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Sonntag, 11. Januar 2015

DER KAISER UND DIE NACHTIGALL





 Brassai
DER KAISER UND DIE NACHTIGALL

In China, weißt du ja wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle, die er um sich hat, sind Chinesen. Es sind nun viele Jahre her, aber gerade deshalb ist es wert, die Geschichte zu hören, ehe sie vergessen wird. Des Kaisers Schloß war das prächtigste der Welt, ganz und gar von feinem Porzellan, so kostbar, aber so spröde, so mißlich daran zu rühren, daß man sich ordentlich in acht nehmen mußte. Im Garten sah man die wunderbarsten Blumen, und an die allerprächtigsten waren Silberglocken gebunden, die erklangen, damit man nicht vorbeigehen möchte, ohne die Blumen zu bemerken. Ja, alles war in des Kaisers Garten fein ausgedacht, und er erstreckte sich so weit, daß der Gärtner selbst das Ende nicht kannte; ging man immer weiter, so kam man in den herrlichsten Wald mit hohen Bäumen und tiefen Seen. Der Wald ging gerade hinunter bis zum Meere, das blau und tief war. Große Schiffe konnten unter den Zweigen hinsegeln, und in diesen wohnte eine Nachtigall, die so herrlich sang, daß selbst der arme Fischer, der soviel anderes zu tun hatte, stillhielt und horchte, wenn er nachts ausgefahren war, um das Fischnetz aufzuziehen. "Ach Gott, wie ist das schön!" sagte er, aber dann mußte er auf sein Netz achtgeben und vergaß den Vogel; doch wenn dieser in der nächsten Nacht wieder sang und der Fischer dorthin kam, sagte er wieder: "Ach Gott, wie ist das doch schön!"

Von allen Ländern kamen Reisende nach der Stadt des Kaisers und bewunderten sie, das Schloß und den Garten; doch wenn sie die Nachtigall zu hören bekamen, sagten sie alle: "Das ist doch das Beste!"

Die Reisenden erzählten davon, wenn sie nach Hause kamen, und die Gelehrten schrieben viele Bücher über die Stadt, das Schloß und den Garten, aber die Nachtigall vergaßen sie nicht, sie wurde am höchsten gestellt, und die, welche dichten konnten, schrieben die herrlichsten Gedichte über die Nachtigall im Walde bei dem tiefen See.

Die Bücher durchliefen die Welt, und einige kamen dann auch einmal zum Kaiser. Er saß in seinem goldenen Stuhl, las und las, jeden Augenblick nickte er mit dem Kopfe, denn er freute sich über die prächtigen Beschreibungen der Stadt, des Schlosses und des Gartens. "Aber die Nachtigall ist doch das Allerbeste!" stand da geschrieben.

"Was ist das?" fragte der Kaiser. "Die Nachtigall kenne ich ja gar nicht! Ist ein solcher Vogel hier in meinem Kaiserreiche und sogar in meinem Garten? Das habe ich nie gehört; so etwas soll man erst aus Büchern erfahren?"

Da rief er seinen Haushofmeister. Der war so vornehm, daß, wenn jemand, der geringer war als er, mit ihm zu sprechen oder ihn um etwas zu fragen wagte, er weiter nichts erwiderte als: "P!" Und das hat nichts zu bedeuten.

"Hier soll ja ein höchst merkwürdiger Vogel sein, der Nachtigall genannt wird!" sagte der Kaiser. "Man spricht, dies sei das Allerbeste in meinem großen Reiche; weshalb hat man mir nie etwas davon gesagt?"

"Ich habe ihn früher nie nennen hören", sagte der Haushofmeister. "Er ist nie bei Hofe vorgestellt worden!"

"Ich will, daß er heute abend herkomme und vor mir singe!" sagte der Kaiser. "Die ganze Welt weiß, was ich habe, und ich weiß es nicht!"

"Ich habe ihn früher nie nennen hören!" sagte der Haushofmeister. "Ich werde ihn suchen, ich werde ihn finden!"

Aber wo war er zu finden? Der Haushofmeister lief alle Treppen auf und nieder, durch Säle und Gänge, keiner von allen denen, auf die er traf, hatte von der Nachtigall sprechen hören. Und der Haushofmeister lief wieder zum Kaiser und sagte, daß es sicher eine Fabel von denen sei, die da Bücher schreiben. "Dero Kaiserliche Majestät können gar nicht glauben, was da alles geschrieben wird; das sind Erdichtungen und etwas, was man die schwarze Kunst nennt!"

"Aber das Buch, in dem ich dieses gelesen habe", sagte der Kaiser, "ist mir von dem großmächtigen Kaiser von Japan gesandt, also kann es keine Unwahrheit sein. Ich will die Nachtigall hören; sie muß heute abend hier sein! Sie hat meine höchste Gnade! Und kommt sie nicht, so soll dem ganzen Hof auf den Leib getrampelt werden, wenn er Abendbrot gegessen hat!"

"Tsing-pe!" sagte der Haushofmeister und lief wieder alle Treppen auf und nieder, durch alle Säle und Gänge; und der halbe Hof lief mit, denn sie wollten nicht gern auf den Leib getrampelt werden. Da gab es ein Fragen nach der merkwürdigen Nachtigall, die von aller Welt gekannt war, nur von niemand bei Hofe.

Endlich trafen sie ein kleines, armes Mädchen in der Küche. Sie sagte: "O Gott, die Nachtigall, die kenne ich gut, ja, wie kann die singen! Jeden Abend habe ich die Erlaubnis, meiner armen, kranken Mutter einige Überbleibsel vom Tische mit nach Hause zu bringen. Sie wohnt unten am Strande, wenn ich dann zurückgehe, müde bin und im Walde ausruhe, höre ich Nachtigall singen. Es kommt mir dabei das Wasser in die Augen, und es ist gerade, als ob meine Mutter mich küßte!"

"Kleine Köchin", sagte der Haushofmeister, "ich werde dir eine feste Anstellung in der Küche und die Erlaubnis, den Kaiser speisen zu sehen, verschaffen, wenn du uns zur Nachtigall führen kannst; denn sie ist zu heute abend angesagt."

So zogen sie allesamt hinaus in den Wald, wo die Nachtigall zu singen pflegte; der halbe Hof war mit. Als sie im besten Zuge waren, fing eine Kuh zu brüllen an.

"Oh!" sagten die Hofjunker, "nun haben wir sie; das ist doch eine merkwürdige Kraft in einem so kleinen Tiere! Die habe ich sicher schon früher gehört!"

"Nein, das sind Kühe, die brüllen!" sagte die kleine Köchin. "Wir sind noch weit von dem Orte entfernt!"

Nun quakten die Frösche im Sumpfe.

"Herrlich!" sagte der chinesische Schloßpropst. "Nun höre ich sie, es klingt gerade wie kleine Tempelglocken."

"Nein, das sind Frösche!" sagte die kleine Köchin. "Aber nun, denke ich werden wir sie bald hören!"

Da begann die Nachtigall zu singen.

"Das ist sie", sagte das kleine Mädchen. "Hört, hört! Und da sitzt sie!" Sie zeigte nach einem kleinen, grauen Vogel oben in den Zweigen.

"Ist es möglich?" sagte der Haushofmeister. "So hätte ich sie mir nimmer gedacht; wie einfach sie aussieht! Sie hat sicher ihre Farbe darüber verloren, daß sie so viele vornehme Menschen um sich erblickt!"

"Kleine Nachtigall", rief die kleine Köchin ganz laut, "unser gnädigste Kaiser will, daß Sie vor ihm singen möchten!"

"Mit dem größten Vergnügen", sagte die Nachtigall und sang dann, daß es eine Lust war.

"Es ist gerade wie Glasglocken!" sagte der Haushofmeister. "Und seht die kleine Kehle, wie sie arbeitet! Es ist merkwürdig, daß wir sie früher nie gesehen haben; sie wird großes Aufsehen bei Hofe machen!"

"Soll ich noch einmal vor dem Kaiser singen?" fragte die Nachtigall, die glaubte, der Kaiser sei auch da.

"Meine vortreffliche, kleine Nachtigall", sagte der Haushofmeister, "ich habe die große Freude, Sie zu einem Hoffeste heute abend einzuladen, wo Sie dero hohe Kaiserliche Gnaden mit Ihrem prächtigen Gesange bezaubern werden!"

"Der nimmt sich am besten im Grünen aus!" sagte die Nachtigall, aber sie kam doch gern mit, als sie hörte, daß der Kaiser es wünschte.

Auf dem Schlosse war alles aufgeputzt. Wände und Fußboden, die von Porzellan waren, glänzten im Strahle vieler tausend goldener Lampen, und die prächtigsten Blumen, die recht klingeln konnten, waren in den Gängen aufgestellt. Da war ein Laufen und ein Zugwind, aber alle Glocken klingelten so, daß man sein eigenes Wort nicht hören konnte.

