ihr habt mir ein haus gebaut
laßt mich ein anderes anfangen.
ihr habt mir sessel aufgestellt
setzt puppen in eure sessel.
setzt puppen in eure sessel.
ihr habt mir geld aufgespart
lieber stehle ich.
lieber stehle ich.
ihr habt mir einen weg gebahnt
ich schlag mich
durchs gestrüpp seitlich des wegs.
ich schlag mich
durchs gestrüpp seitlich des wegs.
sagtet ihr man soll allein gehn
würd ich gehn
mit euch.
würd ich gehn
mit euch.
Wolfgang Hilbig 1965
Ostberliner Rolling-Stones-Fans, 1965
Quelle: Eulenspiegel, 3. Oktoberheft 1965, Nr. 42
Der SPIEGEL 44/1965
27.10.1965
Für Frieden und Fransen
SOWJETZONE
Der Oberschüler Eckhardt Boschardt hatte die Sommerferien dazu
genutzt, den Schopf sprießen zu lassen. Als er Anfang September
wieder in die zehnte Klasse der Ernst-Wildangel -Oberschule II im
Ost-Berliner Bezirk Mitte zurückkam, reichte sein Haupthaar fast
bis an die Schultern, das Pony-Gefranse bis an die Augenbrauen.
Der pilzköpfige Eckhardt, nach dem Urteil des Schulinspektors Gerczyk "leistungsschwach", nach Meinung des FDJ-Sekretärs Zühlke aber immerhin "ein aufgeweckter Bursche" ("Er verabscheute die USA-Aggression in Vietnam"), orientierte sich nicht nur mit der Haartracht, sondern auch im Gehabe an den britischen Gitarren-Heulern "Rolling Stones", die jüngst in Westdeutschland Teenagerschwärme und Polizeikohorten auf die Beine brachten.
Rolling-Eckhardt vermied es, Kleidung und Schuhe zu reinigen; als die junge Chemie-Lehrerin Pieles ihn während des Unterrichts mit "Rolling Stones" -Bildern hantieren sah und forderte: "Verlassen Sie bitte die Klasse!" antwortete Schüler Boschardt: "Bist wohl blöde ..."
Die ostdeutsche Rolling-Stone-Nachbildung brachte mit dieser Bemerkung den Stein ins Rollen: Kein Pilzkopf in Ulbrichts Reich soll fortan ungeschoren bleiben.
Zwar meinten die acht FDJ-Mitglieder in Boschardts Klasse, daß die Antwort an die Chemie-Lehrerin ungehörig sei, aber die Mehrheit der Schüler sympathisierte eher mit dem Beat-Fan und fand nichts dabei. Doch nach einer "kameradschaftlichen Aussprache" zwischen Schulrat, Schulinspektor, Direktor, Lehrern und Schülern beschloß eine Klassenversammlung einstimmig, Schüler Boschardt habe sich bei Frau Pieles zu entschuldigen - und zwar mit kurzgeschnittenem Haar.
Boschardt indessen klammerte sich an seinen Schopf: Er verweigerte den Gang zum Friseur. Da besorgten Klassenkameraden beim Hausmeister eine Schere, einige Mitschüler hielten den Pilzkopf fest, und einer schnippelte die Strähnen ab. Mit Messerformschnitt entschuldigte sich der entbeatelte Boschardt bei der Chemie-Lehrerin Pieles für seine Ungehörigkeit.
Über den Fall berichtete die FDJ-Tageszeitung "Junge Welt" auf Seite eins, und das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" räumte gar seiner Polemik gegen Ost-Berliner "Amateur-Gammler" eine halbe Seite ein.
Dabei steht Beatle-Musik in der DDR offiziell nach wie vor hoch im Kurs, seit das "Neue Deutschland" Mitte letzten Jahres die "gesunde Naivität" der langmähnigen Klangzauberer als Vorbild für DDR-Tanzmusiker pries. Allerwärts spielen im SED-Staat Amateur -Beat-Kapellen, um die nach Westen horchenden Schüler, Soldaten und Jungarbeiter beiderlei Geschlechts hinter Mauer und Stacheldraht bei Laune zu halten. Freilich war unausbleiblich, daß manche DDR-Jugendliche nicht nur Beat-Rhythmus hören, sondern sich selbst auch im Strähnen-Stil präsentieren wollten.
