Dieses Kind wurde um den 26.12.1957 herum gezeugt, teilt mir
der Zeugungsrechner mit. Das Christkind kommt - und meine
Eltern freuten sich auf ihre Art.
Mehr als neun Monate, wenn alles normal läuft, liegen wir in
warmer Suppe im Bauch einer immer runder werdenden Frau
und evolutionieren im Schnelldurchlauf, bevor wir via Vagina
oder, beim Kaiserschnitt wie bei mir, durch die Bauchdecke, das Licht
der Welt erblicken. (Da ist es schon wieder das Licht.) Angenehm
kann das nicht sein, erst warm, feucht und dunkel und dann,
plötzlich deutlich kühler, trocken, gleißend hell. Dann wird man
auch noch mit dem Kopf nach unten gehängt und, wenn man die
Selbstbeherrschung besitzt, nicht sofort von selbst empört loszubrüllen,
wird einem von einer fremden Hand auf den winzigen Arsch gehauen.
10 und ein halbes Pfund soll ich gewogen haben! Ein Wonneproppen
der gigantischen Art und hatte bis dahin schon einiges überlebt:
Im Nachtschrank meiner, für sechs Monate zum Liegen verdammten,
Mutter lag Thalidomid, besser bekannt als Contergan, gegen
Kopfschmerzen, die sie Gott sei Dank nicht bekam. Um ihr
das Liegen zu versüßen, kaufte meine Oma einen der noch ganz
neuen Fernseher, woraufhin besorgte Ärzte sie in eine Asbestschürze
wickelten, um das Embryo, also mich, vor Fernsehstrahlung zu schützen.
Die um den Hals gewickelte Nabelschnur war dann nur noch das
Krönchen.
Ich erinnere mich an nichts davon. Nicht an meine zwei Jahre
währende Verweigerung zu laufen, bis mir meine Mutter ein Stück
Schokolade, von mir zärtlich Glagla genannt, aus zwei Meter Entfernung
anbot. (Ich laufe, weil ich ausgetrickst worden bin.) Nicht an all die
anderen zauberhaften, niedlichen, entzückenden Dingen, die ich,
blondgelockt, blauäugig und fett, angestellt oder geäußert haben soll.
Mein erinnertes Leben beginnt erst viel später und selbst da weiß ich
nicht, wo Erzähltes oder auf undigitalen Photographien Gesehenes
aufhört und mein eigenes Gehirn, bzw. meine Erinnerung beginnt.
Vielleicht war alles ganz anders? Meine ersten Jahre voll dunkler
Abenteuer und surrealer Ereignisse, die mir verschwiegen werden?
Im hohen Alter soll angeblich das zunehmend schlechter funktionierende
Kurzzeitgedächtnis durch immer deutlichere Kindheitserinnerungen
ersetzt werden. Wer weiß, was mir da noch für Überraschungen ins Haus
stehen!
Baby Herman © Disney
AN DAS BABY
Alle stehn um dich herum:
Fotograf und Mutti
und ein Kasten, schwarz und stumm,
Felix, Tante Putti...
Sie wackeln mit dem Schlüsselbund,
fröhlich quietscht ein Gummihund.
"Baby, lach mal!" ruft Mama.
"Guck", ruft Tante, "eiala!"
Aber du, mein kleiner Mann,
siehst dir die Gesellschaft an...
Na, und dann - was meinste?
Weinste.
Später stehn um dich herum
Vaterland und Fahnen;
Kirche, Ministerium,
Welsche und Germanen.
Jeder stiert nur unverwandt
auf das eigne kleine Land.
Jeder kräht auf seinem Mist,
weiß genau, was Wahrheit ist.
Aber du, mein guter Mann,
siehst dir die Gesellschaft an...
Na, und dann - was machste?
Lachste.
Fotograf und Mutti
und ein Kasten, schwarz und stumm,
Felix, Tante Putti...
Sie wackeln mit dem Schlüsselbund,
fröhlich quietscht ein Gummihund.
"Baby, lach mal!" ruft Mama.
"Guck", ruft Tante, "eiala!"
Aber du, mein kleiner Mann,
siehst dir die Gesellschaft an...
Na, und dann - was meinste?
Weinste.
Später stehn um dich herum
Vaterland und Fahnen;
Kirche, Ministerium,
Welsche und Germanen.
Jeder stiert nur unverwandt
auf das eigne kleine Land.
Jeder kräht auf seinem Mist,
weiß genau, was Wahrheit ist.
Aber du, mein guter Mann,
siehst dir die Gesellschaft an...
Na, und dann - was machste?
Lachste.
Kurt Tucholsky