Mitten in dem großen Saal, wo der Kaiser saß, war ein goldener Stab hingestellt, auf dem sollte die Nachtigall sitzen. Der ganze Hof war da, und die kleine Köchin hatte die Erlaubnis erhalten, hinter der Tür zu stehen, da sie nun den Titel einer wirklichen Hofköchin bekommen hatte. Alle waren in ihrem größten Staate, und alle sahen nach dem kleinen, grauen Vogel, dem der Kaiser zunickte.

Die Nachtigall sang so herrlich, daß dem Kaiser die Tränen in die Augen traten, die Tränen liefen ihm über die Wa:ngen hernieder, und da sang die Nachtigall noch schöner; das ging recht zu Herzen. Der Kaiser war sehr erfreut und sagte, daß die Nachtigall einen goldenen Pantoffel um den Hals tragen solle. Aber die Nachtigall dankte, sie habe schon Belohnung genug erhalten.

"Ich habe Tränen in des Kaisers Augen gesehen, das ist mir der reichste Schatz! Gott weiß es, ich bin genug belohnt!" Und darauf sang sie wieder mit ihrer süßen, herrlichen Stimme.

"Das ist die liebenswürdigste Stimme, die wir kennen!" sagten die Damen ringsherum, und dann nahmen sie Wasser in den Mund, um zu klucken, wenn jemand mit ihnen spräche; sie glaubten, dann auch Nachtigallen zu sein. Ja, die Diener und Kammermädchen ließen melden, daß auch sie zufrieden seien, und das will viel sagen, denn sie sind am schwierigsten zu befriedigen. Ja, die Nachtigall machte wahrlich Glück.

Sie sollte nun bei Hofe bleiben, ihren eigenen Käfig haben, samt der Freiheit, zweimal des Tages und einmal des Nachts herauszuspazieren. Sie bekam zwölf Diener mit, die ihr ein Seidenband um das Bein geschlungen hatten, woran sie sie festhielten. Es war durchaus kein Vergnügen bei solchem Ausflug.

Die ganze Stadt sprach von dem merkwürdigen Vogel, und begegneten sich zwei, dann seufzten sie und verstanden einander: Ja, elf Hökerkinder wurden nach ihr benannt, aber nicht eins von ihnen hatte einen Ton in der Kehle.

Eines Tages erhielt der Kaiser eine Kiste, auf der geschrieben stand: "Die Nachtigall."

"Da haben wir nun ein neues Buch über unseren berühmten Vogel!" sagte der Kaiser; aber es war kein Buch, es war ein Kunststück, das in einer Schachtel lag, eine künstliche Nachtigall, die der lebenden gleichen sollte, aber überall mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzt war. Sobald man den künstlichen Vogel aufzog, konnte er eins der Stücke, die der wirkliche sang, singen, und dann bewegte sich der Schweif auf und nieder und glänzte von Silber und Gold. Um den Hals hing ein kleines Band, und darauf stand geschrieben: "Des Kaisers von Japan Nachtigall ist arm gegen die des Kaisers von China."

"Das ist herrlich!" sagten alle, und der Mann, der den künstlichen Vogel gebracht hatte, erhielt sogleich den Titel: Kaiserlicher Oberhofnachtigallbringer.

"Nun müssen sie zusammen singen! Was wird das für ein Genuß werden!"

Sie mußten zusammen singen, aber es wollte nicht recht gehen, denn die wirkliche Nachtigall sang auf ihre Weise, und der Kunstvogel ging auf Walzen. "Der hat keine Schuld", sagte der Spielmeister; "der ist besonders taktfest und ganz nach meiner Schule!" Nun sollte der Kunstvogel allein singen. Er machte ebenso viel Glück wie der wirkliche, und dann war er viel niedlicher anzusehen; er glänzte wie Armbänder und Brustnadeln.

Dreiunddreißigmal sang er ein und dasselbe Stück und war doch nicht müde; die Leute hätten ihn gern wieder von vorn gehört, aber der Kaiser meinte, daß nun auch die lebendige Nachtigall etwas singen solle. Aber wo war die? Niemand hatte bemerkt, daß sie aus dem offenen Fenster fort zu ihren grünen Wäldern geflogen war.

"Aber was ist denn das?" fragte der Kaiser; und alle Hofleute schalten und meinten, daß die Nachtigall ein höchst undankbares Tier sei. "Den besten Vogel haben wir doch!" sagten sie, und so mußte der Kunstvogel wieder singen, und das war das vierunddreißigste Mal, daß sie dasselbe Stück zu hören bekamen, aber sie konnten es noch nicht ganz auswendig, denn es war sehr schwer. Der Spielmeister lobte den Vogel außerordentlich, ja, er versicherte, daß er besser als die wirkliche Nachtigall sei, nicht nur was die Kleider und die vielen herrlichen Diamanten betreffe, sondern auch innerlich.

"Denn sehen Sie, meine Herrschaften, der Kaiser vor allen! Bei der wirklichen Nachtigall kann man nie berechnen, was da kommen wird, aber bei dem Kunstvogel ist alles bestimmt; man kann es erklären, man kann ihn aufmachen und das menschliche Denken zeigen, wie die Walzen liegen, wie sie gehen und wie das eine aus dem andern folgt!"

"Das sind ganz unsere Gedanken!" sagten sie alle, und der Spielmeister erhielt die Erlaubnis, am nächsten Sonntag den Vogel dem Volke vorzuzeigen. Es sollte ihn auch singen hören, befahl der Kaiser, und es hörte ihn, und es wurde so vergnügt, als ob es sich im Tee berauscht hätte, denn das ist ganz chinesisch; und da sagten alle: "Oh!" und hielten den Zeigefinger in die Höhe und nickten dazu. Aber die armen Fischer, welche die wirkliche Nachtigall gehört hatten, sagten: "Es klingt hübsch, die Melodien gleichen sich auch, aber es fehlt etwas, wir wissen nicht was!"

Die wirkliche Nachtigall ward aus dem Lande und Reiche verwiesen.

Der Kunstvogel hatte seinen Platz auf einem seidenen Kissen dicht bei des Kaisers Bett; alle Geschenke, die er erhalten, Gold und Edelsteine, lagen rings um ihn her, und im Titel war er zu einem 'Hochkaiserlichen Nachttischsänger' gestiegen, im Range Numero eins zur linken Seite, denn der Kaiser rechnete die Seite für die vornehmste, auf der das Herz saß, und das Herz sitzt auch bei einem Kaiser links. Und der Spielmeister schrieb ein Werk von fünfundzwanzig Bänden über den Kunstvogel; das war so gelehrt und lang, voll von den allerschwersten chinesischen Wörtern, daß alle Leute sagten, sie haben es gelesen und verstanden, denn sonst wären sie ja dumm gewesen und auf den Leib getrampelt worden.

So ging es ein ganzes Jahr; der Kaiser, der Hof und alle die übrigen Chinesen konnten jeden kleinen Kluck in des Kunstvogels Gesang auswendig, aber gerade deshalb gefiel er ihnen jetzt am allerbesten; sie konnten selbst mitsingen, und das taten sie. Die Straßenbuben sangen "Ziziiz! Kluckkluckkluck!" und der Kaiser sang es. Ja, das war gewiß prächtig!

Aber eines Abends, als der Kunstvogel am besten sang und der Kaiser im Bette lag und darauf hörte, sagte es "Schwupp" inwendig im Vogel; da sprang etwas. "Schnurrrr!" Alle Räder liefen herum, und dann stand die Musik still.

Der Kaiser sprang gleich aus dem Bette und ließ seinen Leibarzt rufen. Aber was konnte der helfen? Dann ließen sie den Uhrmacher holen, und nach vielem Sprechen und Nachsehen brachte er den Vogel etwas in Ordnung, aber er sagte, daß er sehr geschont werden müsse, denn die Zapfen seien abgenutzt, und es sei unmöglich, neue so einzusetzen, daß die Musik sicher gehe. Das war nun eine große Trauer! Nur einmal des Jahres durfte man den Kunstvogel singen lassen, und das war fast schon zuviel, aber dann hielt der Spielmeister eine kleine Rede mit schweren Worten und sagte, daß es ebensogut wie früher sei, und dann war es ebensogut wie früher.

Nun waren fünf Jahre vergangen, und das ganze Land bekam eine wirkliche, große Trauer. Die Chinesen hielten im Grunde allesamt große Stücke auf ihren Kaiser, und jetzt war er krank und konnte nicht länger leben. Schon war ein neuer Kaiser gewählt, und das Volk stand draußen auf der Straße und fragte den Haushofmeister, wie es seinem alten Kaiser gehe.

"P!" sagte er und schüttelte mit dem Kopfe.

Kalt und bleich lag der Kaiser in seinem großen, prächtigen Bett. Der ganze Hof glaubte ihn tot, und ein jeder lief, den neuen Kaiser zu begrüßen, die Kammerdiener liefen hinaus, um darüber zu sprechen, und die Kammermädchen hatten große Kaffeegesellschaft. Ringsumher in allen Sälen und Gängen war Tuch gelegt, damit man niemand gehen höre, und deshalb war es sehr still. Aber der Kaiser war noch nicht tot; steif und bleich lag er in dem prächtigen Bette mit den langen Samtvorhängen und den schweren Goldquasten, hoch oben stand ein Fenster auf, und der Mond schien herein auf den Kaiser und den Kunstvogel.

