur stimmig als Schauspieler. Aber ein Schauspieler schließt ein Publikum ein; der Dandy kann seine Rolle nur spielen indem er sich in Opposition setzt. Er kann sich der eigenen Existenz nur versichern, indem er sie in den Gesichtern anderer Leute findet. Andere Menschen sind sein Spiegel. Ein Spiegel der schnell trüb wird, da die menschliche Aufmerksamkeitsspanne kurz ist. Sie muß ständig stimuliert werden, angestachelt durch Provokation. Der Dandy muß also ständig Erstaunen auslösen.Außergewöhnlichkeit ist seine Berufung, Exzess sein Weg zur Perfektion. Auf ewig unfertig zwingt er die anderen ihn zu erschaffen, gleichzeitig ihe Werte verneinend. Er spielt mit dem Leben, weil er es nicht leben kann.
Warum klingt das so heutig? Der TREND als Schutzraum vor der befürchteten Sinnlosigkeit des Daseins? Die individuelle Ästhetisierung der eigenen Erscheinung als Defensivwaffe gegen die verachtete Beliebigkeit. Die ganz wunderbaren Darsteller des heutigen Abends wurden nicht dazu verführt, diese Fragen gründlich zu untersuchen. Der Onegin Darsteller mußte seine Lebenskrise sogar dadurch bebildern, dass er "sein Korsett nicht loswurde"! Aber solche Fragen überhaupt zu stellen, ist schon ein freudiges Ereignis. Oder?



"Dem den ich liebe, wünsche ich es  frei zu sein -- sogar von mir."

" Him that I love, I wish to be free -- even from me." 
Ann Morrow Lindbergh 
* Jean Baudrillard

Freitag, 16. November 2012

Vorigen Handschuh verlor ich meinen Herbst


Vorigen Handschuh verlor ich in meinem Herbst

 Vorigen Handschuh verlor ich in meinem Herbst
   da ging ich drei Tage finden, eh´ ich ihn suchte
                     Da kam ich an eine Guck und lochte hinein
da saßen drei Stühle auf drei Herrendie aßen Kaffee und tranken Kuchen
      Da nahm ich meinenTag ab und sagte:
     "Guten Hut, meine Herren!"
                       Und da bauchten sie
                  daß ihnen der Lach platzte
Da gab ich ihnen drei Lagen Strümpfe
     und sagte, sie sollten mir Garn stricken
   Da ging ich weiter und kam an einen See
        Da standen drei funkelnagelneue Schiffe
      Das erste war durchlöchert
das zweite hatte keinen Boden
                und das dritte war gar nicht da
Da stieg ich in das, was gar nicht da war
              und fuhr ans jenseitige Ufer
Da kam ich an eine steinerne Kirche
                    die aus Holz erbaut war
 Drin predigte ein blaupapierner Pfarrer folgendermaßen:
             Als einst die Weser brannte
 und die tollen Hunde kein Stroh zum Löschen fanden
 Kam eine Bauersfrau auf einem ungesalzenen Faß Butter dahergeritten
 und stieg auf einen Maulbeerbaum
 und pflückte sich die Taschen voll Äpfel
                                          und als sie sich die Taschen voll Birnen gepflückt hatte
    stieg sie von dem Zwetschgenbaum
 Da rief ihr der Bauer des nächsten Dorfes zu
 dem der Flachs gehörte:
            "Hennesm gehst aus meinen Schoten!"
Da packte sie eiligst ihre Borstäpfel zusammen
                                                                      und lief von dannen

bei Lewalter , mündlich aus Kassel um 1911, Nr. 493 


                                                                                                 
                    Paul Klee 1939 Ein Kinderspiel             

   Gedicht in Bi-Sprache
 
   Ibich habibebi dibich,
   Lobittebi, sobi liebib.
   Habist aubich dubi mibich
   Liebib? Neibin, vebirgibib.

   Nabih obidebir febirn,
   Gobitt seibi dibir gubit.
   Meibin Hebirz habit gebirn
   Abin dibir gebirubiht.

