Dienstag, 28. Januar 2014

Marianne Brün ist gestorben


MARIANNE BRÜN

"Nein, die heutigen Verhältnisse können nicht ermutigen. Also muß Ermutigung woanders herkommen, zum Beispiel vom Wollen, vom Begehren her." M.B.

7. Januar 2014. Eine gute Frau ist gestorben. Eine ernsthafte Frau mit einem Kinderlachen und verstehenden Augen. Eine schlaue Frau, die einem nix durchgehen ließ. Wir haben uns nicht oft gesehen, aber ich werde sie vermissen, besonders zur jüdischen Weihnacht.
Gute Reise.

"Ob es einen Gott gibt oder nicht, ist mir bis heute egal. Mich interessieren die Dinge hier auf Erden, mit denen ich mich auseinandersetzen - und die ich vielleicht auch ändern kann." M.B.

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Ein Artikel aus der FAZ vom 2.3.2009

Im Gespräch: Marianne Brün 

Ich hatte neunundfünfzig Adressen 

Die „ungeduldige Gesellschaftskritikerin“ Marianne Brün wohnt heute in Berlin und den Vereinigten Staaten. Mit der F.A.Z. sprach sie über ihr Leben als Tochter Fritz Kortners und in der Emigration. Deutliche Worte findet sie, die sich gegen die Kriege in Vietnam und im Irak engagierte, für den Gaza-Konflikt. 
Die „ungeduldige Gesellschaftskritikerin“ Marianne Brün wohnt in Berlin und den Vereinigten Staaten. Sie hat sich gegen den Krieg in Vietnam wie im Irak engagiert. Hier erzählt sie über ihr Leben als Tochter Fritz Kortners und in der Emigration.
Frau Brün, Sie werden in diesem Jahr achtzig Jahre alt, aber der Computer flößt Ihnen keine Angst ein. Sie pflegen einen regen E-Mail-Verkehr. Macht Ihnen das Spaß? 
Mit bald achtzig bin ja noch nicht senil. Außerdem habe ich meine Kinder in den Vereinigten Staaten, Freunde und Bekannte sind in der ganzen Welt verstreut, wie soll ich da ohne E-Mail auskommen? Mit Briefen geht das bei mir nicht. Deshalb ist es mir in früheren Zeiten nie gelungen, mit Freunden in Verbindung bleiben. Seit meine Eltern im Jahr 1933 erst nach England, dann in die Vereinigten Staaten emigriert sind, habe ich mich überall wohl gefühlt, hatte und habe aber nirgends das Gefühl hinzugehören, zu Hause zu sein. Das ist aber keineswegs unangenehm. So geht es heute ja vielen Menschen. Natürlich gibt es tausend Funktionen, die ich am Computer nicht beherrsche, aber das, was ich brauche, schon: Texte und E-Mails schreiben, Informationen besorgen.
Sie wirken überhaupt so aktiv und munter - wie machen Sie das?
Mit einer sehr guten Ärztin, fünf Pillen und zwei Sprays täglich!
Obwohl Ihr Vater Fritz Kortner ein berühmter Regisseur und Schauspieler, Ihre Mutter Johanna Hofer eine berühmte Schauspielerin war, sagten Sie einmal, dass in Ihrer Kindheit daheim nur wenig über Theater, aber viel über Politik gesprochen wurde. Hat Sie das geprägt?
Ganz bestimmt. Als Immigrant ist man wohl empfindlicher gegenüber jeglicher Unterdrückung. Meinen Vater hat zum Beispiel die Situation der Schwarzen in den Vereinigten Staaten nicht weniger berührt als die der Juden in Deutschland. Unterdrückung ist immer Unterdrückung! Ich war schon als junges Mädchen politisch aktiv, und seit 1968 bin ich Mitglied der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit.
Sie haben nicht nur gegen den Irak-Krieg demonstriert, sondern bereits gegen den in Vietnamkrieg - und Sie haben Wehrdienstverweigerer in den Vereinigten Staaten beraten. Was für Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
Besonders interessant war damals zu beobachten, wie viele Mütter uns wegen dieser Beratungen angegriffen und beschimpft haben: "Sie können sich nicht vorstellen, was meine Nachbarn sagen, wenn mein Sohn nicht nach Vietnam geht!" Das Urteil der Nachbarn war wichtiger als das Leben des eigenen Kindes. Das hat mich zutiefst schockiert. Eine Frau hat mich sogar körperlich angegriffen. Die Väter waren toleranter, da bin ich weder physisch noch verbal attackiert worden. Sie haben meist herumgestanden und so getan, als würden sie nicht zuhören.
Hatten Sie keine Angst, in dieser politisch überreizten Zeit selbst Schwierigkeiten zu bekommen?
Angst nicht: Mir war es sowieso wegen des Vietnam- Krieges nicht geheuer, dass wir nicht weggingen. Es war immer eine Diskussion zwischen meinem Mann und mir: Wann kommt der Moment, in dem man emigrieren muss, auch wenn man nicht selbst betroffen ist?
Ihr Mann, der Komponist, Musiktheoretiker und Kybernetiker Herbert Brün, der im Jahr 2000 verstorben ist, emigrierte 1936 nach Palästina und wurde nach Stationen in Frankreich sowie Deutschland an die University of Illinois berufen.