Der arme Kaiser konnte kaum atmen, es war gerade, als ob etwas auf seiner Brust säße. Er schlug die Augen auf, und da sah er, daß es der Tod war. Er hatte sich eine goldene Krone aufgesetzt und hielt in der einen Hand des Kaisers goldenen Säbel, in der andern seine prächtige Fahne. Ringsumher aus den Falten der großen Samtbettvorhänge sahen allerlei wunderliche Köpfe hervor, einige ganz häßlich, andere lieblich und mild; das waren des Kaisers gute und böse Taten, die ihn anblickten, jetzt, da der Tod ihm auf dem Herzen saß.

"Entsinnst du dich dessen?" Und dann erzählten sie ihm so viel, daß ihm der Schweiß von der Stirne rann.

"Das habe ich nie gewußt!" sagte der Kaiser. "Musik, Musik, die große chinesische Trommel", rief er, "damit ich nicht alles zu hören brauche, was sie sagen!"

Aber sie fuhren fort, und der Tod nickte wie ein Chinese zu allem, was gesagt wurde. "Musik, Musik!" schrie der Kaiser. "Du kleiner herrlicher Goldvogel, singe doch, singe! Ich habe dir Gold und Kostbarkeiten gegeben, ich habe dir selbst meinen goldenen Pantoffel um den Hals gehängt, singe doch, singe!"

Aber der Vogel stand still, es war niemand da, um ihn aufzuziehen, sonst sang er nicht, und der Tod fuhr fort, den Kaiser mit seinen großen, leeren Augenhöhlen anzustarren, und es war still, erschrecklich still.

Da klang auf einmal vom Fenster her der herrlichste Gesang. Es war die kleine, lebendige Nachtigall, die auf einem Zweige draußen saß. Sie hatte von der Not ihres Kaisers gehört und war deshalb gekommen, ihm Trost und Hoffnung zu singen; und so wie sie sang, wurden die Gespenster bleicher und bleicher, das Blut kam immer rascher und rascher in des Kaisers schwachen Gliedern in Bewegung, und selbst der Tod horchte und sagte: "Fahre fort, kleine Nachtigall! Fahre fort!"

"Ja, willst du mir den prächtigen, goldenen Säbel geben? Willst du mir die reiche Fahne geben? Willst du mir des Kaisers Krone geben?"

Der Tod gab jedes Kleinod für einen Gesang, und die Nachtigall fuhr fort zu singen. Sie sang von dem stillen Gottesacker, wo die weißen Rosen wachsen, wo der Flieder duftet und wo das frische Gras von den Tränen der Überlebenden befeuchtet wird. Da bekam der Tod Sehnsucht nach seinem Garten und schwebte wie ein kalter, weißer Nebel aus dem Fenster.

"Dank, Dank!" sagte der Kaiser, "du himmlischer, kleiner Vogel, ich kenne dich wohl! Dich habe ich aus meinem Lande und Reich gejagt, und doch hast du die bösen Geister von meinem Bette weggesungen, den Tod von meinem Herzen weggeschafft! Wie kann ich dir lohnen?"

"Du hast mich belohnt!" sagte die Nachtigall. "Ich habe deinen Augen Tränen entlockt, als ich das erstemal sang, das vergesse ich nie; das sind die Juwelen, die ein Sängerherz erfreuen. Aber schlafe nun und werde stark, ich werde dir vorsingen!"

Sie sang, und der Kaiser fiel in süßen Schlummer; mild und wohltuend war der Schlaf!

Die Sonne schien durch das Fenster herein, als er gestärkt und gesund erwachte. Keiner von seinen Dienern war noch zurückgekehrt; denn sie glaubten, er sei tot; aber die Nachtigall saß noch und sang.

"Immer mußt du bei mir bleiben!" sagte der Kaiser. "Du sollst nur singen, wenn du selbst willst, und den Kunstvogel schlage ich in tausend Stücke."

"Tue das nicht", sagte die Nachtigall, "der hat ja das Gute getan, solange er konnte, behalte ihn wie bisher. Ich kann nicht nisten und wohnen im Schlosse, aber laß mich kommen, wenn ich selbst Lust habe, da will ich des Abends dort beim Fenster sitzen und dir vorsingen, damit du froh werden kannst und gedankenvoll zugleich. Ich werde von den Glücklichen singen und von denen, die da leiden; ich werde vom Bösen und Guten singen, was rings um dich her dir verborgen bleibt. Der kleine Singvogel fliegt weit herum zu dem armen Fischer, zu des Landmanns Dach, zu jedem, der weit von dir und deinem Hofe entfernt ist. Ich liebe dein Herz mehr als deine Krone, und doch hat die Krone einen Duft von etwas Heiligem um sich. Ich komme und singe dir vor! Aber eins mußt du mir versprechen!"

"Alles!" sagte der Kaiser und stand da in seiner kaiserlichen Tracht, die er angelegt hatte, und drückte den Säbel, der schwer von Gold war, an sein Herz. "Um eins bitte ich dich; erzähle niemand, daß du einen kleinen Vogel hast, der dir alles sagt, dann wird es noch besser gehen!"

So flog die Nachtigall fort.

Die Diener kamen herein, um nach ihrem toten Kaiser zu sehen; ja, da standen sie, und der Kaiser sagte: "Guten Morgen!"

Hans Christian Andersen





Horst Janssen
Vogelkäfig, Holzschnitt 1958

Ein Vogel singt nicht, weil er eine Antwort hat, er singt, weil er ein Lied hat. M. Angelou

Ich weiss, warum der im Käfig gefangene Vogel singt

Der freie Vogel springt 
auf den Rücken des Winds
und schwimmt abwärts
bis die Strömung endet -
und tunkt seine Schwingen 
in die orangeglühenden Sonnenstrahlen
und nennt den Himmel sein eigen.

Aber ein Vogel der 
seinen engen Käfig abmisst,
kann selten durch 
das Gitter seiner Wut blicken.
Seine Flügel sind geknickt, 
seine Füsse gebunden -
so öffnet er seine Kehle und singt.

Der gefangene Vogel 
singt in furchtsamem Ton
von unbekannten Dingen, 
nach denen er sich sehnt.
Und seine Weise wird gehört 
auf fernem Hügel;
denn der gefangene Vogel 
singt von der Freiheit.

Der freie Vogel lebt in einer anderen Brise
und der Wind weht sanft durch die seufzenden Bäume.
Auf dem grünen Rasen die fetten Würmer warten
und sein ist die Weite des Himmels.

Aber der gefangene Vogel steht auf seiner Träume Grab -
sein Schatten schreit im Albtraum.
Seine Schwingen sind gebrochen, seine Füsse gebunden,
so öffnet er seine Kehle und singt.

Der gefangene Vogel singt 
in furchtsamem Ton
von unbekannten Dingen, 
nach denen er sich sehnt.
Und seine Weise wird gehört 
auf fernem Hügel;
denn der gefangene Vogel 
singt von der Freiheit.

Maya Angelou
Übersetzung Siraganda

The Caged Bird

A free bird leaps
on the back of the wind   
and floats downstream   
till the current ends
and dips his wing
in the orange sun rays
and dares to claim the sky.

But a bird that stalks
down his narrow cage
can seldom see through
his bars of rage
his wings are clipped and   
his feet are tied
so he opens his throat to sing.

The caged bird sings   
with a fearful trill   
of things unknown   
but longed for still   
and his tune is heard   
on the distant hill   
for the caged bird   
sings of freedom.

The free bird thinks of another breeze
and the trade winds soft through the sighing trees
and the fat worms waiting on a dawn bright lawn
and he names the sky his own

But a caged bird stands on the grave of dreams   
his shadow shouts on a nightmare scream   
his wings are clipped and his feet are tied   
so he opens his throat to sing.

The caged bird sings   
with a fearful trill   
of things unknown   
but longed for still   
and his tune is heard   
on the distant hill   
for the caged bird   
sings of freedom.
 
 

Sonntag, 7. September 2014

Mein lieber Schwan!



SCHWAN
SCHWANENHALS, SCHWANENGESANG, MIR SCHWANT ETWAS.

Herr Schwan, Herr Schwan, dein Gesang ist süß, aber deine Eier sind sauer.

Sprichwort

Leo Slezak, berühmter österreichischer Tenor, sang den Lohengrin, in dieser Oper wird der Gralsritter Lohengrin, auf einem Schwan reitend zu Elsa, der Herzogin von Brabant als Helfer und Beschützer gesandt. Er gebietet ihr, ihn niemals nach seinem Namen zu fragen und reist mitsamt Schwan wieder ab. Der verantwortliche Bühnentechniker zog eines Abends den Reiseschwan zu früh oder zu schnell, jedenfalls gelang Slezak der Aufstieg nicht, woraufhin er sich mit fragendem Gesicht an das Publikum wandte und " Wann kommt der nächste Schwan?" fragte. 