Im stickigen Zwischenstock des Ost-Berliner Bahnhofs Lichtenberg, zwischen S- und U-Bahn, trafen sich regelmäßig die "Lichtenberger Bahnhofbeatles" mit Pilzköpfen und Twisthosen, und im Jugendklub Fredersdorfer Straße heulten Halbwüchsige nach Beat-Noten.
Reporter des Ost-Berliner "Eulenspiegel" erkundeten, daß diese letzten Heuler alle eine feste Arbeit haben und auch sonst linientreu sind: "Die allermeisten Kunden sind gegen Alkohol, für Most und den Frieden - auch mit der sogenannten Ami-Kutte am eigenen Leib. Mit den bundesdeutschen Gammlern in einen Topf geworfen zu werden, lehnen sie entschieden ab."
Weise empfahl der "Eulenspiegel", die sozialistischen Gammler gewähren zu lassen: "Da hierzulande ein Klima herrscht, in dem nicht nur die Haare wachsen, sondern auch der Verstand; dürfte über kurz oder lang mit einem gesunden Haarausfall zu rechnen sein. In diesem Sinne: Kamm drüber."
Über diesen Kamm aber mochten Ulbrichts Haar-Spalter die Schöpfe nicht scheren, denn der Weltfrieden stand auf dem Spiel.
Kaum war der "Eulenspiegel"-Beitrag über "die Haarlekine von Lichtenberg" erschienen, gab das "Neue Deutschland" parteiamtlich Kontra: Es lobte die Jugendfreunde von der Wildangel-Schule, die dem Pennäler Boschardt die Fransen abgeschnitten hatten.
Ein Pilzkopf, so erläuterte das Blatt, sei staatsgefährdend: "Eine der Hauptspielarten des Imperialismus ... ist die Spekulation, die Jugend der DDR demoralisieren zu können ... Die moralisehe Zersetzung wird leicht zur politischen Zersetzung: Der Übergang vollzieht sich oft sehr schnell ... Die Situation in Europa hat sich verschärft. In Vietnam fallen Bomben!"
DER SPIEGEL 44/1965
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG.
Der pilzköpfige Eckhardt, nach dem Urteil des Schulinspektors Gerczyk "leistungsschwach", nach Meinung des FDJ-Sekretärs Zühlke aber immerhin "ein aufgeweckter Bursche" ("Er verabscheute die USA-Aggression in Vietnam"), orientierte sich nicht nur mit der Haartracht, sondern auch im Gehabe an den britischen Gitarren-Heulern "Rolling Stones", die jüngst in Westdeutschland Teenagerschwärme und Polizeikohorten auf die Beine brachten.
Rolling-Eckhardt vermied es, Kleidung und Schuhe zu reinigen; als die junge Chemie-Lehrerin Pieles ihn während des Unterrichts mit "Rolling Stones" -Bildern hantieren sah und forderte: "Verlassen Sie bitte die Klasse!" antwortete Schüler Boschardt: "Bist wohl blöde ..."
Die ostdeutsche Rolling-Stone-Nachbildung brachte mit dieser Bemerkung den Stein ins Rollen: Kein Pilzkopf in Ulbrichts Reich soll fortan ungeschoren bleiben.
Zwar meinten die acht FDJ-Mitglieder in Boschardts Klasse, daß die Antwort an die Chemie-Lehrerin ungehörig sei, aber die Mehrheit der Schüler sympathisierte eher mit dem Beat-Fan und fand nichts dabei. Doch nach einer "kameradschaftlichen Aussprache" zwischen Schulrat, Schulinspektor, Direktor, Lehrern und Schülern beschloß eine Klassenversammlung einstimmig, Schüler Boschardt habe sich bei Frau Pieles zu entschuldigen - und zwar mit kurzgeschnittenem Haar.
Boschardt indessen klammerte sich an seinen Schopf: Er verweigerte den Gang zum Friseur. Da besorgten Klassenkameraden beim Hausmeister eine Schere, einige Mitschüler hielten den Pilzkopf fest, und einer schnippelte die Strähnen ab. Mit Messerformschnitt entschuldigte sich der entbeatelte Boschardt bei der Chemie-Lehrerin Pieles für seine Ungehörigkeit.
Über den Fall berichtete die FDJ-Tageszeitung "Junge Welt" auf Seite eins, und das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" räumte gar seiner Polemik gegen Ost-Berliner "Amateur-Gammler" eine halbe Seite ein.