   Joachim Ringelnatz 

   aus: Deutsche Unsinnspoesie, Hrsg: Klaus Peter Dencker, Philipp Reclam jun. Stuttgart1978
 

Donnerstag, 15. November 2012

Ode an die Freude - Alfred Eisenstaedt


  Warnung: heute mit Pathos!

  ALFRED EISENSTAEDT


  Der Time-Life Reporter David Friend betitelte ein Essay über 

  den Photographen: "Eisenstaedts Ode an die Freude". 
  Die Freude ist eine Beglückung, eine helle oder heitere Stimmung, 
  ein Frohgefühl, sagt Wiki. Und Graham Greene wiederum schrieb im 
  "Ende einer Affaire": Das Gefühl unglücklich zu sein, läßt sich so viel 
  leichter mitteilen, als das des Glücks. Im Leid scheinen wir uns 
  unserer Existenz bewusst zu sein, auch wenn es in der Form eines 
  monströsen Egoismus ist: Dieser Schmerz ist meiner, dieser Nerv, 
  der zuckt, gehört zu mir und niemandem sonst. Aber Glücklichsein 
  löscht uns aus: wir verlieren unsere Identität." 
  Vielleicht stimmt das. Glücklich sind wir in Konzentration auf einen 
  anderen, auf etwas anderes. In der Liebe, in der Großzügigkeit, im 
  Augenblick der Entstehung von etwas Neuem oder Überraschendem
  beim Anblick von Schönheit, sei es der eines Baumes, eines Himmels, 
  eines Regens oder eines dieser verblüffend großartigen Kinder, die 
  man manchmal trifft.
  Auslöschen klingt mir zu angstvoll und absichtlich, nennen wir es, 
  wir vergessen uns für einen Moment. Selbstvergessen, auch so ein 
  Wort, dass mir selten unterkommt.
  Die Amerikaner haben einen unerwarteten Satz in 
  ihrer  Unabhängigkeitserklärung: "Wir halten diese Wahrheiten 
  für offensichtlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass 
  der Schöpfer ihnen bestimmte unveräußerliche Rechte verliehen hat, 
  zu denen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören." 
  Das Recht auf das Streben nach Glück! Man kann es, leider, auch 
  mit Jagd nach dem Glück oder Verfolgung des Glücks übersetzen. 
  Erschafft Sprache dann Realität? Das Streben nach dem Glück ist aktiv, 
  das Glücklichsein aber kann es nicht sein. Dem Glück liefern wir uns aus.

  We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, 
  that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, 
  that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.

  Wem der große Wurf gelungen,
  Eines Freundes Freund zu sein;
  Wer ein holdes Weib errungen,
  Mische seinen Jubel ein!
  Ja  -  wer auch nur eine Seele
  Sein nennt auf dem Erdenrund!
  Und wer's nie gekonnt, der stehle
  Weinend sich aus diesem Bund!



30. Oktober 1950, im Life Magazin. Tambourmajor und sieben Kinder 
 
 
Life Magazin, 1. Januar 1973, Die Tochter von Allen Cook Guckt auf das Maul eines frischgefangenen gigantischen Fisches
 

Dienstag, 13. November 2012

Max Ernst - Eine Woche der Güte




Wenn die Kunst ein Spiegel der Zeit ist, so muss sie wahnsinnig sein.
Max Ernst

Une semaine de bonté ou Les septs éléments capitaux - Eine Woche der Güte oder Die sieben Hauptelemente
Erschienen 1934


Alphonse d'Ennery Illustration of Martyre
Max Ernst der Hof des Drachen 7
© Isidore Ducasse Fine Arts