Im Aassee von Münster hat sich der weibliche Teil eines Paars schwarzer Schwäne, nach dem Tod ihres Partners, unsterblich in ein schwanenförmiges Tretboot verliebt. Sie begleitete es überallhin. Andre ebenfalls Schwänen nachgebildete Gefährte führten zu keinerlei Reaktion.
Nach Ansicht des zooeigenen Verhaltensbiologen ist nicht davon auszugehen, dass sich das Tier jemals von seinem Tretboot trennen wird.” 


Die Schwanen- oder kontinentbedingt Giraffenhälse der Frauen der Padaung


http://de.wikipedia.org/wiki/Padaung

Wieso sagt man, wenn jemand eine Vorahnung hat, dass ihm etwas schwant? Ist der Schwan im Volksglauben ein Vogel mit Zukunftsahnung?

Ob die Wendung etwas mit dem Schwan zu tun hat, ist nicht geklärt. Sie findet sich zuerst im Mittelniederdeutschen (Braunschweig 1514), aber in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts auch schon im Hochdeutschen. Möglicherweise liegt das Verb wanen ›wähnen, ahnen‹ zugrunde, wobei zwischen einem vorgestellten Personalpronomen und diesem Verb die Wortgrenze sich verschoben hat (mir’s wanet > mir swanet. Ähnliches ist – in umgekehrter Richtung – bei dem Wort Otter (›Schlange‹) eingetreten, das auf Natter zurückgeht. Hier wurde das anlautende n als Ende eines vorangehenden unbestimmten Artikels empfunden (ein[e] Atter); das a im vermeintlichen Anlaut wurde zu o verdumpft. – Eine andere Herleitungsmöglichkeit bringt doch den Schwan ins Spiel: Der Wendung könnte neulateinisch olet mihi (›es ahnt mir‹, von lat. olere, ›riechen, sich durch Geruch bemerkbar machen‹) zugrunde liegen. Von Gelehrten der frühen Neuzeit könnte dieses Verb scherzhaft an das lateinische Wort für den Schwan, olor, angeschlossen worden sein, so dass schwanen die »wörtliche« Übersetzung von olere wäre.
Gefunden bei:

 
SCHWANENGESANG

Kyknos (altgr.: Κύκνος, Schwan), ist in der griechischen Mythologie der Sohn des Sthenelos und der Okeanide Klymene (Okeanide).
Kyknos war König von Ligurien und Geliebter des Phaethon. Als Phaethon tot vom Himmel in den Fluss Eridanus stürzt, eilt Kyknos herbei und trauert um ihn. Von Apollon wird er daraufhin aus Mitleid in einen Schwan aus leuchtenden Sternen am Nachthimmel verwandelt. Bevor Kyknos aus Trauer über den geliebten Freund starb, sang er auf jene von keinem anderen Gesang an trauriger Schönheit übertroffene Weise. Wiki

Der Schwan

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
schwer und wie gebunden hinzugehn,
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen:

in die Wasser, die ihn sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehen, Flut um Flut;

während er unendlich still und sicher


immer mündiger und königlicher
und gelassener zu ziehn geruht. 

Rainer Maria Rilke
Aus der Sammlung Neue Gedichte, Erster Teil

 Wenn Schwäne an Land sind, watscheln sie wie Balletttänzerinnen ohne Tanz.
Eine sich bedroht fühlende Schwänin hat einmal mit ihren Flügeln den Yorkie meiner Mutter ohnmächtig geschlagen, eins ihrer Kinder war blind, die ersten Wochen des Sommers schwamm es noch in einiger Entfernung hinter seiner Familie her, eines Tages nicht mehr, ich habe ihn nie wieder gesehen.

Und dann gibt es noch Die Sechs Schwäne, ein Märchen in der Sammlung der Gebrüder Grimm auch unter Die Zwölf Brüder oder, Hoffnung aller Mädchen, die sich unansehnlich finden, Das häßliche Entlein von Hans Christian Andersen.

http://de.wikisource.org/wiki/Die_sechs_Schw%C3%A4ne_%281812%29

http://www.grimmstories.com/de/grimm_maerchen/die_zwoelf_brueder

Und aus der Carmina Burana von Carl Orff, das Lied des gebratenen Schwanes:

Olim lacus olumeram

Der gebratene Schwan singt:

Einst schwamm ich auf den Seen umher,
Einst lebte ich und war schön,
Als ich ein Schwan noch war.

Armer, armer!
Nun so schwarz
Und so arg verbrannt!

Es dreht und wendet mich der Koch.
Das Feuer brennt mich sehr.
Nun setzt mich vor der Speisemeister.

Armer, armer!
Nun so schwarz
Und so arg verbrannt!

Jetzt liege ich auf der Schüssel
Und kann nicht mehr fliegen,
Sehe bleckende Zähne um mich her!

Armer, armer!
Nun so schwarz
Und so arg verbrannt!

Leviticus 11:27
Unter den Vögeln sollt ihr Folgende verabscheuen - man darf sie nicht essen, sie sind abscheulich: ... das Käuzlein, den Schwan, den Uhu...


Montag, 18. August 2014

HANS IM GLÜCK



HANS IM GLÜCK

Hans hatte sieben Jahre bei seinem Herrn gedient, da sprach er zu ihm »Herr, meine Zeit ist herum, nun wollte ich gerne wieder heim zu meiner Mutter, gebt mir meinen Lohn«. Der Herr antwortete: »Du hast mir treu und ehrlich gedient, wie der Dienst war, so soll der Lohn sein«, und gab ihm ein Stück Gold, das so groß als Hansens Kopf war. Hans zog sein Tüchlein aus der Tasche, wickelte den Klumpen hinein, setzte ihn auf die Schulter und machte sich auf den Weg nach Haus. Wie er so dahin gieng und immer ein Bein vor das andere setzte, kam ihm ein Reiter in die Augen, der frisch und fröhlich auf einem muntern Pferde vorbei trabte. »Ach«, sprach Hans ganz laut, »was ist das Reiten ein schönes Ding! Da sitzt einer wie auf einem Stuhl, stößt sich an keinen Stein, spart die Schuh und kommt fort, er weiß nicht wie.« Der Reiter, der das gehört hatte, hielt an und rief: »Ei Hans, warum läufst du auch zu Fuß?« »Ich muß ja wohl, da habe ich einen Klumpen heim zu tragen, es ist zwar Gold, aber ich kann den Kopf dabei nicht gerad halten: auch drückt mirs auf die Schulter.« »Weißt du was«, sagte der Reiter, »wir wollen tauschen, ich gebe dir mein Pferd, und du gibst mir deinen Klumpen.« »Von Herzen gern«, sprach Hans, »aber ich sage euch, ihr müßt euch damit schleppen.« Der Reiter stieg ab, nahm das Gold und half dem Hans hinauf, gab ihm die Zügel fest in die Hände und sprach: »Wenns nun recht geschwind soll gehen, so mußt du mit der Zunge schnalzen und ›hopp hopp‹ rufen«.

Hans war seelenfroh, als er auf dem Pferde saß und so frank und frei dahin ritt. Über ein Weilchen fiels ihm ein, es sollte noch schneller gehen, und fing an mit der Zunge zu schnalzen und »hopp hopp« zu rufen. Das Pferd setzte sich in starken Trab, und ehe sichs Hans versah, war er abgeworfen, und lag in einem Graben, der die Äcker von der Landstraße trennte. Das Pferd wäre auch durchgegangen, wenn es nicht ein Bauer aufgehalten hätte, der des Weges kam und eine Kuh vor sich her trieb. Hans suchte seine Glieder zusammen und machte sich wieder auf die Beine. Er war aber verdrießlich und sprach zu dem Bauer: »Es ist ein schlechter Spaß, das Reiten, zumal wenn man auf so eine Mähre geräth wie diese, die stößt und einen herab wirft, daß man den Hals brechen kann, ich setze mich nun und nimmermehr wieder auf. Da lob ich mir eure Kuh, da kann einer mit Gemächlichkeit hinter her gehen und hat obendrein seine Milch, Butter und Käse jeden Tag gewiß. Was gäb ich darum, wenn ich so eine Kuh hätte!« »Nun«, sprach der Bauer, »geschieht euch so ein großer Gefallen, so will ich euch wohl die Kuh für das Pferd vertauschen.« Hans willigte mit tausend Freuden ein: der Bauer schwang sich aufs Pferd und ritt eilig davon.

