Sonntag, 12. Juli 2015

Friedhöfe in Berlin - Liesenstrasse - Berlin Mitte


Die Friedhöfe an der Liesenstraße entstanden in den 1830er und 1840er Jahren, zu einem Zeitpunkt, als das Gelände am nördlichen Stadtrand Berlins lag. Als ältester Friedhof wurde ab 1830 der Domfriedhof I der Oberpfarr- und Domkirche genutzt. 1834 folgte der alte Domfriedhof der St.-Hedwigs-Gemeinde und ein Jahr später wurde der Friedhof der Französisch-Reformierten Gemeinde eingeweiht. Diese drei Friedhöfe liegen nebeneinander an der Südseite der Liesenstraße im Bezirk Mitte. WIKI

Ich bin in Berlin-Mitte aufgewachsen und habe nichts von diesem Ort gewusst. 
Man geht die Chausseestrasse Richtung Schwartzkopfstrasse entlang am monströsen BND Gelände vorbei, in die Wöhlertstrasse rechts abbiegen und durch einen balkonbehangenen Wohnblock mit Gartenanlagen gelangt man zum Hintereingang des Geländes - der ist nach 16.00 Uhr verschlossen, weil die Anwohner angeblich nächtens Parties zwischen den Gräbern gefeiert haben.

Drei Friedhöfe, ein evangelischer, ein katholischer und einer für Hugenotten, ineinander übergehend, auf einem riesigen parkähnlichen Gelände, durch das 1961 schnell und hart ein Teil der Mauer gebaut wurde, auf alten Gräbern, neue Gräber schaffend. Zwischen Mauerbau und Mauerfall kein neues Grab, der Friedhof durfte, da Grenzgebiet, nur mit Passierschein besucht werden.

Grabkarte für Angehörige zum Besuch vo Gräbern auf Friedhöfen im Grenzgebiet
Dieses Dokument wurde nur für Bewohner der DDR ausgestellt, die Verstorbene auf einem entsprechenden Friedhof hatten. Der Besuch eines Friedhofs im sowjetsektoralen Grenzgebiet (Ostberlin), aus touristischen, historischen oder sonstigen Gründen war untersagt.
 
Berlin im Jahre 1962 an der Berliner Mauer im Wedding
Friedhof Liesenstraße, auch er wurde einfach mit Planierraupen
platt gemacht. Neben dem Lichtmast ist die Hundelaufanlage. Dort wurden Hunde zum Überwachen angebunden. Sie konnten dann 150 Meter weit laufen.
 ©  Gerd Henschel  

Eine blassrote Stoffrose in der Hand, ein gläsernes Herz an der Brust, 
Kopf und Flügel aufgerissen, das Kleid grünspanfarben 
könnte Dali sie da hingestellt haben.


Viele französische Namen natürlich, auf dem katholischen Teil der Friedhofsanlage schlesische, russische (niederschlesische wie Barthel oder Hahnel und oberschlesische wie Grzeszkiewicz, Wosnik oder Kolodziejski) und hier und da ein einsamer Italiener. Der Domfriedhof bietet viele Krauses, und auch Anna Bier, ein schöner Name. 

 Fontanes Grab - ich wusste gar nicht, dass der Hugenotte war.

Theodor Fontane 

Prolog zur Feier des zweihundertjährigen Bestehens der Französischen Kolonie
 
Zweihundert Jahre, daß wir hier zu Land
Ein Obdach fanden, Freistatt für den Glauben,
Und Zuflucht vor Bedrängnis der Gewissen.
Ein hochmuther Fürst, so frei wie fromm,
Empfing uns hier, und wie der Fürst des Landes
Empfing uns auch sein Volk. Kein Neid ward wach,
Nicht Eifersucht, - man öffnete die Thür
Und hieß als Glaubensbrüder uns willkommen.
Land-Fremde waren wir, nicht Herzens-Fremde.
So ward die Freistatt bald zur Heimathstätte,
Drin schlugen Wurzel wir und was seitdem
Durch Gottes Rathschluß dieses Land erfahren,
Wir lebten's mit, sein Leid war unser Leid
Und was es freute war auch unsre Freude.
Wohl pflegten wir das Eigne, der Gemeinde
Gedeihn und Wachsthum blieb uns Herzenssache,
Doch nie vergaßen wir der Pflicht und Sorge,
Daß, was nur Theil war auch dem Ganzen diene.
Mit fleiß'ger Hand, in Allem wohlerfahren,
Was älterer Kultur und wärmrer Sonne
Daheim entsproß und einem reichren Lande -
So wirken wir. Und Gottes Segen krönte
Der Hugenotten redlich Mühn, daß reich
Und glücklich manch Geschlecht dahier erblühte
Als eine Zierde unsrer neuen Heimath.
Sy, Godet, Humbert, Mathieu, Bourgignon,
Roux, Jordan, Erman, Rousset, Michelet,
Sarre, Révir, Reclam, Naudé, Cabanis,
d'Heureuse, Plantier, Charton, Lancizolle -
Und hundert Andre, die ich nennen könnte
Gleich guten Klanges, ja berühmtere noch.
Verschieden all, in Einem aber einig:
Von Herzen treu dem Land, dem Fürstenhause,
Das, treu des Ahnherrn edelstem Vermächtnis,
Von Fürst zu Fürst uns gnädiglich beschütze -
Dem hocherhabenen Haus der Hohenzollern.
Doch nicht zu rühmen ist, was heut uns ziehmt,
Heut ziemt uns nur zu huldigen, zu danken,
Und dieser Dank, was lieh' ihm größ're Kraft
Und Inbrunst, als ein Rückblick auf das Leid, 
das unsre Väter aus der Heimath trieb. -
Erklinge denn Musik und führ' herauf,
Im Widerspiel zu dieser Stunde Glück,
Uns Bilder aus der Zeit der Hugenotten.