Dabei steht Beatle-Musik in der DDR offiziell nach wie vor hoch im Kurs, seit das "Neue Deutschland" Mitte letzten Jahres die "gesunde Naivität" der langmähnigen Klangzauberer als Vorbild für DDR-Tanzmusiker pries. Allerwärts spielen im SED-Staat Amateur -Beat-Kapellen, um die nach Westen horchenden Schüler, Soldaten und Jungarbeiter beiderlei Geschlechts hinter Mauer und Stacheldraht bei Laune zu halten. Freilich war unausbleiblich, daß manche DDR-Jugendliche nicht nur Beat-Rhythmus hören, sondern sich selbst auch im Strähnen-Stil präsentieren wollten.
Im stickigen Zwischenstock des Ost-Berliner Bahnhofs Lichtenberg, zwischen S- und U-Bahn, trafen sich regelmäßig die "Lichtenberger Bahnhofbeatles" mit Pilzköpfen und Twisthosen, und im Jugendklub Fredersdorfer Straße heulten Halbwüchsige nach Beat-Noten.
Reporter des Ost-Berliner "Eulenspiegel" erkundeten, daß diese letzten Heuler alle eine feste Arbeit haben und auch sonst linientreu sind: "Die allermeisten Kunden sind gegen Alkohol, für Most und den Frieden - auch mit der sogenannten Ami-Kutte am eigenen Leib. Mit den bundesdeutschen Gammlern in einen Topf geworfen zu werden, lehnen sie entschieden ab."
Weise empfahl der "Eulenspiegel", die sozialistischen Gammler gewähren zu lassen: "Da hierzulande ein Klima herrscht, in dem nicht nur die Haare wachsen, sondern auch der Verstand; dürfte über kurz oder lang mit einem gesunden Haarausfall zu rechnen sein. In diesem Sinne: Kamm drüber."
Über diesen Kamm aber mochten Ulbrichts Haar-Spalter die Schöpfe nicht scheren, denn der Weltfrieden stand auf dem Spiel.
Kaum war der "Eulenspiegel"-Beitrag über "die Haarlekine von Lichtenberg" erschienen, gab das "Neue Deutschland" parteiamtlich Kontra: Es lobte die Jugendfreunde von der Wildangel-Schule, die dem Pennäler Boschardt die Fransen abgeschnitten hatten.
Ein Pilzkopf, so erläuterte das Blatt, sei staatsgefährdend: "Eine der Hauptspielarten des Imperialismus ... ist die Spekulation, die Jugend der DDR demoralisieren zu können ... Die moralisehe Zersetzung wird leicht zur politischen Zersetzung: Der Übergang vollzieht sich oft sehr schnell ... Die Situation in Europa hat sich verschärft. In Vietnam fallen Bomben!"
DER SPIEGEL 44/1965
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG.
Wenn Zwanzigjährige heute davon hören oder lesen, schmeißen sie sich weg vor Lachen und vermuten, die DDR sei ein ulkiges Land gewesen.
AntwortenLöschenSchön, dass Du ein Gedicht von Hilbig aufgenommen hast. Er ist es wert, nicht vergessen zu werden.
Ines Geipel/ Andreas Petersen, BlackBox DDR, Unerzählte Leben unterm SED Regime
AntwortenLöschenInfo zum Buch aus zwei Rezensionen:
"Dass die Zeitzeugen über das, was sie erleben und erleiden mussten, weitgehend zum Schweigen verurteilt waren, wenn sie sich nicht erneut Unannehmlichkeiten und Verfolgungen aussetzen wollten (…), macht das Buch so interessant und lesenswert, auch 20 Jahre nach dem Ende der SED-Herrschaft. Nahezu alle Zeitzeugen lernt der Leser dabei auch visuell kennen, auf privaten Fotos, was den Reiz des Ganzen erhöht." FPU März 2010
"Die zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR stärker denn je grassierende "Ostalgie" zehrt von der Erinnerung an glückliche Nischen und privaten Freiraum auch in der Diktatur. In 33 exemplarischen Porträts räumen die "Ossi"-Germanistin und Ex-Spitzensprinterin Ines Geipel und der Schweizer Historiker Andreas Petersen mit solchen Legenden gründlich auf."Wiesbadener Kurier, 30.11.09