Hans trieb seine Kuh ruhig vor sich her und bedachte den glücklichen Handel. »Hab ich nur ein Stück Brot, und daran wird mirs doch nicht fehlen, so kann ich, so oft mirs beliebt, Butter und Käse dazu essen; hab ich Durst, so melk ich meine Kuh und trinke Milch. Herz, was verlangst du mehr?« Als er zu einem Wirthshaus kam, machte er Halt, aß in der großen Freude alles, was er bei sich hatte, sein Mittag- und Abendbrot, rein auf und ließ sich für seine letzten paar Heller ein halbes Glas Bier einschenken. Dann trieb er seine Kuh weiter, immer nach dem Dorfe seiner Mutter zu. Die Hitze war drückender, je näher der Mittag kam, und Hans befand sich in einer Heide, die wohl noch eine Stunde dauerte. Da ward es ihm ganz heiß, so daß ihm vor Durst die Zunge am Gaumen klebte. »Dem Ding ist zu helfen«, dachte Hans, »jetzt will ich meine Kuh melken und mich an der Milch laben.« Er band sie an einen dürren Baum, und stellte, da er keinen Eimer hatte, seine Ledermütze unter, aber so sehr er sich auch bemühte, es kam kein Tropfen Milch zum Vorschein. Und weil er sich ungeschickt dabei anstellte, so gab ihm das ungeduldige Thier endlich mit einem der Hinterfüße einen solchen Schlag vor den Kopf, daß er zu Boden taumelte und eine zeitlang sich gar nicht besinnen konnte, wo er war. Glücklicherweise kam gerade ein Metzger des Weges, der auf einem Schubkarren ein junges Schwein liegen hatte. »Was sind das für Streiche!« rief er und half dem guten Hans auf. Hans erzählte, was vorgefallen war. Der Metzger reichte ihm seine Flasche und sprach: »Da trinkt einmal, und erholt euch. Die Kuh will wohl keine Milch geben, das ist ein altes Thier, das höchstens noch zum Ziehen taugt oder zum Schlachten«. »Ei, ei«, sprach Hans, und strich sich die Haare über den Kopf, »wer hätte das gedacht! Es ist freilich gut, wenn man so ein Thier ins Haus abschlachten kann, was gibts für Fleisch! aber ich mache mir aus dem Kuhfleisch nicht viel, es ist mir nicht saftig genug. Ja, wer so ein junges Schwein hätte! Das schmeckt anders, dabei noch die Würste.« »Hört, Hans«, sprach der Metzger, »euch zu Liebe will ich tauschen und will euch das Schwein für die Kuh lassen.« »Gott lohn euch eure Freundschaft!« sprach Hans und übergab ihm die Kuh, und ließ sich das Schweinchen vom Karren losmachen und den Strick, woran es gebunden war, in die Hand geben.

Hans zog weiter und überdachte, wie ihm doch alles nach Wunsch ginge: begegnete ihm ja eine Verdrießlichkeit, so würde sie doch gleich wieder gut gemacht. Es gesellte sich danach ein Bursch zu ihm, der trug eine schöne weiße Gans unter dem Arm. Sie boten einander die Zeit, und Hans fing an von seinem Glück zu erzählen und wie er immer so vorteilhaft getauscht hätte. Der Bursch sagte ihm, daß er die Gans zu einem Kindtaufschmaus brächte. »Hebt einmal«, fuhr er fort und packte sie bei den Flügeln, »wie schwer sie ist, die ist aber auch acht Wochen lang genudelt worden. Wer in den Braten beißt, muß sich das Fett von beiden Seiten abwischen.« »Ja«, sprach Hans und wog sie mit der einen Hand, »die hat ihr Gewicht, aber mein Schwein ist auch keine Sau.« Indessen sah sich der Bursch nach allen Seiten ganz bedenklich um, schüttelte auch wohl mit dem Kopf. »Hört«, fing er darauf an, »mit eurem Schweine mags nicht so ganz richtig sein. In dem Dorfe, durch das ich gekommen bin, ist eben dem Schulzen eins aus dem Stall gestohlen worden; ich fürchte, ich fürchte ihr habts da in der Hand. Sie haben Leute ausgeschickt, und es wäre ein schlimmer Handel, wenn sie euch mit dem Schweine erwischten: das geringste ist, daß ihr ins finstere Loch gesteckt werdet.« Dem guten Hans ward bang; »ach Gott«, sprach er, »helft mir aus der Noth, ihr wißt hier herum besser Bescheid, nehmt mein Schwein da und laßt mir eure Gans«. »Ich muß schon etwas aufs Spiel setzen«, antwortete der Bursche, »aber ich will doch nicht Schuld sein, daß ihr ins Unglück geratet.« Er nahm also das Seil in die Hand und trieb das Schwein schnell auf einem Seitenweg fort, der gute Hans aber gieng, seiner Sorgen entledigt, mit der Gans unter dem Arme der Heimat zu. »Wenn ichs recht überlege«, sprach er mit sich selbst, »habe ich noch Vortheil bei dem Tausch: erstlich den guten Braten, hernach die Menge von Fett, die herausträufeln wird, das gibt Gänsefettbrot auf ein Vierteljahr, und endlich die schönen weißen Federn, die laß ich mir in mein Kopfkissen stopfen und darauf will ich wohl ungewiegt einschlafen. Was wird meine Mutter eine Freude haben!«

Als er durch das letzte Dorf gekommen war, stand da ein Scherenschleifer mit seinem Karren: sein Rad schnurrte und er sang dazu:

»Ich schleife die Schere und drehe geschwind,
und hänge mein Mäntelchen nach dem Wind.«

Hans blieb stehen und sah ihm zu; endlich redete er ihn an und sprach: »Euch gehts wohl, weil ihr so lustig bei eurem Schleifen seid«. »Ja«, antwortete der Scherenschleifer, »das Handwerk hat einen güldenen Boden. Ein rechter Schleifer ist ein Mann, der, so oft er in die Tasche greift, auch Geld darin findet. Aber wo habt ihr die schöne Gans gekauft?« »Die hab ich nicht gekauft, sondern für mein Schwein eingetauscht.« »Und das Schwein?« »Das hab ich für eine Kuh gekriegt.« »Und die Kuh?« »Die hab ich für ein Pferd bekommen.« »Und das Pferd?« »Dafür hab ich einen Klumpen Gold, so groß als mein Kopf, gegeben.« »Und das Gold?« »Ei, das war mein Lohn für sieben Jahre Dienst.« »Ihr habt euch jederzeit zu helfen gewußt«, sprach der Schleifer, »könnt ihrs nun dahin bringen, daß ihr das Geld in der Tasche springen hört, wenn ihr aufsteht, so habt ihr euer Glück gemacht.« »Wie soll ich das anfangen?« sprach Hans. »Ihr müßt ein Schleifer werden, wie ich; dazu gehört eigentlich nichts als ein Wetzstein, das andere findet sich schon von selbst. Da hab ich einen, der ist zwar ein wenig schadhaft, dafür sollt ihr mir aber auch weiter nichts als eure Gans geben; wollt ihr das?« »Wie könnt ihr noch fragen«, antwortete Hans, »ich werde ja zum glücklichsten Menschen auf Erden: habe ich Geld, so oft ich in die Tasche greife, was brauche ich da länger zu sorgen?« reichte ihm die Gans hin und nahm den Wetzstein in Empfang. »Nun«, sprach der Schleifer und hob einen gewöhnlichen schweren Feldstein, der neben ihm lag, auf, »da habt ihr noch einen tüchtigen Stein dazu, auf dem sichs gut schlagen läßt und ihr eure alten Nägel gerade klopfen könnt. Nehmt hin und hebt ihn ordentlich auf.«

Hans lud den Stein auf und gieng mit vergnügtem Herzen weiter; seine Augen leuchteten vor Freude, »ich muß in einer Glückshaut geboren sein«, rief er aus, »alles was ich wünsche, trifft mir ein, wie einem Sonntagskind.« Indessen, weil er seit Tagesanbruch auf den Beinen gewesen war, begann er müde zu werden, auch plagte ihn der Hunger, da er allen Vorrat auf einmal in der Freude über die erhandelte Kuh aufgezehrt hatte. Er konnte endlich nur mit Mühe weiter gehen und mußte jeden Augenblick Halt machen; dabei drückten ihn die Steine ganz erbärmlich. Da konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie gut es wäre, wenn er sie gerade jetzt nicht zu tragen brauchte. Wie eine Schnecke kam er zu einem Feldbrunnen geschlichen, wollte da ruhen und sich mit einem frischen Trunk laben; damit er aber die Steine im Niedersitzen nicht beschädigte, legte er sie bedächtig neben sich auf den Rand des Brunnens. Darauf setzte er sich nieder und wollte sich zum Trinken bücken, da versah ers, stieß ein klein wenig an, und beide Steine plumpten hinab. Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freuden auf, kniete dann nieder und dankte Gott mit Thränen in den Augen, daß er ihm auch diese Gnade noch erwiesen und ihm auf eine so gute Art und ohne daß er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte; das einzige wäre ihm nur noch hinderlich gewesen. »So glücklich wie ich«, rief er aus, »gibt es keinen Menschen unter der Sonne.« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.