Spiegelartikel zum Thema Preussen und seine Hugenotten
Unsere lieben Hugenotten

 Der Kurt von Paris

Die Adlons

Die Familie Hacks



Samstag, 11. Juli 2015

Theater hat Vertrauen


"Versuch's doch mal so." 
"Das funktioniert nicht."
"So wär es vielleicht besser."
"Nee, ist langweilig."
"Nochmal."
"Schneller!" 
"Anschlüsse!"
"Scheiße!"
"Hast Du 'ne Idee?"
"Das war gut, das lassen wir weg."
"Geht gar nicht!"
"Wunderbar!" 
Kicher, kicher, kicher....
"Wunderbar!"
"Oder doch besser so?"

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"Anstatt uns auf eure Gegensätze zu konzentrieren, laßt uns auf eure gemeinsame Liebe zum Theater zurückkommen."
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Regisseur und Spieler, ein delikates Paar, balancierend auf dem schmalen scharfen Grat zwischen Einlassen und Unterordnen für den einen, zwischen Fordern, Fördern und Mißbrauch für den anderen. Vollständige gegenseitige Abhängigkeit mit all den implizierten Gefährdungen und Möglichkeiten.

Wie ein Paar, das sich bei einem schrägen Speed-Dating* trifft - erste Probe, der Regisseur stellt sich vor, man kann es auch Konzeption nennen - "Wenn ich mich theoretisch ausziehe, machst Du Dich echt für mich nackt?". Zweite Probe, der Schauspieler, selbst der erfahrenste, gibt Talentbeweise. Angst ist im Raum. Und die muß da raus.

Es wird erzählt, dass einst zwei Schauspieler vor sich hinprobierten und irgenwie wurde einer von beiden nach unten, in den Zuschauerraum geschickt, um zu gucken, ob der andere in der Mitte stand - und da ist er unten geblieben und hat angefangen, den oben gebliebenen hin und her zu bewegen - die Geburt des Regisseurs. Hybris, die notwendige Vorraussetzung für die Berufs-Eignung.

"Eine gemeinsame Sprache zu finden", die poetisch-hoffnungsvolle Umschreibung dafür, dass der eine ums Verrecken nicht weiß, was der andere meint und der, oft selbst nicht sicher ist, was genau er gerade sagen will. 

Eines meiner besten Premierengeschenke, überreicht von einer Praktikantin mit Humor, war ein Textbuch, in das sie meine Regieanweisungen eingebaut hatte. Mein Gott, was ich in Proben so von mir gebe! Ja, hin und wieder ein guter Gedanke, aber auch grammatikalische Monstrositäten, frei erfundene Wörter, z.B. "ein Schnurpelchen mehr, du weißt schon...", und Assoziationsketten, die mir in der realen Welt eine krankenkassen-finanzierte Unterkunft mit weichen Wänden und reichlich Tabletten sichern würden. Artikel aus der "Brigitte", obskure Filme, Kindheitserinnerungen, wahre und im Augenblick erfundene, Farben, Gerüche, Fetzen aus mitgehörten Gesprächen, Zitate, Traumsequenzen, ordinäre Witze. Gut dass nur ich in meinem Kopf lebe. Im besten Fall ist das Gegenüber ebenso wirr und manisch. Im schlimmsten,, leerer Blick, Panik, Aggression oder hilflose Unterwerfung. Das ist wirklich der schlimmste Fall. Wenn du einen Schauspieler verlierst. Ist mir passiert. Nicht oft, aber zu oft. Gräme mich immer noch, über jeden von ihnen.

Vertrauen*, ein Geschenk, überreicht ohne Sicherheiten, großzügig gegeben und sorgfältig entgegengenommen. Ohne Vertrauen funktioniert die Chose nicht. Beidseitig. Risikobewußt und kindlich.

*Unter Speed-Dating versteht man eine ursprünglich aus den USA stammende Methode, schnell neue Flirt- oder Beziehungspartner, aber auch Geschäftskontakte zu finden. Als Urheber (seit 1998) gilt Rabbi Yaacov Deyo, Mitglied der orthodox-jüdischen Organisation Aish HaTorah mit Sitz in Los Angeles (Kalifornien, USA). Sein Ziel war eine Kontaktplattform für die jüdische Gemeinde, damit sich Alleinstehende jüdischen Glaubens schneller und effizienter kennenlernen können mit der Aussicht, schließlich zu heiraten und damit die Zahl jüdischer Ehen zu erhöhen. WIKI

*Vertrauen ist in psychologisch-­persönlichkeits­theoretischer Perspektive definiert als subjektive Überzeugung von der (oder auch als Gefühl für oder Glaube an die) Richtigkeit, Wahrheit bzw. Redlichkeit von Personen, von Handlungen, Einsichten und Aussagen eines anderen oder von sich selbst (Selbstvertrauen). Zum Vertrauen gehört auch die Überzeugung der Möglichkeit von Handlungen und der Fähigkeit zu Handlungen. Man spricht dann eher von Zutrauen. Als das Gegenteil des Vertrauens gilt das Misstrauen. WIKI

Donnerstag, 9. Juli 2015

Mads Mikkelsen mit Hasenscharte und fliehendem Kinn



Men & Chicken - Menschen & Hühner 
ein Film von Anders Thomas Jensen

Das ist Mads Mikkelsen.

