Sonntag, 21. Oktober 2012

Theater hat auch eine Moral - Geschichten aus dem deutschen Theaterwald


Geschichten aus dem Wienerwald oder Der Mensch ist schlecht

Ich war heute im Theater. Im Berliner Ensemble. O weh. Moralinsauer, ein altmodisches Wort, so alt-backen, wie das was ich heute gesehen habe.

Die Vorgeschichte: 1979, ich hatte heftige Zahnschmerzen, ein Weisheitszahn meckerte mächtig, aber ich saß im Kino. Maximilian Schell hatte "Geschichten aus dem Wienerwald" von Ödön von Horváth inszeniert. Nachts um 12 war ich dann beim Notzahnarzt, der böse Zahn wurde gezogen. Den Film hatte ich vorher noch zu Ende sehen müssen. Früher zu gehen, stand außer Frage. Zu fesselnd war das Geschehen auf der Leinwand.
Birgit Doll und Helmut Qualtinger bleiben, unter anderem, als Bilder menschlicher Verzerrung im Gedächtnis.
Eine unfaßbare Geschichte der Zerstörung von Unschuld und jeder der Mitwirkenden war verzweifelt im Recht. Die Verletzungen, die einander angetan wurden, waren ungeheuerlich, die Selbstgewissheit des eigenen "Nichtanderskönnens" ebenso. Not macht unmenschlich. Not ist unmenschlich. Moral ist der Luxus der "Anderskönnenden". Für mich, einen Zögling der DDR mitsamt des dazugehörigen selbstgerechten Moralurteils, war dies eine nahezu unerträgliche Provokation.
Heute, 2012, im BE, die Verurteilung war vorgefertigt, die Not maniriert, soziale Unterschiede nicht von Interesse. Wir sind alle "cool". Wie ich dieses Wort hasse!
Der Abend beginnt - die Bühne, eine metallene Hügellandschaft. Wird hier "Wolokolamsker Chaussee" gezeigt? Nein, nach 5 Minuten weiß ich, es ist die Donau, eine bleierne Welle. Und bleiern auch, was die Figuren verhandeln.
Mitleid ist herablassend, Mitgefühl ist vonnöten. Aber der emotionale Aufwand wäre zu groß. Also einigt man sich hier auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, Hochmut.
Jeder zelebriert die eigenen Beschränktheit. Soziale Komponenten werden vernachlässigt zu Gunsten einer vagen "Wir sollten doch netter zueinander sein" Vision. Schultheater und Oktoberclub winken aus der Ferne. Angela Winkler ist hinreißend, Gudrun Ritter ebenso, aber jeder Spieler unter dreissig steht nackt und hilflos auf der metallenen Welle. Der Regisseur hilft nicht. Hilfe ist das, wofür er bezahlt wird. Er sollte sich schämen.

3 Kommentare:

  1. Schade!
    Für die Spielenden und für die Schauenden.

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  2. Ibon Regen oh.

    Jens Mittelstenscheid Klingt so nachvollziehbar substanzlos,dass es schon fast
    wieder als originell inszenierte Spiegelei, sollte man Sudelei, Duselei sagen, missverstanden werden könnte. Es scheint eines der Versuche zu sein, das Medium Theater durch eine allzu absichtslose Kopie der neueren visuellen Medien abzuschaffen.

    Martin Baucks Das ist eine der härtesten Kritiken, die ich seit langem gelesen habe,...aber ich glaube der Kritik.

    Ann Rosa Lux ... auch ein oh....

    Burkhard Ritter habe das schon aus anderer Quelle gehört aber nicht so auf den Punkt gebracht.

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  3. In der Pause bin ich weg. Wut und Traurigkeit im Bauch. Im Kopf die vielen begeisterten Kritiken, die mich hinein gelockt hatten.

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