Aus: Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm 2. Auflage von 1819 an Stelle 83 (KHM 83)
Stammt aus der Zeitschrift Wünschelruthe, wo August Wernicke ihn 1818 veröffentlichte. 
Ludwig Bechstein übernahm ihn in sein Deutsches Märchenbuch als Hans im Glücke (1845 Nr. 24, 1853 Nr. 22) 





Illustrationen aus: Wonder World: Fairy Tales Old and New


Und dann habe ich das noch gefunden, noch nie davon gehört:

Hans im Glück, ein Stück aus Bertolt Brechts jungen Jahren, wurde in einer Inszenierung von Sebastian Sommer am Berliner Ensemble wiederbelebt. Am 1. März 2014 war Premiere. Während der damals 21-jährige Brecht Hans im Glück für „misslungen, ein Ei, das halb stinkt“, hielt, ist dem Fragment durchaus viel abzugewinnen. ...
Alles beginnt im ländlichen Idyll. Dort lebt Hans mit seiner jungen Frau Hanne glücklich auf dem eigenen Hof zusammen. Als ein Fremder, Herr Feili, in ihre kleine Welt eindringt, entzweien sich die beiden: Hanne wird von Feili verführt und geht mit ihm fort von ihrem Mann. Hans, dumm und gutmütig, lässt sie ziehen, weil er sie liebt und nicht möchte, dass sie unglücklich ist. Er aber wird in der Einsamkeit apathisch und lässt sich und seinen Besitz verlottern. Als drei Kaufmänner auf der Suche nach einem Nachtlager an seine Tür klopfen, überlässt er ihnen kurzerhand den ganzen Hof und zieht dafür im Tausch mit Planwagen und Pferd der drei Männer los. Auch ihn verlockt es, nun die Amüsements dieser Welt kennenzulernen. Und wer weiß: Vielleicht trifft er ja Hanne wieder … Wie im grimmschen Märchen tauscht Hans nun ein Ding gegen das andere ein; stets gutgläubig und immer davon überzeugt, er entscheide sich zu seinem Besten. Auf diese Weise verliert er seinen gesamten Besitz, auch seine Freiheit und seinen eigenen Körper, am Ende gar sein Leben. Faszinierend jedoch, wie diese “Besitztümer“ ihm nichts bedeuten: Sein größtes Glück findet er in der Beobachtung der Natur und seiner ewigen Liebe zu Hanne.
Das Stück ist eine Absage an alle bürgerlichen Werte und ein poetisches Manifest für das Glück, das in dem Menschen selbst und seiner Wahrnehmung schlummert. Hans wird als Träumer und Dummer verlacht, doch sein Beharren auf dem Glück, das er in allen Situationen findet, lässt ihn den Spöttern bald unheimlich werden. Seine Fähigkeit, das Schöne zu sehen, überragt am Ende alle “Intelligenz“, Gerissenheit und Boshaftigkeit, die ihn zu unterdrücken versuchen. Hans triumphiert inmitten der Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt.

Magdalena Sporkmann

Samstag, 28. Juni 2014

Roger Mayne - Eine Strasse in London 1957



St. Stephens Gardens, London W2
1957

 Roger Mayne

Mädchen auf den Stufen
1957

Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kein Mutter war Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat gerrt Tag und Nacht. Und wie auf der Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum und wie’s zu den Sterne kam, warn’s klei golde Mücke, die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt und da sitzt’ es noch und ist ganz allein.

Aus: Georg Büchner, Woyzeck, Fragment, 1836/37


 Mädchen auf den Stufen
1957

Nun ging es immerzu, weit weit, bis an der Welt Ende. Da kam es zur Sonne, aber die war zu heiss und fürchterlich, und frass die kleinen Kinder. Eilig lief es weg und lief hin zu dem Mond, aber der war gar zu kalt und auch grausig und bös, und als er das Kind merkte, sprach er: "Ich rieche Menschenfleisch".

Aus: Gebrüder Grimm, Die Sieben Raben


 Schwertkämpfer
1957

Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr hatte, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte.

Aus: Gebrüder Grimm, Sterntaler

Rauchende Jungs
1956


Mädchen, dass gerade einen Handstand machen will
1957

There was a little girl,
Who had a little curl,
Right in the middle of her forehead.
When she was good,
She was very good indeed,
But when she was bad she was horrid.
 
Henry Wadsworth Longfellow


Alle Photographien © Roger Mayne


Samstag, 5. April 2014

Das Kalte Herz in Stuttgart - Armin Petras


1992 oder 93 fuhr ich mit einem Freund nach Franfurt an der Oder, um dort die Inszenierung eines jungen Regisseurs anzusehen, den ich Jahre zuvor als elfjährigen schmalen, scheuen, blonden Jungen im adretten Wohnzimmer einer Schulfreundin kennengelernt hatte. Es wurde für ein ganz wunderbarer Theaterabend. Krass und witzig und in großartiger Sympathie mit allen Figuren, Kleists "Käthchen von Heilbronn" auf der kleineren Bühne des, damals noch existierenden, Franfurter Kleist-Theaters. Ich erinnere mich deutlich an Rahel Ohm als Kunigunde in verzweifelter, erfolgloser, manischer Diät zur perfekten Schönheit, unter ständiger Bedrohung durch die Verführungskraft gesalzener Erdnüsse. Hier wurde Kleist ganz und gar Ernst genommen und in kräftiger, seltsamer Umarmung in die Jetztzeit geleitet. 
Ich habe von da an, wann immer ich konnte, versucht seine Arbeiten zu sehen, wo auch immer sie auftauchten und dieser Regisseur ist viel herumgekommen in Deutschlands Theatern. Manches war nahezu perfekt, manches schien halbfertig, als hätte ihn nur ein Strang des Stückes interessiert und alles andere wurde nur abgearbeitet, oder bei der gleichzeitigen Realisierung von drei Stücken an verschiedenen Theatern war einfach nicht genug Zeit alles zu Ende zu denken.
Und immer wieder hat er mich in meiner Mitte erwischt. 

Leipzig - Tellheim in dreifacher Ausfertigung, drei Generationen von geschassten NVA- Offizieren, die sich in der neuen Ordnung nicht zurecht finden und ihr mit erlernten Mitteln entgegentreten. Westgelddrucken im Eigenverlag.

Kassel - Noch einmal Rahel Ohm, diesmal als Ophelia, die von einer glücklichen Zukunft mit Hamlet in Wittenberg träumt, in der sie Schauspiel studieren und Saxophon spielen wird, und die von den problembeladenen Männern desinteressiert zurückgelassen wird.

Berlin - Michael Klammers Baumwollfeldtanz in den "Früchten des Zorns" am Maxim Gorki Theater. 

Und, und, und.
Ich meine Armin Petras. 

Rahel Ohm war auch heute Abend in Stuttgart dabei, zauberhaft und doch eigenartig vernachlässigt als Mutter des Peter Munk. Was genau habe ich heute Abend gesehen? Einen Versuch zwischen Tanztheater, Musical, ernsthafter Volkskunst und den Möglichkeiten des Sprechtheaters, sich über den Schrecken der GIER zu verständigen. Was in uns macht uns gierig, rücksichtslos, kaltherzig? Wo wurzelt diese rasende Lust auf das ZUVIEL? 
Kein vollständiger Wurf, aber es wurde weit geworfen. 
Vielleicht kann ich es so formulieren: Selbst wenn ich mäkele oder unzufrieden bleibe, habe ich bei Petras doch nie das Gefühl, verscheissert oder übertölpelt worden zu sein. Ich wurde als Zuschauer Ernst genommen und habe dadurch die Freiheit nicht einverstanden zu sein.


Foto: Michael Steinert

Wilhelm Hauff

Aus dem Märchen-Almanach auf das Jahr 1826

"In einem schönen, fernen Reiche, von welchem die Sage lebt, daß die Sonne in seinen ewig grünen Gärten niemals untergehe, herrschte von Anfang an bis heute die Königin Phantasie. ... Einst kam Märchen, die älteste Tochter der Königin, von der Erde zurück. Die Mutter bemerkte, daß Märchen traurig sei, ja, hier und da wollte ihr bedünken, als ob sie verweinte Augen hätte.
»Was hast du, liebes Märchen«, sprach die Königin zu ihr, »du bist seit deiner Reise so traurig und niedergeschlagen, willst du deiner Mutter nicht anvertrauen, was dir fehlt?«
»Ach, liebe Mutter«, antwortete Märchen, »ich hätte gewiß nicht so lange geschwiegen, wenn ich nicht wüßte, daß mein Kummer auch der deinige ist.«
»Sprich immer, meine Tochter«, bat die schöne Königin, »der Gram ist ein Stein, der den einzelnen niederdrückt, aber zwei tragen ihn leicht aus dem Wege.«
»Du willst es«, antwortete Märchen, »so höre: Du weißt, wie gerne ich mit den Menschen umgehe, wie ich freudig auch bei dem Ärmsten vor seiner Hütte sitze, um nach der Arbeit ein Stündchen mit ihm zu verplaudern; sie boten mir auch sonst gleich freundlich die Hand zum Gruß, wenn ich kam, und sahen mir lächelnd und zufrieden nach, wenn ich weiterging; aber in diesen Tagen ist es gar nicht mehr so!«
»Armes Märchen!« sprach die Königin und streichelte ihr die Wange, die von einer Träne feucht war, »aber du bildest dir vielleicht dies alles nur ein?«
»Glaube mir, ich fühle es nur zu gut«, entgegnete Märchen, »sie lieben mich nicht mehr. Überall, wo ich hinkomme, begegnen mir kalte Blicke; nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder, die ich doch immer so lieb hatte, lachen über mich und wenden mir altklug den Rücken zu."