Als Kreuzung wird das Ergebnis der geschlechtlichen Fortpflanzung zwischen zwei verschiedenen Arten von Pflanzensorten oder Tierrassen verstanden. Der Vorgang der Fortpflanzung, das Kreuzen, kann natürlich oder künstlich erfolgen. So in etwa sagt es Wiki. Der Film, der von Kreuzungen handelt, ist selber eine solche. Eine tragische Groteske? Ein philantropischer Monsterfilm? Ein Ding, im Sinne von das ist ja ein Ding, ein Unding, eine Frechheit. Eine Liebeserklärung an Familienbande oder die Horrorversion der Olsenbande? 
H.G. Wells hat 1896 eine Geschichte geschrieben, aus der vielleicht die Wurzeln dieses Drehbuches gewachsen sind - Die Insel des Doktor Moreau. 
In der alten Erzählung und dem neuen Film ist der Mißbrauch gentechnischer Forschung nur Vehikel für das Durchspielen anderer Themen - wie fühlt der Außenseiter, Andersartige, das Monster. Und wie menschlich ist so ein Monster? Wie monströs erscheinen wir ihm?

Monster oder Monstrum bezeichnet ein widernatürliches, meist hässliches und angsterregendes Gebilde oder eine Missbildung. So beschreibt es Wiki. Es ist hässlich, also hassenswert? Es erregt Angst, wovor und hat es selber welche? Es ist eine Missbildung, also ein verzerrtes Abbild unserer Selbst? Im etymologischen Wortsinn ist ein Monster, ein Omen kommenden Unheils, man könnte also sagen, es zeigt uns, zu was wir fähig sind, sein werden, sein könnten. 
Nachdem ich in den Dänischen Delikatessen mit zwei Mördern und Menschfleisch verkaufenden Schlachtern sympathisiert habe, und in Adams Äpfeln mit einem Nazi und einem hochneurotischen Pfarrer, habe ich heute Abend das nicht ungetrübte Vergnügen gehabt, in mir Zuneigung zu fünf "widernatürlichen, meist hässlichen und angsterregenden" Halbmenschhaltiergeschöpfen zu finden.

Jensen hat den Spaß weit, sehr weit getrieben, manchmal wohl auch übers Ziel hinaus. Zuviel Kichern zwischen Ekel und Ungläubigkeit schwächt die Empathie, denke ich. Aber dennoch schafft er es, mich nicht zu verlieren. Und spätestens beim Schlußtableau, ich werde den Teufel tun und es beschreiben, nein, geht und guckt selber, also spätestens in dieser letzten Szene werde ich mir wieder sicher, dass hier einer den Menschen liebt, den Menschen das Monster.

Mittwoch, 8. Juli 2015

Hofesh Shechter - barbarians


barbarians

Dreimal in acht Wochen in der Schaperstrasse, zweimal Aufregendes erlebt, Baal und Mount Olympos, jetzt Tanztheater aus London, Hofesh Shechters Company mit einer Uraufführung, genannt babarians - a trilogy.

Teil 1 the barbarians in love
Teil 2 tHE bAD
Teil 3 Two completely different angles of the same fucking thing

Ich kannte Shechters Arbeiten bisher nur aus Youtube-Schnipseln, heftig, krass, lustvoll, fremd. Anziehend.

Volkstanzelemente des Nahen Ostens, Hip-Hop Moves, theatralische Gänge, rund Schultern, geknickte Beine, Barocktanzzitate, Sprünge, viele Sprünge und Hüpfer, wenig Berührungen, außer im letzten Teil. 
Perfekte Synchronität, die sich in verschiedene Gruppen auflöst, scheinbar auseinanderfällt und urplötzlich wieder zusammenkommt. Erst denkt man, einer hat sich vertanzt, und begreift dann, wie kunstvoll das scheinbar Zufällige gebaut ist. Strenge wechselt mit Improvisiertem, oder zumindest frisch erfunden Wirkendem. Hohe Kraftanstrengung wechselt überraschend in Entspannung, Wildheit in Ruhe.


© Jake Walters

Teil 1 - Sechs Tänzer in Gruppe, einer bricht aus, o nein zwei, die anderen vier, teilen sich zu drei und einem, der sein Solo aber nicht als Solo tanzt, sondern immer im Bezug auf die anderen, die schon wieder die Gruppen gewechselt haben. Und dann sind wieder alle sechs wie einer. Selbst zuschauende Tänzer, die ich befragt habe, wußten nicht, wie gezählt wurde, welche Zeichen zu so perfekten Wechseln halfen. Über Ton eine weibliche Stimme, die Liebesanweisungen gibt. Immer wieder: "You are not alone!". Dann ein Dialog mit dem Regisseur/Choreographen, der unsicher versucht, seine Absichten zu erklären und am Ende zum Schweigen aufgefordert wird, da alles, was er redet, Nonsense sei.

Die Musik ist laut, aber nicht zu laut, obwohl der Einlasser, wohl in Betracht meines höheren Alters, nur schwer davon zu überzeugen war, dass ich den Abend ohne Ohrstöpsel überstehen würde.
Und moving lights, suchscheinwerferartig eingesetzt und Nebel viel Nebel und viel Beinah-Dunkelheit.

Teil 2 - Drei Tänzer in einer Probensituation. Aussteiger, verbale Kommentare zum Berufsalltag, Party und harte Arbeit.