Er ist aus Israel auch wegen der Art weggegangen, wie sich die Israelis schon damals gegenüber den Palästinensern verhalten haben. Immer wieder wird auf den Holocaust gepocht - und wegen des Holocausts trauen sich viele nicht, Israel zu kritisieren. Als Martin Walser im Jahr 1998 seine Friedenspreis-Reise gehalten hatte, hoffte ich auf eine Normalisierung dieser Debatten in Deutschland - leider habe ich das vergebens gehofft. In den Vereinigten Staaten ist das noch schwieriger. Wenigstens in einem ARD-Kommentar hat sich ein Korrespondent zu sagen getraut, dass Israel derzeit im Begriff ist, aus dem Gazastreifen ein zweites Somalia zu machen.
Ist es denn nicht das erklärte Ziel der Hamas, Israel zu vernichten?
Der Gazastreifen misst knapp vierhundert Quadratkilometer, das ist weniger als das Bundesland Bremen. Darin sind anderthalb Millionen Palästinenser eingesperrt. Es kommen kaum die nötigsten Materialien durch, sie kriegen nicht genug zu essen, haben zu wenig Strom und nicht genug Wasser - klar, dass sie irgendwann gegen ihre Unterdrücker aggressiv werden. Man will seine Unterdrücker natürlich vernichten.
Sind Sie mehr das Kind Ihrer Mutter oder Ihres Vaters?
Ich glaube, ich bin wirklich eine Mischung aus beiden Elternteilen. Meine Mutter Johanna Hofer war vom Wesen her keineswegs so politisch, wie ich es bin. Oder wenigstens nicht so direkt. Sie hat unter bestimmten Sachen auch sehr gelitten, aber sie war nie aktiv. Das kommt bei mir eher von meinem Vater, der immer Stellung bezogen hat. Von meiner Mutter wiederum habe ich gewisse mildere Wege gelernt, um mich zu behaupten, darin war sie viel geschickter als mein Vater. Kortner hat einmal gesagt, er sei ein "tobender Pantoffelheld"! Meine Mutter hat sich immer durchgesetzt, obwohl es nie so aussah.
Sie kamen im Jahr 1948 nach Europa zurück und haben an die zwei Jahre am Berliner Ensemble auch bei Bertolt Brecht assistiert. Wollten Sie Regisseurin werden?
Mir scheint, ich wusste gar nicht genau, was ich wollte. Aber ich entschied mich schon bald gegen den Beruf der Regisseurin - in Deutschland ging es wegen meines berühmten Vaters nicht und in den Vereinigten Staaten wegen des nicht wirklich vorhandenen Theaters. Ich habe danach als Bildmischerin beim Bayerischen Rundfunk gearbeitet, der gerade sein Fernsehprogramm begann.
Gehen Sie denn in Deutschland manchmal ins Theater?
Früher ging ich leidenschaftlich gerne. Seit geraumer Weile aber mache ich das kaum noch, weil mich ganz selten etwas interessiert. Lange Zeit fand ich alles grässlich. Ich hatte das Gefühl, dass die Regisseure keine Liebe zu den Stücken hatten, die sie inszenierten. Und ich konnte nicht verstehen, warum sie es trotzdem taten. Natürlich muss man den Theatertext jedes Mal auf das überprüfen, was heute wichtig ist. Aber man kann sich nicht bloß lustig machen über ein Werk oder sich gegen den Autor wenden. Dann sollte man doch lieber selbst ein Stück schreiben. Ich erinnere mich, dass ich einmal in der Berliner Volksbühne saß und ein Schauspieler auf der Bühne zum dritten oder vierten Mal die Hose herunterließ. Daraufhin muss ich einen solchen Seufzer der Langeweile ausgestoßen haben, dass alle um mich herum zu lachen anfingen.
Tochtersein ist kein Beruf, haben Sie einmal gesagt.
Nein, das interessiert mich nicht. Ich habe meinen Vater ungeheuer geliebt, aber jetzt ist er tot. Für mich war er kein Forschungsobjekt, ich habe kein Buch über ihn geschrieben, ich habe ihn nicht studiert. Die Erinnerungen, die ich an ihn habe, sind wirklich lediglich die einer Tochter. Und die sind äußerst angenehm, weil ich sehr verwöhnt wurde.
Sie haben einmal von sich gesagt, an mindestens neunundfünfzig Adressen in sieben Ländern gelebt zu haben, dreiundzwanzig Schulen besucht, achtzehn bezahlte - darunter von 1971 bis 1988 als Dozentin für Gesellschaftsveränderung an der University of Illinois -, sowie unzählige unbezahlte Stellungen gehabt zu haben. Wie erlernt man so viel Offenheit und Wandlungsfähigkeit?
Wahrscheinlich durch diese vielen Wechsel. Außerdem hatte ich eine ziemlich unkonventionelle Erziehung. Über manche Sachen wurde ich einfach nicht aufgeklärt, zum Beispiel darüber, dass es heute noch Religionen gibt. Ich dachte, das sei ein Überbleibsel aus vergangenen Jahrhunderten.
Im Ernst?
Mit zehn Jahren habe ich meinen Vater erschüttert gefragt: "Wusstest du, dass Leute heute noch an Gott glauben?" Und er antwortete: "Ich weiß es, aber ich kann nichts dafür." Wir haben zwar Weihnachten und Ostern gefeiert, aber völlig ohne Gott. Als ich sehr klein war und nur noch ein paar Worte Deutsch konnte - wir lebten schon in England -, hielt ich Weihnachten für die Nacht, in der man Wein hat. Es war tatsächlich die einzige Nacht, in der ich einen Schluck Wein trinken durfte. Das erklärte die Angelegenheit für mich vollkommen. Ob es einen Gott gibt oder nicht, ist mir bis heute egal. Mich interessieren die Dinge hier auf Erden, mit denen ich mich auseinandersetzen - und die ich vielleicht auch ändern kann.

