Freitag, 19. September 2014

Geburtstag Nr. 56


    
      Dieses Kind wurde um den 26.12.1957 herum gezeugt, teilt mir 
      der Zeugungsrechner mit. Das Christkind kommt - und meine 
      Eltern freuten sich auf ihre Art.

      Mehr als neun Monate, wenn alles normal läuft, liegen wir in 
      warmer Suppe im Bauch einer immer runder werdenden Frau 
      und evolutionieren im Schnelldurchlauf, bevor wir via Vagina 
      oder, beim Kaiserschnitt wie bei mir, durch die Bauchdecke, das Licht 
      der Welt erblicken. (Da ist es schon wieder das Licht.) Angenehm 
      kann das nicht sein, erst warm, feucht und dunkel und dann, 
      plötzlich deutlich kühler, trocken, gleißend hell. Dann wird man 
      auch noch mit dem Kopf nach unten gehängt und, wenn man die 
      Selbstbeherrschung besitzt, nicht sofort von selbst empört loszubrüllen, 
      wird einem von einer fremden Hand auf den winzigen Arsch gehauen. 
      
      10 und ein halbes Pfund soll ich gewogen haben! Ein Wonneproppen 
      der gigantischen Art und hatte bis dahin schon einiges überlebt: 
      Im Nachtschrank meiner, für sechs Monate zum Liegen verdammten,
      Mutter lag Thalidomid, besser bekannt als Contergan, gegen 
      Kopfschmerzen, die sie Gott sei Dank nicht bekam. Um ihr 
      das Liegen zu versüßen, kaufte meine Oma einen der noch ganz 
      neuen Fernseher, woraufhin besorgte Ärzte sie in eine Asbestschürze
      wickelten, um das Embryo, also mich, vor Fernsehstrahlung zu schützen. 
      Die um den Hals gewickelte Nabelschnur war dann nur noch das 
      Krönchen.

      Ich erinnere mich an nichts davon. Nicht an meine zwei Jahre   
      währende Verweigerung zu laufen, bis mir meine Mutter ein Stück
      Schokolade, von mir zärtlich Glagla genannt, aus zwei Meter Entfernung 
      anbot. (Ich laufe, weil ich ausgetrickst worden bin.) Nicht an all die
      anderen zauberhaften, niedlichen, entzückenden Dingen, die ich,
      blondgelockt, blauäugig und fett, angestellt oder geäußert haben soll. 
      Mein erinnertes Leben beginnt erst viel später und selbst da weiß ich 
      nicht, wo Erzähltes oder auf undigitalen Photographien Gesehenes
      aufhört und mein eigenes Gehirn, bzw. meine Erinnerung beginnt.

      Vielleicht war alles ganz anders? Meine ersten Jahre voll dunkler
      Abenteuer und surrealer Ereignisse, die mir verschwiegen werden?
      Im hohen Alter soll angeblich das zunehmend schlechter funktionierende
      Kurzzeitgedächtnis durch immer deutlichere Kindheitserinnerungen
      ersetzt werden. Wer weiß, was mir da noch für Überraschungen ins Haus 
      stehen!

 Baby Herman © Disney
      
 AN DAS BABY
 
Alle stehn um dich herum:
Fotograf und Mutti
und ein Kasten, schwarz und stumm,
Felix, Tante Putti...
Sie wackeln mit dem Schlüsselbund,
fröhlich quietscht ein Gummihund.
"Baby, lach mal!" ruft Mama.
"Guck", ruft Tante, "eiala!"
Aber du, mein kleiner Mann,
siehst dir die Gesellschaft an...
Na, und dann - was meinste?
Weinste.

Später stehn um dich herum
Vaterland und Fahnen;
Kirche, Ministerium,
Welsche und Germanen.
Jeder stiert nur unverwandt
auf das eigne kleine Land.
Jeder kräht auf seinem Mist,
weiß genau, was Wahrheit ist.
Aber du, mein guter Mann,
siehst dir die Gesellschaft an...
Na, und dann - was machste?
Lachste.
 
Kurt Tucholsky 
 

2 Kommentare:

  1. Wenn man älter wird altert man nicht unbedingt... man kann auch einfach ein Kind mit Vergangenheit werden.
    In diesem Sinne wünsche ich Dir Neugier, Spaß, Entdeckerlust und Energie...
    Happy Birthday!



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  2. Sehr richtig, das finde ich auch immer sehr schade, dass man beides nicht mehr trennen kann:
    "Mein erinnertes Leben beginnt erst viel später und selbst da weiß ich nicht, wo Erzähltes oder auf undigitalen Photographien Gesehenes aufhört und mein eigenes Gehirn, bzw. meine Erinnerung beginnt."

    Joyeux anniversaire !

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