Teil 3 - Zwei werben umeinander, ER in bayrischer Tracht, SIE in weißer Seidenbluse und elegant geschnittenen Hosen, man weiß, das kann nicht gut gehen, und wenn ihnen auch ein kurzes Mitinander gelingt, so dauert es doch nicht lang, bis er übergriffig wird, grapscht, sie ohrfeigt. Dan folgt die stärkste Szene des Abends, ER hockt, SIE, unangestrengt und darum tödlich, offeriert ihm den ultimaten kalten und eben doch hocherotischen Verführungstanz. Die Tänzer aus Teil 1 & 2 kommen dazu, alle gemeinsam terrorisieren den zunehmend bewegungsunfähigen Trottel mit der Erotik, die er nie wird haben können.
Wieder die Stimme des Choreographen, und - er hat ein Vaterproblem. Welches jüdische Kind hat keins? Wer meldet sich? Wer? Ich nicht.

Freunde, die frühere Abende von Shechter gesehen hatten, sagten, er wiederholt sich, er schwächelt. Ich, als Neuling, war interessiert, aber wenig hingerissen. Hey, zwei von drei Theaterabenden, die mich gerissen haben, das ist dich großartig, oder?


© Jake Walters

Hofesh Shechter ist kein Künstler der leisen Töne. Arbeiten wie „Political Mother“ und „Sun“, die beide bei den Berliner Festspielen zu Gast waren, beschwören apokalyptische Vorahnungen herauf, mit bombastischen Musiktracks und explosiven Choreografien. Seine Choreografien entlarven die Mechanismen von Gewalt, Macht und Unterdrückung und zeigen uns Shechter als einen kraftvollen Choreografen, der uns auffordert, selbst zu denken. Sein neuer Abend „barbarians“, der bei Foreign Affairs seine Uraufführung erlebt, ist nachdenklicher, ironischer – doch nicht weniger düster als die Vorgänger. Der stets unberechenbare Shechter erschafft eine karge Welt, in der sich drei völlig unterschiedliche Versionen von Intimität, Leidenschaft und der Banalität der Liebe entfalten. Eleganz und Intimität seiner Choreografie offenbaren sich in dem gefeierten und verstörenden Stück „the barbarians in love“, mit dem der Abend beginnt. Eine geistliche Barockpartitur begleitet zitternd vor Emotionen, die von einer strikten Ordnung gehalten werden, eine wahrhaft zeitgenössische Beichte. Die beiden darauffolgenden neuen Stücke, eine Explosion aus Dubstep-Grooves zu einer beinahe urbanen Choreografie, tHE bAD, und ein skurriles Duett, vervollständigen einen Abend, der die einmalige, ironische Stimme ihres Schöpfers und die Vielseitigkeit und das Talent seiner einzelnen Tänzer*innen ins Licht rückt.
 

Sonntag, 5. Juli 2015

GEWITTER


Gewitter. 
Die Welt, gierig auf Nässe, atmet ein und auf. 
Ihr ist egal, ob Blitze einschlagen oder Donner schreckt. 
Regen. Trinken. Nach Tagen voll Hitze ohne Luft.
Diese Gleichgültigkeit der Erde ist ein gutes Ding. 
Sie verhindert, dass ich glauben kann, diese Welt drehe sich um mich.
Die Natur interessiert sich einen Scheiß für meine Sicherheit, mein Wohlergehen.
Sie macht ihr Ding.
In unserer durchbetonierten, versicherungsgesicherten, zukunftsgläubigen Welt ist kein Platz für Großes, Uraltes.
In Island habe ich den Boden lebendig gesehen, pulsierend, blubbernd, röchelnd, lebendig, gefährlich.

Das Gewitter war heftig und kurz. 
Es ist noch immer heiß und stickig.
Es war nur eine Probe.

Berlin heute nacht © aleksandar zivanovic

EIGENGRAU


Was für ein schönes Wort: eigengrau.
Das Grau, das ich sehe, wenn es vollkommen dunkel ist.
Mein ganz eigenes Grau.
Schwarz kann ich nur sehen, wenn es noch Weißes zum Vergleich gibt.
Wenn alles Licht gelöscht ist, wird alles grau.

EIGENGRAU IST DIE FARBE, DIE WIR IN VOLLKOMMENER DUNKELHEIT SEHEN.

Was wir im Dunkeln sehen ist nicht Schwarz (000000), sondern Eigengrau 
(16161D hex or 22,22,29 RGB).

EIGENGRAU, auch Eigenlicht oder Eigenrauschen (die deutsche Bezeichnung ist auch im englischen Sprachraum üblich), ist die Farbe, die man in völliger Dunkelheit sieht. Der Begriff wurde um 1860 von Gustav Theodor Fechner eingeführt. Damals war aufgefallen, dass bei sehr großen wie bei sehr kleinen Helligkeiten die Empfindlichkeit des Auges von der Vorhersage des Fechnerschen Gesetzes (dass sich die subjektiv empfundene Stärke von Sinneseindrücken proportional zum Logarithmus der objektiven Intensität des physikalischen Reizes verhält.) abweicht.
Eigengrau wird heller wahrgenommen als schwarze Objekte bei normalen Lichtbedingungen. Das liegt daran, dass bei der Wahrnehmung der Kontrast wichtiger als die eigentliche Helligkeit ist. Zum Beispiel erscheint der Nachthimmel wegen des durch die Sterne hervorgerufenen Kontrastes dunkler als eigengrau. Eine reine Schwarzempfindung des Auges ist nur bei gleichzeitigem Kontrast zu einer Weißempfindung möglich, wie Ewald Hering 1874 beschrieb. Wiki

DU DUNKELHEIT, AUS DER ICH STAMME

Du Dunkelheit, aus der ich stamme
ich liebe dich mehr als die Flamme,
welche die Welt begrenzt,
indem sie glänzt
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen –:
für irgend einen Kreis,
aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.