Die Fragen stellte Irene Bazinger.

"Ich hatte neunundfünfzig Adressen."

UND:
Ein Artikel aus der Welt vom 28.8.2010

"Tochter von Beruf war ich nie."

UND:
Noch ein Artikel

"Ermutigung muß von Begehren kommen."


Montag, 27. Januar 2014

La Boheme im Theater Bremen


LA BOHEME

Oper in vier Akten von Giacomo Puccini
Text von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica
nach Henri Murgers Scènes de la vie de bohème
 
Ja. Man nennt mich Mimì,
doch mein Name ist Lucia.
Meine Geschichte ist kurz.
Auf Leinen oder auf Seide
sticke ich daheim und auswärts.
Ich bin ruhig und heiter
und am liebsten sticke ich
Lilien und Rosen.
Mich freuen diese Dinge,
die solchen süßen Zauber besitzen,
die von der Liebe sprechen und vom Frühling;
die mir von Träumen sprechen und von Chimären,
diese Dinge, die Poesie heißen.
Sie verstehen mich?

Vier Männer spielen Kunst. Ein Schriftsteller, der seinen Roman verbrennt, weil er so mehr Hitze erzeugt, ein Maler, der Farben haßt. 
Naß macht dies Rote Meer
Und steif des Malers Hand.
Wie herbstkalter Regen
Fällt aufs tote Land.

Ein Komponist ohne Noten und ein Philosoph mit zu wenig Worten. Sie phantasieren Werke, sie versaufen & verfressen ihre Träume, selbst ihre Lieben sind nur imaginiert und verhalten sich dementsprechend gefällig. Mimi und Musette, die Heilige Hure und die Heilige Femme Fatale singen fast ausschließlich im Off, nurmehr zu Stimmen entkörpert.