1933 - Max Ernst reist nach Italien, genauer nach dem Castello di Vigoleno in der Emiliana, dem Schloß der Gräfin Ruspoli. Im Gepäck, unter anderem, Bündel billiger viktorianischer Groschenromane mit comicartigen Holzschnitten von Mord, Totschlag und Leidenschaft, auch Kataloge und naturwissenschaftliche Journale aller Art, Miltons "Das verlorene Paradies" illustriert von Gustav Dore und eine Schere und wahrscheinlich Klebstoff. In nur drei Wochen erschafft er Un semaine de bonte, einen wortlosen Roman in sieben Abteilungen und fünf Heften oder Pamphleten, der 1934 in einer Auflage von 816 Kopien. Die Originale wurden 1936 im Museo Nacional de Arte Moderna in Madrid, öffentlich gezeigt und dann erst wieder 2008 in der Albertina in Wien.
Die gütige Woche "beginnt am Sonntag und endet am Sabbat, den Tagen sind sieben éléments capitaux zugeordnet, in Anlehnung an die sieben péchés capitaux,Todsünden."  (Zitiert aus dem Blog des ComicNeurotikers)

Erstes Heft. Sonntag. Element: Der Schlamm
Zweites Heft. Montag. Element: Das Wasser.
Drittes Heft. Dienstag. Element: Das Feuer. 
Viertes Heft. Mittwoch. Element: Das Blut.
Fünftes Heft. Donnerstag. Element: Das Schwarze.
                     Freitag. Element: Das Sehen.
                     Samstag. Element: Das Unbekannte.



1933 - Max Ernsts Bilder werden von den Nationalsozialisten als entartet erklärt. Wiki sagt: Das Wort „Entartung“ stammt ursprünglich aus dem Mittelhochdeutschen, wo es die Bedeutung „aus der Art schlagen“ hatte.






DIE GRÜNE TASCHE



  Ich habe mir heute eine GRÜNE TASCHE gekauft.

Sie ist riesig. Sie ist grün. Ungeheuer grün. Und innen golden. Mit ganz vielen Sonderfächern. Liebeskind, ein guter Labelname. Erstaunlich, dass Herr Joop 
trotz all der Straffung und Hautverknappung, so etwas Schönes erdenken kann.
Ich mag grün, besonders im Winter. Je gräulicher das Land, je ernsthafter die 
Bekleidung meiner Mitmenschen, desto bunter wird es mir. Nein, ich brauchte 
keine Tasche, aber ich brauchte diese Tasche. Ja, sie war zu teuer und bald wird 
sie auch zu voll sein. Wundersamerweise verlasse ich das Haus mit einer mäßig 
gefüllten Tasche und wenn ich das erste Mal irgendetwas, Portemonnaie, Schlüssel, Textbuch oder was weiss ich herausnehmen will, ist es zwischen den urplötzlich anwesenden tausenden Dingen, nicht zu finden. Aber das macht nichts, das gehört 
zum Leben, wie verschwundene zweite Socken in Waschmaschinen, blaue Strümpfe 
zum schwarzen Rock, weil morgens die Augen noch nicht so genau sind, Bücher die 
beim Lesen in der Badewanne in dieselbige fallen und getrocknet aussehen wie 
dickliche, wellige Früchte, aber doch noch lesbar sind. In meiner Tasche zu wühlen 
ist Teil meiner Taschenliebe. Manchmal finde ich Dinge, die ich schon monatelang 
verloren glaubte, denn das Umpacken von Tasche zu Tasche geschieht im Kippverfahren. Der Inhalt meiner Tasche beschreibt mich wahrscheinlich auf sehr intime Art
wird also hier nicht im Detail benannt. Aber zum Beispiel, als das Kind klein war, 
fanden sich da Pflaster, Notnähzeug, Tempos, eine kleine Schere und ungeordnete Buntstifte. Oder der eifrige, verkrampfte US-amerikanische Grenzbeamte, 
der meine 4cm lange Nagelfeile unter gefährliche Waffen einordnete 
und sie beschlagnahmte und mich mit dem Bild eines Piloten entließ, der, 
unter der Bedrohung, dass ihm sein Daumennagel abgefeilt wird, in panischer Angst 
gen Kuba fliegt.


 Das Grün ist im Original noch um einiges grüner!