Aber die Dunkelheit hält alles an sich:
Gestalten und Flammen, Tiere und mich, wie sie's errafft,
Menschen und Mächte –

Und es kann sein: eine große Kraft
rührt sich in meiner Nachbarschaft.

Ich glaube an Nächte.
 
Rainer Maria Rilke 1919


Donnerstag, 2. Juli 2015

GOTTFRIED BENN - Wie hält es der Dichter mit der Macht?

Erkläre mir einer den Menschen,
irgendeinen.


Sich irren 
und
doch seinem Inneren weiter Glauben schenken müssen, 
das ist der Mensch.

Hassenswertes, dummes, kindererzeugendes, Wohnung suchendes, omnibusbesteigendes, aufbauendes, weibersichzuwedelndes, plauderndes, gebildetes, ehrbar strebendes, redliches, meinungsäußerndes, mädchenengagierendes, ferienverbringendes, ostseefrohes, Sachzusammenhänge erörterndes Geschmeiß von Bremen bis Villach u. Domodossola bis Kurische Nehrung. G.B.

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Was schlimm ist

Wenn man kein Englisch kann,
von einem guten englischen Kriminalroman zu hören,
der nicht ins Deutsche übersetzt ist.

Bei Hitze ein Bier sehn,
das man nicht bezahlen kann.

Einen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann,
wie es die Professoren tun.

Nachts auf Reisen Wellen schlagen hören
und sich sagen, daß sie das immer tun.

Sehr schlimm: eingeladen sein,
wenn zu Hause die Räume stiller,
der Café besser
und keine Unterhaltung nötig ist.

Am schlimmsten:
nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.

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Gottfried Benn starb am 7. Juli 1956, mitten im Sommer.

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 Gottfried Benn in Berlin an Gertrud Zenzes in San Francisco, den 23.9.33

Vielleicht aber, Trudchen, interessiert es Sie doch, nochmal von mir persönlich zu hören, was ja in meinem Buch [Der neue Staat und die Intellektuellen – J. B.] schon steht, dass ich und die Mehrzahl aller Deutschen den neuen Staat bejahen, Hitler für einen sehr grossen Staatsmann halten und vor allem vollkommen sicher sind, dass es für Deutschland keine andere Möglichkeit gab. Das alles ist ja auch nur ein Anfang, die übrigen Länder werden folgen, es beginnt eine neue Welt, die Welt, in der Sie und ich jung waren und gross wurden, hat ausgespielt und ist zu Ende. Sie müs[s]en das alles nicht so gefühlvoll ansehen, auch nicht so pathetisch, Sie müssen in sich den Gedanken ganz feste Gestalt annehmen lassen, dass wir vor einer Wendung der abendländischen Geschichte stehen, die vielleicht nur dem elften Jahrhundert verglichen werden kann oder dem Ausgang der Antike. Man kann eigentlich heute jeden nur, der Einwände macht, fragen: Denken Sie geschichtlich oder denken Sie privat? Denkt er privat, kann er natürlich kritisieren und das übliche intellektuelle Geschwätz vom Stapel lassen. Wer aber geschichtlich denkt, wird schweigen, alles hinnehmen, was ihm diese Zeit an innerer Zerstörung und auch persönlichem Schaden zufügt denn er weiss, dahinter stehen die Gesetze des Lebens, die nicht auf Glück ausgehen, sondern auf Schicksal. Ich halte es für sehr möglich, dass dies dem Bewohner eines anderen Landes drollig klingt, hochtrabend, auch etwas unwirklich. Aber es ist ausgesprochen das, was wir erlebt haben, es ist das Erlebnis Deutschlands: der Abbau des Individuums für das Volk, für die Rasse, für das ferne, mythische Kollektiv, das nun einmal die Menschheit darstellt. 
Was nun das Judenproblem angeht, an dem Sie vielleicht besonders leiden und das Nordamerika mit seinem unvergleichlichen Rassenmischmasch natürlich ganz fremd ist, so sehen Sie das sicher auch ganz falsch. Denken Sie einmal, unter den Berliner Ärzten waren 85% Juden, den Rechtsanwälten 75%. In den journalistischen und Theaterbetrieben auch ungefähr 80%. Es ist doch vollkommen selbstverständlich, dass dieser Zustand eines Tages als unmöglich angesehen wurde. Jetzt sagen die Juden selber, sie hätten ihrerseits Massnahmen treffen müssen, um einem solchen Zustand vorzubeugen. Aber im Augenblick ist es natürlich zu spät. Das Judenproblem ist ja sehr, sehr schwierig. 

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Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde Gottfried Benn als Nachfolger Heinrich Manns kommissarischer Vorsitzender der Sektion. Am 13. März, kurz nach der Reichstagswahl März 1933, verfasste er zusammen mit Max von Schillings eine Loyalitätsbekundung für Hitler, die den Mitgliedern eine nicht-nazistische politische Betätigung verbot: Sind Sie bereit unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter Ihre Person der Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung dieser Frage schließt die öffentliche politische Betätigung gegen die Reichsregierung aus und verpflichtet Sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten geschichtlichen Lage. 
Die Mitglieder mussten bei Drohung ihres Ausschlusses unterschreiben. Thomas Mann und Ricarda Huch traten aus; Gerhart Hauptmann, Oskar Loerke und Alfred Döblin, der dennoch als Jude seinen Austritt erklärte, und viele andere unterschrieben. Ausgeschlossen wurden z. B. Franz Werfel und Leonhard Frank. 
WIKI 
 
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Menschen Getroffen

Ich habe Menschen getroffen, die,
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,
auch noch eine Benenung zu haben −
„Fräulein Christian“ antworteten und dann:
„wie der Vorname“, sie wollten einem die Erfassung erleichtern,
kein schwieriger Name wie „Popiol“ oder „Babendererde“ −
„wie der Vorname“ – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht!