"vier Männer..., die eine Idee von Liebe erfinden und sie damit zugleich vermeiden." 
(Aus den Inszenierungsnotizen) 

Ich weiß nicht genau, ob mir die Inszenierung gefallen hat, aber die Kargheit des Bühnengeschehens, vier Männer, ein Tisch, Stühle und viele rosa Kleider und Farbspritzflaschen, die spielerische Zurückhaltung, haben mir freien Raum gelassen, zuzuhören. Und wie das Orchester und die Sänger und Sängerinnen leis sein konnten mit nur ganz wenigen Ausbrüchen ins Massive, Pathetische, dass war wunderbar. So als seien wilde Leidenschaften ein Luxus, den man sich fast nicht mehr leisten kann. Und wenn es denn doch passierte, wurde es mit Farbmatschschlachten schnell weggedrückt. (Ein bisschen weniger Farbspritzen wäre auch noch genug gewesen.)
Ein merkwürdiger Abend. Und irgendwie habe ich die Geschichte zum ersten Mal wirklich verfolgen können, obwohl oder weil sie auf die minimalste Größe zusammengeschrumpft worden war.  

Wie eiskalt ist dies Händchen!
Lassen Sie, ich wärme es.
Was nutzt das Suchen?
Zum Finden ist's zu dunkel,
bis erst der Vollmond am Himmel emporsteigt
und überstrahlet der Sterne Gefunkel.
Erlauben Sie, mein Fräulein,
daß ich kurz Bericht Euch gebe,
wer ich wohl bin, was ich treibe,
und wie ich hier lebe!
Erlauben Sie's?
(Mimi schweigt.)
Wer ich bin? So hören Sie.
Bin nur ein Dichter.
Und was ich tue? Schreiben!
Und wie ich lebe? Nun, ich lebe!
In diesen armen Räumen
streu' ich als Krösus Verse
und manch' Liedchen umher.
Und leb' in gold'nen Träumen
und bau'mir Luftschlösser,
fühl' mich im Geist als Millionär,
aus meiner Truhe stehlen
oft die schönsten Juwelen
ein Diebespaar: zwei Äuglein!
Mit Ihnen sind diese Diebe
wieder hereingekommen,
haben alle Gedanken
plötzlich mir weggenommen!
Doch bin ich drob nicht böse.
Denn oh! Hoffnung ist
in die Seele mir eingezogen...
So, mich kennen Sie jetzt. Sagen Sie
mir nun, wie darf ich Sie nennen?


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Theater Bremen

Rodolfo Luis Olivares Sandoval
Marcello Martin Kronthaler
Schaunard Patrick Zielke
Colline Christoph Heinrich
 
Mimì Nadine Lehner, Patricia Andress
Musetta Marysol Schalit, Alexandra Scherrmann
 
Parpignol Zoltan Stefko, Sangmin Jeon
 
Musikalische Leitung Markus Poschner
Regie Benedikt von Peter
Bühne Katrin Wittig
Kostüme Geraldine Arnold
Chor Daniel Mayr
Licht Christopher Moos
Dramaturgie Sylvia Roth

Samstag, 25. Januar 2014

DEUTSCHES ESSEN - GRÜNKOHL UND PINKEL


Grünkohl & Pinkel & Bregenwurst & Gestreifter Speck & Kassler & Kartoffeln, das alles mit scharfem Senf & starkem Kümmelschnaps

In Bremen zum Grünkohl und Pinkel Essen eingeladen zu werden, ist keine Geste harmloser sozialer Interaktion, sondern eher ein Akt der Einweihung in ein kompliziertes norddeutsches bürgerliches Ritual der fremdartigen, herzlichen und äußerst nahrhaften Art. Zum Überleben dieses grandiosen Erlebnisses ist ein gußeiserner Magen von Nöten und mittlere Alkoholverträglichkeit. 
Vorher wird gelaufen, zwei bis drei Stunden, den Teil habe ich wegen vertraglichen Arbeitsverpflichtungen überspringen dürfen, während dieses Spazierganges wird gewürfelt und wenn eine Sechs erscheint, getrunken, der Würfel hat allerdings nur Sechsen. Dann wird gegessen, unglaublich viel, sehr schmackhaft, sehr schwer, sehr lecker und möglichst lange. Wer am längsten ißt, gewinnt den Preis des besten Pinkelessers. Manche Familien entscheiden dieses Ergebnis auch durch zweimaliges Wiegen der Teilnehmer, vorher und nachher. Heute habe ich gewonnen, aber natürlich nur weil ich der zu initierende Gast war. Ich habe deshalb einen sehr schönen Zinnlöffel geschenkt bekommen, aus dem wird der traditionelle und überlebenswichtige Kümmel getrunken, früher aß man mit diesem Löffel dann auch. Und die Redewendung vom Löffel, der abgegeben wird, könnte sehr gut, von einem Pinkelesser im Verdauungskoma erfunden worden sein.