Was ist das zwischen mir und Taschen? Ich habe Freundinnen, die lieben Schuhe, 
eine liebt die zerfetzte Tasche, die sie von ihrer Großmutter geerbt hat, 
meine Mutter hat mindestens 15 nicht sehr verschiedene schwarze Taschen,  
eine andere Freundin geht nicht aus dem Haus ohne einen Taschenhalterhaken, 
eine Konstruktion mit der sie ihre Handtasche neben sich an den Tisch hängen kann. 
Wie überleben Männer ohne Handtasche? Dicke Geldbörsen in der Arschtasche sehen 
blöd aus, Handgelenkschlenkertaschen sind eine modische und menschliche Katastrophe, Rucksäcke bei Männern über 25 auch. Benötigen Männer keine Taschentücher, 
Stadtpläne, Reisenotlektüre, kein Aspirin, keinen Lieblingsstein? Aktenkoffer sind Nahkampfwaffen, keine Lustobjekte
Und diese grässlichen, praktischen, kompakten Rollkoffer der internationalen Dienstreisendengemeinde sind doch auch kein persönliches Bekleidungsstück? Wohin stecken Männer ihre dingliche Persönlichkeit, wenn sie das Haus verlassen? 

Wiki sagt es wieder ganz besonders schön: Eine Tasche ist ein Behältnis zum 
Transportieren von Gegenständen. Taschen haben im Allgemeinen Griffe oder Henkel. 
Sie bestehen, je nach Art und Verwendungszweck, zumeist aus Leder oder anderen Qualitäten.

Die anderen Qualitäten sind es über die ich spreche.

"Das Gedicht ist die Tasche, in der du dein Herz trägst." Marko Pogačar




Montag, 12. November 2012

Gans und gar - Massenmord an unschuldigen Gänsen



  Der Sankt Martins Tag ist vorüber, unzählige Gänse haben ihr Leben verloren, 
  sind gemeinsam mit Klößen und Rotkraut erst auf Tellern und dann in deutschen 
  Mägen verschwunden und haben doch immer nur ihr Bestes gegeben. Haben 
  in Nero's Rom vor dem Feuer gewarnt, in goldener Form die ernste Königstochter 
  zum Lachen gebracht, über viele Jahrhunderte Federn gelassen 
  für Schreiber und Schläfer, den Heiligen Martin zur Verantwortung gerufen, 
  als er sich dem Begehren der Bürger von Tours, dass er Bischof werden solle, 
  durch Flucht in einen Gänsestall zu entziehen versuchte und zum Dank mästen, 
  stopfen, rupfen, braten wir sie. 

© Elmar Ersch

  Leider schmecken Gänsebraten, Gänsebrust und, schändlicherweise, auch Stopfleber 
  so wundervoll. Also danke ich den Gänsen landauf, landab hier in unser aller 
  Namen, Vegetarier, Veganer und Rohkostesser mögen es mir verzeihen, für den 
  Genuss, den sie uns bereitet haben und noch bereiten werden.

  Einladung zur Martinsgans
Simon Dachs Zeitvertreiber. 1700

Wann der heilge Sankt Martin
Will der Bischofsehr entfliehn,
Sitzt er in dem Gänsestall,
Niemand findt ihn überall,
Bis der Gänse groß Geschrei
Seine Sucher ruft herbei.
Nun dieweil das Gickgackslied
Diesen heilgen Mann verriet,
Dafür tut am Martinstag
Man den Gänsen diese Plag,
Daß ein strenges Todesrecht
Gehn muß über ihr Geschlecht.
Drum wir billig halten auch
Diesen alten Martinsbrauch,
Laden fein zu diesem Fest
Unsre allerliebste Gäst
Auf die Martinsgänslein ein
Bei Musik und kühlem Wein.
Achim von Arnim: Des Knaben Wunderhorn 
II. Band - Kapitel 192