Ich habe Menschen getroffen, die
mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchenherde lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen −
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa,
die reine Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehn.

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Wie einer zum Nazi wird

Gottfried Benn über "Probleme der Lyrik" 1951
Schwer vorstellbar, dass der Denker & Redner dieser Worte auch diese Gedichte geschrieben hat.

Er wütet in sich herum  - Der Spiegel 14/1950

Dienstag, 30. Juni 2015

Zweiter Teil: Mount Olympos - Chrysippos - Vergessenwerden


CHRYSIPPOS - Vergessenes Opfer

Ein schöner junger Mann wird von seinem Lehrer vergewaltigt und tötet sich daraufhin.

Der schöne Chrysippos, Sohn des Pelops, wird vom thebanischen König Laios, der ihn im Wagenlenken unterrichtet, und der sich in den Jüngling verliebt hat, vergewaltigt. Aus Scham tötet sich Chrysippos. Laios wird für seine Tat von Pelops verflucht. Was folgt ist die Tragödie der Labdakiden.


 Tragödie Paul Philippe Cret

Langsam, grau, nurmehr Asche oder Staub, an der Rampe entlang, ein Mann:
Ich bin Chrysippos, glaube ich, ich bin mir nicht mehr sicher. es gab eine Tragödie über mich, glaube ich, ich bin mir nicht mehr sicher. Ich bin vergessen, glaube ich.
Im Hintergrund eine lange Reihe Menschen, die sich ihre blutigen Herzen an den Leib schlagen. Wehklagen.

Eine grobe Schätzung nimmt an, dass vom ersten Erscheinen der menschlichen Rasse bis heute circa 108 Billionen Menschen geboren wurden und alle, außer den jetzt Lebenden, demnach auch gestorben sind. 108 Billionen Biographien, eine unvorstellbare Zahl von Tragödien, viele, die meisten ungehört, unerinnert, vergessen.

http://www.livescience.com/18336-human-population-dead-living-infographic.html

Chrysippos ist in der griechischen Mythologie der Sohn von Pelops und Axioche und Halbbruder der Zwillinge Thyestes und Atreus... Laios (Vater des Ödipus), der aus Theben floh, unterrichtet ihn im Wagenlenken und verliebt sich in den Jungen. Laios kehrt nach Theben zurück, um den Thron zu besteigen. Pelops und sein Sohn Chrysippos besuchen ihn in Theben und Laios schändet den Chrysippos. Daraufhin verflucht Pelops Laios, er solle niemals einen Sohn haben oder falls doch, solle dieser ihn umbringen. Chrysippos wurde schließlich von seinen beiden Halbbrüdern Thyestes und Atreus auf Drängen der Hippodameia, die fürchtete, dass er und nicht ihre Söhne Theben erben würden, umgebracht. WIKI

In der verlorenen Tragödie "Chrysippos" des Euripides verübt der von Laios entehrte junge Mann Selbstmord; sein Vater verflucht daraufhin den Schuldigen, er solle durch seinen eigenen Sohn den Tod finden. antiken_myth_de.deacademic.com

Als junger Mann ist Laios Gast des Königs Pelops. Er entführt dessen Sohn Chrysippos und "behandelte" ihn "auf so entwürdigende Weise, dass sich der Knabe, der vor Scham nicht aus noch ein wusste, das Leben nahm." Man kann davon ausgehen, dass sich Laios des Kindes sexuell bediente. Hier führt der Mythos zu allererst ein Verbrechen ein, weil dieses Kind zu Tode kommt. Das ist durchaus bemerkenswert, denn Pädophilie und Päderastie waren im antiken Griechenland ein alltäglicher Vorgang. Ältere Männer befriedigten ihre sexuellen Bedürfnisse in der Regel bei Jungen. (Es ist nahezu ausgeschlossen, dass Freud dieser Hintergrund unbekannt war.)
Pelops verflucht den Laios: Sollte er jemals einen Sohn haben, möge er von diesem getötet werden. Laios wird König von Theben und heiratet Iokaste. Da die Verbindung kinderlos bleibt, befragt Laios das Orakel von Delphi, das dem Gott der Wahrheit und der Reinheit, Apollon, geweiht ist. Die Weissagung des Orakels ist eindeutig: Laios wird Vater werden, aber von der Hand des eigenen Sohnes sterben, weil Zeus ihn für den Tod des Chrysippos strafen will. Hier ist vom Inzest gar keine Rede, sondern das Schicksal des Laios wird als Folge seiner konkreten Schuld verstanden.
 

Alice Miller Die Blendung des Ödipus - oder Der blinde Fleck unserer Kultur

In einer anderen Version ist Chrysippos der Grund des Streits zwischen Laios und seinem Sohn Ödipus, da sie sich beide in den schönen Jüngling verliebt hätten. 

http://www.itgetsbetter.org/ 


Samstag, 27. Juni 2015

Mount Olympos - Jan Fabre - to glorify the cult of tragedy

THEATER IST EINE VORBEREITUNG AUF DEN TOD?

Troubleyn / Jan Fabre
Mount Olympus
to glorify the cult of tragedy
(a 24h performance)
Uraufführung
Jan Fabre die Flucht des Künstlers

Es ist zu lang, nicht lang genug, es ist antikisierender Kitsch, es ist rabiater Exzess, es ist perfekt gearbeitet und choreographiert, es ist hohl, es ist tief. Es ist dilettantisch und perfekt durchorganisiert. Es ist bedeutungsschwanger, es ist bedeutend. Es ist kultisch, es ist Kult. Es ist frei und totalitär.
Es irritiert meine Ossi-Sensibilitäten durch die paramilitärische Disziplin und gefühlte totale Auslieferung der Spieler an den Erschaffer. Es ist ... ???
Warum ist das gesamte Ensemble weiß?