Diese irrwitzigen Eßgewohnheiten, die wir frühkindlich annehmen und nur unter großer Anstrengung und mit ideologisch geschärftem Willen vermeiden können. 
Gebt mir Fleisch, gebt mir Fett, gebt mir stark gewürzte Speisen, gebt mir dicke Saucen und Zutaten, die ich zusammenmanschen kann - und - ich bin glücklich. Kalbfleisch-Schnitzel ist edel, aber Schweineschnitzel ist des Berliners Droge, und zwar unbedingt dickpaniert und nicht dünngeklopft. Buletten, Blutwurst, Klopse, Eisbein, Kassler, Schweinebraten und Rouladen, im Geiste bin ich Vegetarier, aber mein Magen schreit lauthals nach Fleisch. Salat ist wunderbar, Gemüse al dente herrlich, aber fette Eintöpfe mit Fleischbeilage bleiben mein inneres Traumbild an kalten Wintertagen - Kohl mit Kassler, grüne Bohnen mit Hammelfleisch, Teltower Rübchen mit Rinderfleisch, nichts davon gesund, alles Kindheit.
Senf ist auch so ein Ding. Als Kind im Strandbad hatte ich die Wahl zwischen einer Bockwurst für eine Mark und zehn Stullen mit Senf für den gleichen Preis, keine Frage, wie ich mich entschieden habe. Im Ferienlager an der Ostsee mußten "unartige" Kinder beim Neptunfest Essig trinken oder Senf essen, Teufelspädagogik a la DDR, aber ich liebte beides, Essig und Senf, da triumphierte das böse Kind!
Vielleicht sterben mit meiner Generation die letzten uneinsichtigen Fresser von 
ungesunden, aber wundervoll wohlschmeckenden Schädlichkeiten aus. Vielleicht ist das gut so. Aber trotzdem ist es schade drum. 
Dies alles gilt natürlich nur für den wohlversorgten, guternährten Teil der Welt, in dem ich glücklicher- und zufälligerweise lebe.


TRINKSPRUCH NACH DEM PINKELESSEN:

Gastgeber:Ik seh di!
Ich sehe dich!
Gast:
Dat freit mi!
Das freut mich!
Gastgeber:
Ik sup di to!
Ich trinke dir zu!
Gast:
Dat do!
Das tu!
Gastgeber:
Prost!
Gastgeber:
Ik heb di tosapen!
Ich habe dir zugetrunken!
Gast:
Hest’n Rechten drapen!
Hast den Richtigen getroffen!


 
Wiki sagt dazu:

DEN LÖFFEL ABGEBEN:
Die unverzichtbare Tätigkeit des Essens steht bei dieser Redewendung Pate, mitsamt der Tatsache, dass im Mittelalter und früher Neuzeit das Armeleuteessen üblicherweise ein Brei in einer Schüssel für alle inmitten des Tischs war, wofür ein jeder seinen eigenen Löffel parat hatte. Diesen höchsteigenen, nicht selten selbstgeschnitzten, Löffel wegzulegen, ist dabei gleichbedeutend mit dem Ende des Lebens. Im Schwarzwald gab es früher die Tradition, dass ein Löffel im persönlichen Besitz war und nach dem Tod nicht weitergegeben, sondern an die Wand des Bauernhauses gehängt wurde. Den Knechten dagegen wurde nicht selten vom Bauern ein Löffel zur Verfügung gestellt, den sie abgeben mussten, wenn sie weiterzogen oder der weiterverwendet wurde, wenn sie starben.
 
PINKEL:
Es gibt verschiedene Namensdeutungen, die die Bezeichnung allerdings weder mit „pinkeln“ (für urinieren) noch mit dem „feinen Pinkel“ (für einen eitlen Menschen) in Verbindung bringen. Der Ausdruck Pinkel (auch Püngel oder Pünkel) bedeutete vielmehr zusammengedrängte Masse oder kurzer, dicker Gegenstand und hat möglicherweise seine Weiterentwicklung zu Bündel gefunden. Ähnlich ist die Deutung, die sich von Pinker für den Mastdarm (hier: Rindermastdarm) ableitet, der traditionell bis heute als Wursthülle verwendet wird.