Carl Spitzweg Einsiedler rupft eine Gans

  Das Wort Gans gehört –wie etwa auch grunzen oder bauz – zu den 
  wenigen klangnachahmenden, lautmalenden Wörtern unserer Sprache. 
  Der altgermanische Vogelname beruht auf dem indogermanischen 
  „ghans-"(= [Wild]gans), das wiederum zu der den Gähnlaut 
  nachahmenden indogermanischen Wurzel „ghan-" gehört. 
  Die Gans ist demnach nach ihrem typischen heiseren Ausfauchen 
  mit aufgesperrtem Schnabel benannt.  
  Duden Stichwort: Lautmalerei

  Laßt sodann ruhig die Gans in L*** g und G** a gagagen!
  Die beißt keinen, es quält nur ihr Geschnatter das Ohr.
  Friedrich Schiller aus Den Xenien

Paul Gauguin 1888 Bretonische Frau und Gans am Wasser

Die Brüder Grimm - Kinder- und Hausmärchen
Ausgabe von 1819

64. Die goldene Gans.

Es war ein Mann, der hatte drei Söhne, davon hieß der jüngste der Dummling, und wurde verachtet und verspottet und bei jeder Gelegenheit zurückgesetzt. Es geschah, daß der älteste in den Wald gehen wollte, Holz hauen, und eh er ging, gab ihm noch seine Mutter einen schönen, feinen Eierkuchen und eine] Flasche Wein mit, damit er nicht Hunger und Durst litt. Als er in den Wald kam, begegnete ihm ein altes graues Männlein, das bot ihm einen guten Tag und sprach: „gib mir doch ein Stück von deinem Kuchen aus der Tasche, und laß mich einen Schluck von deinem Wein trinken, ich bin so hungrig und durstig.“ Der kluge Sohn aber antwortete: „geb ich dir meinen Kuchen und meinen Wein, so hab ich selber nichts, pack dich deiner Wege!“ und ging fort. Als er nun anfing einen Baum zu behauen, dauerte es nicht lange, so hieb er fehl und die Axt fuhr ihm in den Arm, daß er mußte heimgehen und sich verbinden lassen. Das war aber von dem grauen Männchen gekommen.
Darauf ging der zweite Sohn in den Wald und die Mutter gab ihm, wie dem ältesten, einen Eierkuchen und eine Flasche Wein. Dem begegnete gleichfalls das alte graue Männchen und hielt um ein Stückchen Kuchen und einen Trunk Wein an. Aber der zweite Sohn sprach auch ganz verständig: „was ich dir gebe, das geht mir selber ab, pack dich deiner Wege!“ und ging fort. Das Männchen ließ die Strafe nicht ausbleiben und als er ein paar Hiebe am Baum gethan, hieb er sich ins Bein, daß er mußte nach Haus getragen werden.
Da sagte der Dummling auch: „Vater, ich will hinausgehen und Holz hauen.“ Antwortete der Vater: „deine Brüder haben sich Schaden gethan, laß du’s gar bleiben, du verstehst nichts davon.“ Der Dummling aber bat, daß ers erlauben möchte, da sagte er endlich: „geh nur hin, durch Schaden wirst du klug werden.“ Die Mutter aber gab ihm einen Kuchen, der war mit ] Wasser in der Asche gebacken und eine Flasche saueres Bier. Als er in den Wald kam, begegnete ihm gleichfalls das alte, graue Männchen und grüßte ihn und sprach: „gib mir ein Stück von deinem Kuchen und einen Trunk aus deiner Flasche, ich bin so hungrig und durstig.“ Antwortete der Dummling: „ich habe aber nur Aschenkuchen und saures Bier, wenn dir das recht ist, so wollen wir uns setzen und essen.“ Da setzten sie sich, und als der Dummling seinen Aschenkuchen herausholte, so wars ein feiner Eierkuchen, und das saure Bier war ein guter Wein. Nun aßen und tranken sie, und darnach sprach das Männlein: „weil du ein gutes Herz hast und das Deine gern mittheilst, so will ich dir Glück bescheeren. Dort steht ein alter Baum, den hau ab, so wirst du in den Wurzeln etwas finden.“ Und darauf nahm es Abschied.
Der Dummling ging hin und hieb den Baum um, und wie er fiel, saß in den Wurzeln eine Gans, die hatte Federn von reinem Gold. Er hob sie heraus, nahm sie mit sich und ging in ein Wirthshaus, da wollte er übernachten. Der Wirth hatte aber drei Töchter, die sahen die Gans, waren neugierig, was das für ein wunderlicher Vogel wäre und hätten gar gern eine von seinen goldenen Federn gehabt. Endlich dachte die älteste: „ich soll und muß eine Feder haben!“ wartete bis der Dummling hinausgegangen war und faßte die Gans beim Flügel, aber Finger und Hand blieben ihr daran festhängen. Bald darnach kam die zweite und hatte keinen andern Gedanken, als sich eine Feder zu holen, ging heran, kaum aber hatte sie ihre Schwester angerührt, so blieb sie an ihr festhängen. Endlich kam auch die dritte und wollte eine Feder, da schrieen die andern: „bleib weg! ums Himmelswillen, bleib weg!“ aber sie begriff nicht, warum und dachte: sind die dabei, so kann ich auch dabei seyn, sprang herzu, aber wie sie ihre Schwester angerührt hatte, so blieb sie an ihr fest hängen. So mußten sie die Nacht bei der Gans zubringen.