Für „Mount Olympus“ probte er (Jan Fabre) mit einem streng ausgewählten Team in den vergangenen zwölf Monaten täglich von 11 Uhr bis Mitternacht. „Im Laboratorium ist alles möglich, Tag und Nacht.“ Ein Handy braucht Fabre für seinen Kunstalltag nicht. Mit der Außenwelt verständigt er sich mithilfe seiner Assistentin. „Ich mag es, nicht erreichbar zu sein.
BZ

Eine von vielen Szenenfolgen: 
Ein Mann in deutlich theatererdachter Rüstung, silbern glänzender Bein- & Armschiene, Brustpanzer und geschlossener Helm, schwingt eine Kette, sie ist lang, vielleicht 4 Meter, er schleudert sie, er läßt sie schlängeln, schlagen, schleifen. Sie rutscht ihm aus den Händen, es sieht gefährlich aus, auch für das Publikum und die elegante stöckelbeschuhte Dame, die links von ihm auf einem Tisch ungerührt Posen tanzt. Er hört nicht auf, dreht sich wild mit der Kette, die fliegt, hart aufschlägt, weiterfliegt, sich einige Male um seinen Hals legt, ihm an die Beine drischt. Er fällt, ächzt, steht wieder auf. Weiter. Vor der schönen Frau kann er nicht einfach aufgeben. Er schnauft, stürzt, schlägt immer wieder lang hin, rappelt sich auf, schwingt die schwere Kette, 10 Minuten, 15.
Hinter ihm ein Videostandbild eines Mannes in ebensolcher Rüstung mit an die bepanzerten Wangen gelegten Händen.
Der Krieger kann nicht mehr. Er faltet die Kette zusammen und wirft sie weg. Enthelmt sich, atmet schwer, kniet an der Rampe, keuchend.
Eine Reihe Menschen mit Wassergefäßen kommt langsam von hinten. Alle sind in Varianten von gefaltetem und gegürtetem weißen Lakenstoff gekleidet - Griechenklischee und praktisch, weil leicht waschbar. Sie setzen die Gefäße an der Rampe ab, treten zurück und beginnen, der Krieger gemeindet sich ein, einen Chor.
No - no - no - fuck - fuck - fuck - take me - take me - Kopf senkt sich - hinknien - Kopf hebt sich - Atemseufzer - aufstehen und ...
Wieder und wieder. Langsam, für mich nicht langsam genug, löst sich die Einheitlichkeit auf, Individualität bricht ein. Die Worte bleiben die gleichen: No - no - no - fuck - fuck - fuck - take me - take me...
Und was jetzt passiert, über eine sehr lange Zeit, ist grandios und Hochleistungstheater und verstörend schön. Wir blicken hinter den hehren Ton des Chores, hinter die hohe Form, hinter die genehme Veredelung und - Chaos wird sichtbar.
Wieviele Arten des Nein gibt es? Es wird verhandelt, getändelt, gekrächzt, gebibbert, geliebäugelt, gebrüllt, gehaucht. Eine ältere Diva will ihren Stolz nicht verlieren und reizt alle Varianten des verzeifelten Tändelns aus, ein harscher Mann verliert die erwartete Fassung, ein dickes Mädchen gackert hysterisch No in den Himmel, wo vielleicht Götter seien könnten.
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Der Tanz der schwingenden Schwänze war hinreißend! Und dann reihen sie den blinden klagenden Ödipus zur Zorbasfilmmelodie in die Tanzreihe ein. Besser geht es nicht. "Every man needs a little bit of madness!"

Selbst für den großen Grenzüberschreiter Jan Fabre ist das ein Ausnahmeprojekt: 24 Stunden lang tanzen, spielen, schwitzen, lieben, leiden, schlafen, träumen sich 27 Performer*innen durch die Mythen der griechischen Antike. Ganz wie damals in Athen wird Theater zum Ausnahmezustand, zum politischen Raum, zu einer beinahe spirituellen Zeit-Reise für Darsteller und Publikum gleichermaßen. Fabre trägt das Publikum in einem Bilderstrom durch eine Performance zwischen Wachen und Schlafen, Traum und Realität. Dabei begegnen einem Medea, Antigone, Dionysos und andere Heroen in all ihrer Triebhaftigkeit und Archaik.
Aus dem Werbetext der Berliner Festspiele

© Troubleyn / Jan Fabre

Ein großes, respektvolles, verneigendes Danke an die Darsteller:
ore Borremans, Katrien Bruyneel, Annabelle Chambon, Cédric Charron, Renée Copraij, Anny Czupper, Els Deceukelier, Barbara De Coninck, Piet Defrancq, Mélissa Guérin, Stella Höttler, Sven Jakir, Ivana Jozic, Marina Kaptijn, Gustav Koenigs, Sarah Lutz, Moreno Perna, Gilles Polet, Pietro Quadrino, Antony Rizzi, Matteo Sedda, Merel Severs, Kasper Vandenberghe, Lies Vandewege, Andrew Van Ostade, Marc Moon Van Overmeir, Fabienne Vegt.