BREGENWURST:
oder Brägenwurst ist eine rohe oder leicht geräucherte Mettwurst aus magerem Schweinefleisch, Schweinebauch, Zwiebeln, Salz und Pfeffer. Sie ist eine Spezialität in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt und wird meist zu Grünkohl gegessen, der regional als Braunkohl bezeichnet wird; dazu lässt man sie eine Weile zusammen mit dem Kohl garen. Ihren Namen hat die Bregenwurst vom früher zugegebenen Schweinehirn: Plattdeutsch steht Bregen oder Brägen für Hirn, heute darf Hirn nicht mehr verarbeitet werden.

Donnerstag, 23. Januar 2014

Houdon - Köpfe & Körper


Jean-Antoine Houdon

Louise Brongniart 1777

Louise & ihr Bruder Alexandre Brongniart


Winter, Das Frierende Mädchen, Die Fröstelnde, Frileuse 1783

Fast versteckt hinter ihren Beinen, der zerbrochene Krug, das Zeichen für die verlorene Jungfräulichkeit, in der späteren Bronzeversion fehlt der Krug.

 Die tote Drossel

...
O wie stille ein Gang den blauen Fluss hinab
Vergessenes sinnend, da im gruenen Geaest
Die Drossel ein Fremdes in den Untergang rief.
...
Georg Trakl - Sebastian im Traum
 
 

Montag, 20. Januar 2014

FRIKASSEE



   Ich liebe es, zu essen. Chinesisch, japanisch, vietnamesisch, indisch,
   französisch und und und... Ich bin fast immer hungrig, sehr neugierig, 
   sehr verfressen und stets in Gefahr, zu dick zu werden. Aber wenn ich über  
   meine mögliche Henkersmahlzeit nachdenke, erscheinen vor meinem 
   visuellen Magen ganz heimatliche Bilder: Schnitzel, natürlich dick paniert, 
   mit Kartoffeln, grünen Bohnen und brauner Butter oder Frikassee mit Reis. 
   Frikassee ist Kinderessen, breiig, matschig, dicklich, fett, füllend - schmeckt.
   Hühnchen, Sahne, Blumenkohl und Kapern, mhmmmm! 
   Muß man mit dem großen Löffel essen! Schaufeln. Schmatzen erwünscht.


   Hühnerfrikassee
   (Wie es meine Mutter kocht)
   Frikassee (französisch fricassée, „Sammelsurium“) ist ein Ragout
   aus hellem Fleisch in heller Sauce.

   Circa sechs Hühnerkeulen & ein Bund Suppengrün zusammen abkochen.
   Das Fleisch ohne Haut von den Knochen lösen und beiseite stellen.
   Einen Blumenkohl al dente kochen, in Röschen zerteilen, beiseite stellen.
   In die Brühe eine kleine halbe Flasche Weißwein geben, aufkochen.
   ½ l Sauce hollandaise hineingeben (auch Fertig-Soße, am besten von
   Lukullus) & mit der Suppe verrühren.
   Hühnerfleisch und Blumenkohl dazugeben.
   Noch einmal aufkochen lassen und mit Zucker, Salz, Pfeffer, Maggi
   abschmecken.
   Reichlich Kapern hineingeben!

BLUMENKOHL


 HÜHNERKEULE


 DER SÜSSE BREI

 Es war einmal ein armes, frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter 
 allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in 
den Wald, und begegnete ihm da eine alte Frau, die wusste seinen Jammer schon und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen: "Töpfchen, koche," so kochte es guten, süssen Hirsebrei, und wenn es sagte: 
 "Töpfchen, steh," so hörte es wieder auf zu kochen.
Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und nun waren sie 
ihrer Armut und ihres Hungers ledig und assen süssen Brei, sooft sie wollten.
Auf eine Zeit war das Mädchen ausgegangen, da sprach die Mutter: 
"Töpfchen, koche," da kocht es, und sie isst sich satt; nun will sie, dass das Töpfchen wieder aufhören soll, aber sie weiss das Wort nicht. Also kocht es 
fort, und der Brei steigt über den Rand hinaus und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus voll und das zweite Haus und dann die Strasse, als 
wollt's die ganze Welt satt machen, und ist die grösste Not, und kein 
Mensch weiss sich da zu helfen. Endlich, wie nur noch ein einziges Haus 
übrig ist, da kommt das Kind heim und spricht nur: "Töpfchen, steh," da 
steht es und hört auf zu kochen, und wer wieder in die Stadt wollte, der 
musste sich durchessen.