Am andern Morgen nahm der Dummling die Gans in den Arm, ging fort und bekümmerte sich nicht um die drei Mädchen, die daran hingen. Die mußten immer hinter ihm drein laufen, links und rechts, wie’s ihm in die Beine kam. Mitten auf dem Felde begegnete ihnen der Pfarrer und als er den Aufzug sah, sprach er: „ei so schämt euch, ihr garstigen Mädchen, was lauft ihr dem jungen Bursch durchs Feld nach, schickt sich das?“ Damit faßte er die jüngste an die Hand und wollte sie zurückziehen, wie er sie aber anrührte, blieb er gleichfalls hängen und mußte selber hinten drein laufen. Nicht lange, so kam der Küster und sah den Herrn Pfarrer drei Mädchen auf dem Fuß folgen, da verwunderte er sich und rief: „ei! Herr Pfarrer! wo hinaus so geschwind? heut ist noch eine Kindtaufe!“ lief auf ihn zu und faßte ihn am Ermel und blieb auch fest hängen. Wie die fünf so hinter einander her trabten, kamen zwei Bauern mit ihren Hacken vom Feld, da rief der Pfarrer ihnen zu, sie sollten sie doch los machen. Kaum aber hatten sie den Küster angerührt, so blieben sie hängen und waren ihrer nun siebene, die dem Dummling mit der Gans nachliefen.
] Er kam darauf in eine Stadt, da herrschte ein König, der hatte eine Tochter, die war so ernsthaft, daß sie niemand zum Lachen bringen konnte. Darum hatte er ein Gesetz gegeben, wer sie könnte zu lachen machen, der sollte sie heirathen. Der Dummling, als er das hörte, ging mit seiner Gans und ihrem Anhang vor die Königstochter, und wie diese die sieben Menschen immer hinter einander herlaufen sah, fing sie überlaut an zu lachen, und wollte gar nicht wieder aufhören. Da verlangte sie der Dummling zur Braut, aber der König machte allerlei Einwendungen und sagte, er müßte ihm erst einen Mann bringen, der einen Keller voll Wein austrinken könnte. Der Dummling dachte an das graue Männchen, das könnte ihm wohl helfen, ging hinaus in den Wald, und auf der Stelle, wo er den Baum abgehauen hatte, sah er einen Mann sitzen, der machte ein gar betrübtes Gesicht. Der Dummling fragte: was er sich so sehr zu Herzen nähme? „Ei! antwortete er, ich bin so durstig, und kann nicht genug zu trinken kriegen, ein Faß Wein hab ich zwar ausgeleert, aber was ist ein Tropfen auf einem heißen Stein?“ „Da kann ich dir helfen, sagte der Dummling, komm nur mit mir, du sollst satt haben.“ Er führte ihn darauf in des Königs Keller und der Mann machte sich über die großen Fässer, trank und trank, daß ihm die Hüften weh thaten, und ehe ein Tag herum war, hatte er den ganzen Keller ausgetrunken. Der Dummling verlangte wieder seine Braut; der König aber ärgerte sich, daß ein schlechter Bursch, den jedermann einen Dummling nannte, seine Tochter davon tragen sollte, und machte neue Bedingungen: er müsse ihm erst einen Mann schaffen, der einen Berg voll Brot aufessen könnte. Der Dummling ging wieder in den Wald, da saß auf des Baumes Platz ein Mann, der schnürte sich den Leib mit einem Riemen zusammen, machte ein grämliches Gesicht und sagte: „ich habe einen ganzen Backofen voll Raspelbrot gegessen, aber was hilft das bei meinem großen Hunger, ich spür nichts im Leib und muß mich nur zuschnüren, wenn ich nicht Hungers sterben soll.“ Wie der Dummling das hörte, war er froh und sprach: „steig auf und geh mit mir, du sollst dich satt essen.“ Er führte ihn an den Hof des Königs, der hatte alles Mehl aus dem ganzen Reich zusammenfahren und einen ungeheuern Berg davon backen lassen; der Mann aber aus dem Wald stellte sich davor, fing an zu essen, und in einem Tag und einer Nacht, war der ganze Berg verschwunden. Der Dummling forderte wieder seine Braut; der König aber suchte noch einmal Ausflucht, und verlangte ein Schiff, das zu Land wie zu Wasser fahren könnte; schaffe er aber das, dann solle er gleich die Königstochter haben. Der Dummling ging noch einmal in den Wald, da saß das alte graue Männchen, dem er seinen Kuchen gegeben, und sagte: „ich hab für dich getrunken und gegessen, ich will dir auch das Schiff geben; das alles thu’ ich, weil du barmherzig gegen mich gewesen bist.“ Da gab er ihm das Schiff, das zu Land und zu Wasser fuhr, und als der König das sah, mußte er ihm seine Tochter geben. Da ward die Hochzeit gefeiert, und der Dummling erbte das Reich, und lebte lange Zeit vergnügt mit seiner Gemahlin.