Dienstag, 1. April 2014

Lear und Prinzessin Mäusehaut

Das Salz ist absolut und rein wie der Tod. Gabriela Mistral, Elogia de la sal (1926)

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CUM GRANO SALIS
Das Salz ist absolut und rein wie der Tod. Gabriela Mistral, Elogia de la sal (1926)

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Nº 71.


Prinzessin Mäusehaut.

Ein König hatte drei Töchter; da wollte er wissen, welche ihn am liebsten hätte, ließ sie vor sich kommen und fragte sie. Die älteste sprach, sie habe ihn lieber, als das ganze Königreich; die zweite, als alle Edelsteine und Perlen auf der Welt; die dritte aber sagte, sie habe ihn lieber als das Salz. Der König ward aufgebracht, daß sie ihre Liebe zu ihm mit einer so geringen Sache vergleiche, übergab sie einem Diener und befahl, er solle sie in den Wald führen und tödten. Wie sie in den Wald gekommen waren, bat die Prinzessin den Diener um ihr Leben; dieser war ihr treu, und würde sie doch nicht getödtet haben, er sagte auch, er wolle mit ihr gehen, und ganz nach ihren Befehlen thun. Die Prinzessin verlangte aber nichts, als ein Kleid von Mausehaut, und als er ihr das geholt, wickelte sie sich hinein und ging fort. Sie ging geradezu an den Hof eines benachbarten Königs, gab sich für einen Mann aus, und bat den König, daß er sie in seine Dienste nehme. Der König sagte es zu, und sie solle bei ihm die Aufwartung haben: Abends mußte sie ihm die Stiefel ausziehen, die warf er ihr allemal an den Kopf. Einmal fragte er, woher sie sey? – „Aus dem Lande, wo man den Leuten die Stiefel nicht um den Kopf wirft.“ Der König ward da aufmerksam, endlich brachten ihm die andern Diener einen Ring; Mausehaut habe ihn verloren, der sey zu kostbar, den müsse er gestohlen haben. Der König ließ Mausehaut vor sich kommen und fragte, woher der Ring sey? da konnte sich Mausehaut nicht länger verbergen, sie wickelte sich von der Mausehaut los, ihre goldgelben Haare quollen hervor, und sie trat heraus so schön, aber auch so schön, daß der König gleich die Krone von seinem Kopf abnahm und ihr aufsetzte, und sie für seine Gemahlin erklärte.
Zu der Hochzeit wurde auch der Vater der Mausehaut eingeladen, der glaubte seine Tochter sey schon längst todt, und erkannte sie nicht wieder. Auf der Tafel aber waren alle Speisen, die ihm vorgesetzt wurden, ungesalzen, da ward er ärgerlich und sagte: „ich will lieber nicht leben als solche Speise essen!“ Wie er das Wort ausgesagt, sprach die Königin zu ihm: „jetzt wollt ihr nicht leben ohne Salz, und doch habt ihr mich einmal wollen tödten lassen, weil ich sagte, ich hätte euch lieber als Salz!“ da erkannt er seine Tochter, und küßte sie, und bat sie um Verzeihung, und es war ihm lieber als sein Königreich, und alle Edelsteine der Welt, daß er sie wiedergefunden.

Brüder Grimm  Kinder- und Haus-Märchen Band 1
Große Ausgabe, nur in der Ausgabe von 1812
Variant Die Gänsehirtin am Brunnen http://www.textlog.de/40218.html

 
3. Buch Mose 2/13
Alle deine Speisopfer sollst du salzen, 
und dein Speisopfer soll niemals ohne Salz des Bundes deines Gottes sein; 
bei allen deinen Opfern sollst du Salz darbringen. 

Sonntag, 12. Januar 2014

O Fallada



"O du Falada, da du hangest"
"O du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
ihr Herz tät ihr zerspringen."



Karl Blechen "Karrengaul" 1825/1828


O Fallada, die du hangest! 
Ein Pferd klagt an

Ich zog meine Fuhre trotz meiner Schwäche
Ich kam bis zur Frankfurter Allee.
Dort denke ich noch: O je!
Diese Schwäche! Wenn ich mich gehenlasse
Kann 's mir passieren, daß ich zusammenbreche.
Zehn Minuten später lagen nur noch meine Knochen auf der Straße.

Kaum war ich da nämlich zusammengebrochen
(Der Kutscher lief zum Telefon)
Da stürzten aus den Häusern schon
Hungrige Menschen, um ein Pfund Fleisch zu erben
Rissen mit Messern mir das Fleisch von den Knochen
Und ich lebte überhaupt noch und war gar nicht fertig
mit dem Sterben.

Aber die kannt' ich doch von früher, die Leute!
Die brachten mir Säcke gegen die Fliegen doch
Schenkten mir altes Brot und ermahnten
Meinen Kutscher, sanft mit mir umzugehen.
Einst mir so freundlich und mir so feindlich heute!
Plötzlich waren sie wie ausgewechselt! Ach, was war
mit ihnen geschehen?

Da fragte ich mich: Was für eine Kälte
Muß über die Leute gekommen sein!
Wer schlägt da so auf sie ein
Daß sie jetzt so durch und durch erkaltet?
So helft ihnen doch! Und tut das in Bälde!
Sonst passiert euch etwas, was ihr nicht für möglich haltet!


Die Gänsemagd.
1815 Erstausgabe
 
Es lebte einmal eine alte Königin, der war ihr Gemahl schon lange Jahre gestorben und sie hatte eine schöne Tochter, wie die erwuchs, wurde sie weit über Feld auch an einen Königssohn versprochen. Als nun die Zeit kam, wo sie vermählt werden sollten, und das Kind in das fremde Reich abreisen mußte, packte ihr die Alte gar viel köstliches Geräth und Geschmeide ein: Gold und Silber, Becher und Kleinode, kurz alles, was ihr zu einem königlichen Brautschatz gehörte, denn sie hatte ihr Kind von Herzen lieb. Auch gab sie ihr eine Kammerjungfer bei, welche mitreiten und die Braut in die Hände des Bräutigams überliefern sollte und jede bekam ein Pferd zur Reise, aber das Pferd der Königstochter hieß Falada und konnte sprechen. Wie nun die Abschiedsstunde da war, begab sich die alte Mutter in ihre Schlafkammer, nahm ein Messerlein und schnitt damit in ihre Finger, daß sie bluteten; darauf hielt sie ein weißes Läppchen unter und ließ drei Tropfen Blut hineinfallen, gab sie der Tochter und sprach: „liebes Kind verwahr sie wohl, sie werden dir unterweges Noth thun.“
Also nahmen beide von einander betrübten Abschied, das Läppchen steckte die Königstochter in ihren Busen vor sich, setzte sich auf’s Pferd und zog nun fort zu ihrem Bräutigam. Da sie eine Stunde geritten waren, empfand sie heißen Durst und rief ihrer Kammerjungfer: steig ab und schöpfe mir mit meinem Becher, den du aufzuheben hast, Wasser aus dem Bach, ich möchte gern einmal trinken. „Ei, wenn ihr Durst habt, sprach die Kammerjungfer, so steigt selber ab, legt euch an’s Wasser und trinkt, ich mag eure Magd nicht seyn!“ Da stieg die Königstochter vor großem Durst herunter, neigte sich über das Wässerlein im Bach und trank und durfte nicht aus dem goldnen Becher trinken. Da sprach sie: „ach Gott!“ da antworteten die drei Blutstropfen: „wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe thät ihr zerspringen.“ Aber die Königsbraut war gar demüthig, sagte nichts und stieg wieder zu Pferd. So ritten sie etliche Meilen weiter fort und der Tag war warm, daß die Sonne stach und sie durstete bald von neuem; da sie nun an einen Wasserfluß kamen, rief sie noch einmal ihrer Kammerjungfer: „steig ab und gieb mir aus meinem Goldbecher zu trinken!“ denn sie hatte aller bösen Worte längst vergessen. Die Kammerjungfer sprach aber noch hochmüthiger: „wollt’ ihr trinken, so trinkt allein, ich mag nicht eure Magd seyn.“ Da stieg die Königstochter hernieder vor großem Durst und legte sich über das fließende Wasser, weinte und sprach: „ach Gott!“ und die Blutstropfen antworteten wiederum: „wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe thät ihr zerspringen!“ Und wie sie so trank und sich recht überlehnte, fiel ihr das Läppchen, worin die drei Tropfen waren, aus dem Busen, und floß mit dem Wasser fort, ohne daß sie es in ihrer großen Angst merkte. Die Kammerfrau hatte aber zugesehen und freute sich, daß sie Macht über die Braut bekäme, denn damit, daß diese die Blutstropfen verloren hatte, war sie schwach geworden. Als sie nun wieder auf ihr Pferd steigen wollte, das da hieß Falada, sagte die Kammerfrau: „auf Falada gehör’ ich und auf meinen Gaul gehörst du“ und das mußte sie sich gefallen lassen, außerdem hieß sie die Kammerfrau auch noch die königlichen Kleider ausziehen und ihre schlechten anlegen, und endlich mußte sie sich unter freiem Himmel verschwören, daß sie am königlichen Hof keinem Menschen nichts davon sprechen wollte, und wenn sie diesen Eid nicht abgelegt hätte, wäre sie auf der Stelle umgebracht worden. Aber Falada sah das alles an und nahm’s wohl in Acht.
Die Kammerfrau stieg nun auf Falada und die wahre Braut auf das schlechte Roß, und so zogen sie weiter, bis sie endlich in dem königlichen Schloß eintrafen, da war große Freude über ihre Ankunft, und der Königssohn sprang ihnen entgegen, hob die Kammerfrau vom Pferde und meinte, sie wäre seine Gemahlin und sie wurde die Treppe hinaufgeführt, die wahre Königstochter aber mußte unten stehen bleiben. Da schaute der alte König am Fenster und sah sie im Hofe halten, nun war sie fein und zart und sehr schön, ging hin ins königliche Gemach und fragte die Braut nach der, die sie bei sich hätte und da unten im Hofe stände, und wer sie wäre? „ei, die hab’ ich mir unterwegs mitgenommen zur Gesellschaft, gebt der Magd was zu arbeiten, daß sie nicht müßig steht.“ Aber der alte König hatte keine Arbeit für sie und wußte nichts, als daß er sagte: „da hab’ ich so einen kleinen Jungen, der hütet die Gänse, dem mag sie helfen!“ Der Junge hieß Kürdchen, (Conrädchen) dem mußte die wahre Braut helfen Gänse hüten.
Bald aber sprach die falsche Braut zu dem jungen König: „liebster Gemahl, ich bitte euch, thut mir einen Gefallen!“ Er antwortete: „das will ich gerne thun.“ „Nun so laßt mir den Schinder rufen und da dem Pferd, worauf ich her geritten bin, den Hals abhauen, weil es mich unterweges geärgert hat;“ eigentlich aber fürchtete sie sich, daß das Pferd sprechen möchte, wie sie mit der Königstochter umgegangen wäre. Nun war das so weit gerathen, daß es geschehen und der treue Falada sterben sollte, da kam es auch der rechten Königstochter zu Ohr und sie versprach dem Schinder heimlich ein Stück Geld, das sie ihm bezahlen wollte, wenn er ihr einen kleinen Dienst erwiese. In der Stadt war ein großes, finsteres Thor, wo sie Abends und Morgens mit den Gänsen durch mußte, „unter das finstere Thor möchte er dem Falada seinen Kopf hinnageln, daß sie ihn doch noch als einmal sehen könnte.“ Also versprach das der Schindersknecht zu thun, hieb den Kopf ab und nagelte ihn unter das finstere Thor fest.
Des Morgens früh, als sie und Kürdchen unterm Thor hinaus trieben, sprach sie im Vorbeigehen:
o du Falada, da du hangest,
da antwortete der Kopf:
o du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
ihr Herz thät ihr zerspringen!
da zog sie still weiter zur Stadt hinaus und sie trieben die Gänse auf’s Feld. Und wenn sie auf der Wiese angekommen war, saß sie hier und machte ihre Haare auf, die waren eitel Silber, und Kürdchen sah sie und freute sich, wie sie glänzten, und wollte ihr ein Paar ausraufen. Da sprach sie:

weh’! weh’! Windchen,
nimm Kürdchen sein Hütchen,
und laß’n sich mit jagen,
bis ich mich geflochten und geschnatzt
und wieder aufgesatzt.
und da kam ein so starker Wind, daß er dem Kürdchen sein Hütchen wegwehte über alle Land, daß es ihm nachlief und bis es wiederkam, war sie mit dem Kämmen und Aufsetzen fertig und er konnte keine Haare kriegen. Da war Kürdchen bös und sprach nicht mit ihr, und so hüteten sie die Gänse bis daß es Abend wurde, dann fuhren sie nach Haus.
Den andern Morgen, wie sie unter dem finstern Thor hinaustrieben, sprach die Jungfrau:
o du Falada, da du hangest,
es antwortete:
o du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
das Herz thät ihr zerspringen!
und in dem Feld setzte sie sich wieder auf die Wiese und fing an ihr Haar auszukämmen, und Kürdchen lief und wollte darnach greifen, da sprach sie schnell:
weh’! weh’! Windchen,
nimm dem Kürdchen sein Hütchen

und laß’n sich mit jagen,
bis ich mich geflochten und geschnatzt
und wieder aufgesatzt.
da wehte der Wind und wehte ihm das Hütchen vom Kopf weit weg, daß es nachzulaufen hatte, und als es wieder kam, hatte sie längst ihr Haar zurecht und es konnte keins davon erwischen, und sie hüteten die Gänse bis es Abend wurde.
Abends aber, nachdem sie heim kamen, ging Kürdchen vor den alten König und sagte: „mit dem Mädchen will ich nicht länger Gänse hüten.“ Warum denn? sprach der alte König. „Ei, das ärgert mich den ganzen Tag.“ Da befahl ihm der alte König, zu erzählen, wie’s ihm denn mit ihr ginge. Da sagte Kürdchen: „des Morgens wenn wir unter dem finstern Thor mit der Heerde durchkommen, so ist da ein Gaulskopf an der Wand, zu dem redet sie:
Falada, da du hangest,
da antwortet der Kopf:
o du Königsjungfer, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
das Herz thät ihr zerspringen!“
und so erzählte Kürdchen weiter was auf der Ganswiese geschähe und wie es da dem Hut im Wind nachlaufen müßte.
Der alte König befahl ihm aber, den nächsten Tag wieder hinaus zu treiben, und er selbst, wie es Morgens war, setzte sich hinter das finstere Thor und hörte da, wie sie mit dem Haupt des Falada sprach; und dann ging er ihr auch nach in das Feld und barg sich in einem Busch auf der Wiese. Da sah er nun bald mit seinen eigenen Augen, wie die Gänsemagd und der Gänsejung die Heerde getrieben brachten und nach einer Weile sie sich setzte und ihre Haare losflocht, die strahlten von Glanz. Gleich sprach sie wieder:
weh’! weh’! Windchen,
Faß Kürdchen sein Hütchen
und laß’n sich mit jagen,
bis daß ich mich geflochten und geschnatzt
und wieder aufgesatzt.
da kam ein Windstoß und fuhr mit Kürdchens Hut weg, daß es weit zu laufen hatte, und die Magd kämmte und flocht ihre Locken still fort, welches der alte König alles beobachtete. Darauf ging er unbemerkt zurück und als Abends die Gänsemagd heim kam, rief er sie bei Seite und fragte: warum sie dem allem so thäte? „das darf ich euch und keinem Menschen nicht sagen, denn so hab’ ich mich unter freiem Himmel verschworen, weil ich sonst um mein Leben wäre gekommen.“ Er aber drang in sie und ließ ihr keinen Frieden, „willst du mir’s nicht erzählen,“ sagte der alte König endlich, „so darfst du’s doch dem Kachelofen erzählen.“ „Ja, das will ich wohl“ antwortete sie. Damit mußte sie in den Ofen kriechen und schüttete ihr ganzes Herz aus, wie es ihr bis dahin ergangen und wie sie von der bösen Kammerjungfer betrogen worden war. Aber der Ofen hatte oben ein Loch, da lauerte ihr der alte König zu und vernahm ihr Schicksal von Wort zu Wort. Da war’s gut und Königskleider wurden ihr alsbald angethan und es schien ein Wunder, wie sie so schön war; der alte König rief seinen Sohn und offenbarte ihm, daß er die falsche Braut hätte, die wäre ein bloßes Kammermädchen, die wahre aber stände hier, als die gewesene Gänsemagd. Der junge König aber war herzensfroh, als er ihre Schönheit und Tugend erblickte und ein großes Mahl wurde angestellt, zu dem alle Leute und gute Freunde gebeten wurden, obenan saß der Bräutigam, die Königstochter zur einen Seite und die Kammerjungfer zur andern, aber die Kammerjungfer war verblendet und erkannte jene nicht mehr in dem glänzenden Schmuck. Als sie nun gegessen und getrunken hatten und gutes Muths waren, gab der alte König der Kammerfrau ein Räthsel auf: was eine solche werth wäre, die den Herrn so und so betrogen hätte, erzählte damit den ganzen Verlauf und fragte: „welches Urtheils ist diese würdig?“ Da sprach die falsche Braut: „die ist nichts bessers werth, als splinternackt ausgezogen in ein Faß inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen geworfen zu werden, und zwei weiße Pferde davor gespannt müssen sie Gaß auf Gaß ab zu Tode schleifen!“ „Das bist du, sprach der alte König, und dein eigen Urtheil hast du gefunden und darnach soll die widerfahren,“ welches auch vollzogen wurde; der junge König vermählte sich aber mit seiner rechten Gemahlin und beide regirten ihr Reich in Frieden und Seligkeit.

Aus Brüder Grimm Kinder- und Haus-Märchen Band 2, Große Ausgabe.