Asylanten - Flüchtlinge - Immigranten - Fremde


Asyl 
lat. asylum von griech. ἄσυλον zu ἄσυλος - unberaubt, sicher


Das Mittelmeer, umfaßt von drei Kontinenten. Seit Jahrtausenden befahren von Handelsschiffen & genauso lange schon Kampfplatz unzähliger Kriege, mißbraucht zur Kolonialisierung zweier Kontinente & Urlaubsziel des modernen europäischen Mittelstandes. 
Heute, Kluft zwischen "Erster" und "Dritter" Welt, Abgrund, Schützengraben. An manchen Stellen mehr als 5000 Meter tief, blau, sehr blau und untief. Untiefe, ein Januswort, es kann gar nicht tief aber auch tiefer als tief, unüberwindbar tief bedeuten. 
Es fahren auf diesem Meer, nebeneinander, sich ignorierend gelegentlich kollidierend, massige Kreuzfahrtburgen, elegante Segeljachten, riesige Tanker und Containerschiffe & auch hölzerne Ruderboote, rostzerfressene Blechwannen & löchrige Kutter. Die meisten Reisenden erreichen ihr Ziel, einige nicht.

Der Weg über das Mittelmeer ist nach einer Studie der Internationalen Organisation für Migration die weltweit gefährlichste Route für Flüchtlinge. Im Jahr 2014 ertranken mehr als 3.000 Menschen und seit dem Jahr 2000 mindestens 23.000 bei dem Versuch, in ein europäisches Land zu gelangen. WIKI

WASSERGERÄUSCH

von Marco Martinelli

...
2917
2917
Ein Name, sagen wir
Yusuf
Yusuf hört sich gut an
er kommt nichts weiter als
aus West-Sahara
Kein Datum dabei
Ausgelöscht
Macht mich rasend, wenn ich kein Datum hab 

Yusuf ist ein Jungspund
Ein Schwarzer

Was sollen die schon kapieren
Nichts kapieren die
Schwarzhaut
Und du kommst denen mit Demokratie 

Lächerlich

Die hocken noch auf den Bäumen
fressen sich noch gegenseitig, gut möglich 

Und man erzählt denen was von Demokratie Zeiterschwendung
Yusuf
Seit kaum 2 Monaten
bei den Fischern in der Lagune
Lagune von Naila


Tausende von Flüchtlingen aus dem Maghreb (Tunesien, Algerien, Marokko, Libyen, Mauretanien) sind in den letzten Jahren bei ihrem Versuch, jenes Meer zu überqueren, zumeist von erpresserischen Schleusern auf seeuntauglichen Booten zusammengepfercht, um an die rettenden Küsten Europas zu gelangen, elend ertrunken.


Quelle: Archivbild: imago / Independent Photo Agency

Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.
Matthäus 11.28

In Bremen auf der Bühne im harten Scheinwerferlicht, ein hinter reflektierender Sonnenbrille und strenger Phantasieuniform nur über Mikrophon kommunizierender Schauspieler, die Gesten karg, die Sprache präzise. Ein General, der die Wasserleichen ertrunkener Flüchtlinge bürokratisch sortieren und archivieren soll. Er ist zunehmend überfordert. Die Menge der Ertrunkenen, ihre unbekannten Biographien und Beweggründe, machen sie für ihn unbeherrschbar. Der General verzweifelt an der schieren Flut des Elends. Wir wollen diese Flüchtlinge nicht, aber sie sollen sich, Opfer unseres inhumanen Sicherheitsdenkens, doch sortieren, abheften, benennen lassen.

"Das westliche Paradies konstituiert sich aus der Hölle für die dritte Welt" Heiner Müller

Im Hintergrund, spärlich beleuchtet, drei Musiker, einer aus Togo, zwei von der Elfenbeinküste, ihren Weg nach Bremen kenne ich nicht, weiß nur, dass einer von ihnen sagte, er hätte den Weg über das Wasser nicht gewagt, sie machen Musik. Gute Musik. Sehr gute. Ganz fremd und ganz nah. Und sie haben Spaß beim Musizieren. Der General zählt die Toten, namenlose Fremde, Verlierer des globalen ökonomischen Wettkampfes. Ganze Kontinente voller "Opfer", bemitleidet oder verachtet, nicht gekannt. Die Musiker spielen. Töne, Rhythmen, die sich meinem viervierteltaktigen deutschen Gemüt verweigern und es einladen. Mein Fuß wippt, meine Schultern heben sich, ich tanze.
Ich weiß nichts über Afrika, nichts. Wenigstens das weiß ich jetzt.

 Kopf eines Ooni, eines Herrschers der Ife in Nigeria, eines der mächtigsten und reichsten Königreiche Afrikas im Mittelalter.

WasserGeräusch

von Marco Martinelli

Kooperation der bremer shakespeare company mit [africtions] - Festival für zeitgenössischen Tanz aus Afrika Bremen 6. bis 16. November 2014

Übersetzung: Elsbeth Gut Bozetti.
Regie: Marco Martinelli.
Musik/Perkussion: Kofi Mawuna Agbadohu, Jean-Baptiste Gama, Amandin Koue Manet.
Mit: Michael Meyer



DIE SIEBEN GRÖSSTEN HERKUNFTSLÄNDER VON FLÜCHTLINGEN

AFGHANISTAN: 2,5 MILLIONEN 
SYRIEN: 2,4 MILLIONEN

SOMALIA: 1,1 MILLIONEN

SUDAN: 649.300

DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO: 499.500
MYANMAR: 479.600 
IRAK: 401.400 


DIE FÜNF GRÖSSTEN AUFNAHMELÄNDER VON FLÜCHTLINGEN

PAKISTAN: 1,6 MILLIONEN 
IRAN: 857.400

LIBANON: 856.500 
JORDANIEN: 641.900 
TÜRKEI: 609.900


https://de.wikipedia.org/wiki/Schiffsungl%C3%BCck_im_Mittelmeer_am_19._April_2015