Samstag, 10. November 2012

Ödipus Stadt


Über meinen vorletzten Theaterbesuch mochte ich nicht schreiben, denn ich will es mir nicht zur Gewohnheit werden lassen, der gemeinen und gefährlich leichtfertigen Lust an bösen Verrissen nachzugeben. Und etwas Fröhliches wäre mir dazu nicht eingefallen, außer dass Herr Klammer wieder einmal eine Freude war. Einmeterachtzig Mann mit blonden Gretelzöpfen und rosa Minimalkleidchen als
narzistische Nazigattin und wenn die Zöpfe fallen, ist er auch noch der Gatte, und man möchte beide nicht zum Feind haben. 
Und trotz alledem, ich werde keinen Klammer-Fanclub gründen. Nein, werde ich nicht. Ich bin ja schon der Vorsitzende des Kleist-Fanclubs.

Nun gestern Abend im DT - Ödipus Stadt nach Sophokles & Euripides & Aischylos - Regie Stephan Kimmig. Bitte hingehen! Zweieinhalb Stunden ohne Pause und ich habe es erst danach beim Auf-Die-Uhr-Gucken bemerkt. Hingehen, bitte!

Sophokles (497/6 – 406/5 v. Chr.) war von den drei großen Tragikern der Mittlere, jünger als Aischylos (525/524 – circa 456/455 v. Chr.), aber älter als Euripides (480 – 406 v. Chr.). In etwa 120 Jahre griechischer Politik und Veränderung - wir nennen es die Hochzeit der antiken griechischen Tragödie. Hochzeit - HOCHzeit. Antik, was für ein mißverständliches Wort. Fünfziger Jahre Müll wird antik genannt, weiße Statuen, die einstmals bunt angemalt waren, auch. Das Wort antik (lat. antiquus: „alt“) bezieht sich auf: die Antike im Altertum und Antiquitäten (auch aus jüngeren Zeitepochen) sagt Wiki.