 Märchen der Gebrüder Grimm

 KAPERN


 SAHNE


Sonntag, 19. Januar 2014

Kim Jong-Il & Kim Jong-Un - Monster bevor sie Monster wurden


NORDKOREA UND SEINE "FÜHRER"-FAMILIE
Eine Horrorgeschichte


DER GROSSVATER - KIM IL-SUNG

Kim Il-Sung
"Führer" Nord-Koreas von 1948 bis 1994

DER VATER - KIM JONG-IL

 Kim Jong-Il mit seinen Eltern Kim Jong-suk & Kim Il-sung
(undatiert) 

ebenso

Kim Jong-Il als Schüler
(undatiert)


 Kim Jong-Il 
(Zweiter von rechts, undatiert)

DER ENKEL - KIM JONG-UN

Kim Jong-Il mit seiner Familie
Kim Jong-Un rechts vorne, in der hinteren Reihe seine vierte Frau Kim Ok, die Schwester seiner früheren Frau Sung Hye Rang and her children Lee Nam Ok and Lee Il Nam
(1981)

  Kim Jong-Un (undatiert)



Samstag, 18. Januar 2014

Verschmitzt - ein feines Eigenschaftswort


VERSCHMITZT

verschmitzt, verschmitzter, am verschmitztesten

DWDS
verschmitzt Part.adj. "in freundlich-lustiger Weise klug, pfiffig, gerissen" (Mitte 16. Jh.), zu frühnhd. verschmitzen "mit Ruten schlagen, beleidigen" (16. Jh.), demnach "durch Schläge klug geworden, gewitzt" (s. auch gerieben). Zugrunde liegt mhd. smitzen "mit Ruten hauen, geißeln, züchtigen, schlagen, beschmieren, beschimpfen, beschädigen", nhd. schmitzen (bis 18. Jh.), das wohl am besten als Intensivum zu mhd. smīʒen "streichen, schmieren, schlagen" aufzufassen ist.

Verschmitzt und verschlagen haben offensichtlich eine ähnliche Wurzel, aber heute einen völlig unterschiedlichen Bedeutungsklang, wo das Erstere Charme und Einverständnis einschließt, wissen wir beim Zweiteren, dass wir übervorteilt, hintergangen und übervorteilt werden sollen. Wie passiert das? Zwei Worte entstehen und irgendwo, irgendwann trennen sich ihre Wege und eines Tages stehen sie sich fremd gegenüber? Spannend. 

 © Frank Vogelskamp 1998
"Nein, ich habe diese Fensterscheibe nicht kaputt gemacht."

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm
aus dem Verb hat sich das part. prät. erhalten. die andern Formen sind ungebräuchlich geworden, aber verschmitzt ist ein beliebtes Adjectiv.

Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart 
1. Schmitzen, verb. reg. act. welches das intensive Diminutivum von schmeißen, schlagen, ist, und mit einem dünnen biegsamen Körper schlagen oder hauen bedeutet, von dem ähnlichen damit verbundenen Schalle. Es kommt nur hin und wieder vor. Im Oberdeutschen sagt man auch hinschmitzen, für hinschmeißen, hinfallen. In dem zusammen gesetzten verschmitzt herrscht eben dieselbe Figur, welche in verschlagen Statt findet, nur daß schmitzen und schlagen hier nicht percutere bedeuten, sondern, wie ähnliche Wörter dieser Art, eigentlich den Begriff der Schlankheit und Schmeidigkeit haben, des Vermögens sich in allen Fällen zu drehen und zu winden, da denn schmitzen in diesem Falle zu dem folgenden gehören würde.
Band 3. Leipzig 1798, S. 1578

Pierer's Universal-Lexikon
Schmitzen, 1) mit einem dünnen u. biegsamen Körper schlagen; 2) abfärben, Schmutz fahren lassen; 3) mit einem dicklich flüssigen Körper bestreichen; 4) so v.w. Färben, bes. Schwarz färben; 5) beim Druck von einer Stelle schmutzig od. gleichsam halb doppelt herauskommen.
Band 15. Altenburg 1862, S. 331   


SYNONYME:
listig, lustig, schelmisch, schlau, spitzbübisch, ausgekocht, raffiniert, pfiffig, ausgefuchst, bauernschlau, clever, gewieft, gewitzt, listig, taktisch, durchtrieben, fintenreich, gerissen, geschickt, hinterlistig, listenreich, raffiniert 