Hier, an diesem Abend, übersetzt sich Antike in wiedererkennbare, sich wiederholende und doch darum nicht weniger erschreckende Muster und wird also grausam wahrhaftig. 
Fühmann nannte den Mythos ein Modell, in dem der ganze Mensch mit seinen verschiedenen, widersprüchlichen Seiten anwesend ist. Das Märchen strebt nach Klarheit, nach der Auflösung des unlösbaren Konflikts, der Mythos gibt ihn wieder.
Eine Freundin beschrieb es mit:  "Du kannst der Macht einfach nicht entkommen."
Was ist es, dass uns machtlos macht, der Verlockung von Macht zu wiederstehen? Macht Macht uns zu anderen Menschen? 
Immer wenn ich Herrn Grönemeyer "Kinder an die Macht" singen höre, überkommt mich ein leichter Schauder. Gib einem Fünfjährigen Macht und sage ihm dann, dass er Mittagsschlaf machen muß oder nicht noch drei Kugeln Eis bekommt, du wirst schon sehen, was passiert! 
Das Gefühl der Machtlosigkeit macht uns alle, aber sicher die Mächtigen umso mehr, unberechenbar. Und da das Leben unweigerlich zum Tod führt, entkommen wir dem Bewußtsein der Machtlosigkeit nicht, so sehr wir uns bemühen, alle Unwägbarkeiten aus dem Weg zu räumen. Wie soll Gerechtigkeit sein, da der Tod doch kein Recht kennt? Auch nicht das Recht des Machtvolleren.

Ödipus, der Sohn des Laios, König von Theben tötet, in Unkenntnis der Verwandtschaft, den Vater, heiratet die Mutter, die beiden haben vier gemeinsame Kinder: Eteokles, Polineikes, Antione, Ismene. 
Sein Onkel, der Bruder seiner Mutter/Ehefrau heißt Kreon, dessen Söhne wiederum Menoikeus und Haimon. Noch den Seher Teiresias dazu und einige Boten und Hirten, und wir haben die Personage des Abends zusammen. 
Überlebende: Kreon und die Boten und Hirten.

Eine tolle Fassung von John van Duffel - kristallklar, konzentriert und Raum gebend für Poesie und Spiel. Hier wird miteinander gespielt! Schauspieler tun, was sie nicht oft tun dürfen, sie nehmen einander wahr und wollen sich mir mitteilen. Ich weiß, das klingt lapidar, aber ich habe als Zuschauer oft das Gefühl, dass meine Anwesenheit von nur geringem Interesse für die Agierenden auf der Bühne ist. Was dann umgekehrt proportional auch mein Interesse am Geschehen erlahmen läßt.

Eine fast leere luftige Bühne mit einer mittigen, riesigen Halfpipe aus hellem Holz, die nach hinten steil hochgebogen ist, was es den Spielern ermöglicht  immer wieder verzweifelt und erfolglos der Erde entfliehen zu wollen, den Himmel zu stürmen, um auf dem Hintern zu landen. 

Und es ist auch ein Ohrenschmaus. Große Sprache intelligent und verstanden gesprochen. Das gibt es noch, und ist auch kein Kunstgewerbe, sondern Kunst.

P.S.: Ein alter jüdischer Witz, jeder der eine jüdische/polnische/russische oder anderweitig gluckige Mutter hat, wird ihn verstehen:
Psychiater: " Ich muß Ihnen sagen, dass ihr Sohn einen Ödipus Komplex hat."
Mutter: "Ödipus Schmödipus! Das macht doch nichts, solange er seine Mutter liebt."
 

"I have to tell you, that your son is suffering from an Oedipus complex." "Oedipus, Schmoedipus! What does it matter, so long as he loves his mother?"