EMOTICON
;-< = verschmitzt lächeln
oder


SCHMITZ KATZE hat übrigens eine ganz andere Wurzel: Dieser Name entwickelte sich mit der Zeit aus dem Beruf des Schmieds. Mitglieder dieser Arbeiterzunft hatten früher häufig eine oder mehrere Katzen in ihren Werkstätten, um Mäuse und andere ungebetene Gäste zu verjagen. Wenn der Mäusejäger bei der Jagd einmal in die Nähe des Ambosses kam und das Herrchen just in diesem Moment mit voller Kraft auf sein Schmiedegut schlug – dann suchte die erschrockene Katze urplötzlich das Weite. Man könnte auch sagen: Sie geht ab wie des Schmieds Katze – oder eben Schmitz Katze.

http://www.einfachtierisch.de/katzen/das-geht-ab-wie-schmitz-katze-was-steckt-dahinter-id35235/ 

Alfred Stieglitz photographiert Georgia O'Keeffe



“Photography is my passion, the search for truth, my obsession.”

"Photographie ist meine Leidenschaft, die Wahrheitssuche meine Besessenheit." Allfred Stieglitz

Und Georgia meine Liebe. So würde ich den Satz vervollständigen, wenn ich diese Photographien anschaue. 
Die beiden lebten und kämpften eine sehr lange, sehr intensive Beziehung, inclusive außerehelicher Affairen, Trennungen geographischer Art, und auch emotionaler, voll Arbeit und voll von gegenseitiger tiefster Zuneigung. Sie schrieben sich tausende Briefe. Er photographierte sie oft und oft. Sie respektierten einander als Künstler.

1. Juni 1917: 
"wie ich dich photographieren wollte - die hände - den mund - & augen - & den in schwarz gehüllten körper - den flecken weiß - & die kehle - aber ich wollte nicht in deine zeit eindringen -"
"How I wanted to photograph you — the hands — the mouth — & eyes — & the enveloped in black body — the touch of white — & the throat — but I didn't want to break into your time — " 
Alfred Stieglitz

"Ich glaube, mir ist es wichtiger, dass Stieglitz etwas - alles was ich gemacht habe - mag, als irgendjemand sonst, den ich kenne."
" I believe I would rather have Stieglitz like something - anything I had done - than anyone else I know"
Georgia O'Keeffe

1920
© Georgia O’Keeffe Museum

1918 
© J. Paul Getty Trust

 1932
© Gift to the Metropolitan Museum of Art
through the generosity of The Georgia O'Keeffe Foundation
and Jennifer and Joseph Duke

1918
J. Paul Getty Museum, Los Angeles
© Estate of Georgia O’Keeffe

1918
© Estate of Georgia O’Keeffe

 1918/19
© Gift to the Metropolitan Museum of Art
through the generosity of The Georgia O'Keeffe Foundation
and Jennifer and Joseph Duke

1932
© Georgia O’Keeffe Museum

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PORTUGIESISCHE SONETTE
VI.
Geh fort von mir. So werd ich fürderhin
in deinem Schatten stehn. Und niemals mehr
die Schwelle alles dessen, was ich bin,
allein betreten. Niemals wie vorher

verfügen meine Seele. Und die Hand
nicht so wie früher in Gelassenheit
aufheben in das Licht der Sonne, seit
die deine drinnen fehlt. Mag Land um Land

anwachsen zwischen uns, so muß doch dein
Herz in dem meinen bleiben, doppelt schlagend.
Und was ich tu und träume, schließt dich ein:

so sind die Trauben überall im Wein.
Und ruf ich Gott zu mir: Er kommt zu zwein
und sieht mein Auge zweier Tränen tragend.


Elisabeth Barrett-Browning
übersetzt von R.M. Rilke

Georgia O'Keeffe Hände und Fingerhut 1919
© The Collection of Henry Buhl 
"...den Spitzenplatz hält seit Herbst 1993 Alfred Stieglitz mit dem Foto "Georgia O'Keeffe: A Portrait - Hands and Thimble", welches rund 640 000 Mark brachte. (Spiegel Special 12/96)

Dienstag, 14. Januar 2014

Wir fahren mit der Eisenbahn



Eine Kleine Anthologie
für Ö.
Eisenbahnfahren, ein Abenteuer.
 
Ich habe mehrere sagen hören, daß durch die Eisenbahnen alle Reisepoesie verschwunden sei und man an dem Schönen und Interessanten vorbeijage. Was letzteres betrifft, so steht es ja jedem frei, auf jeder beliebigen Station zu bleiben und sich da umzusehen, bis der nächste Wagenzug anlangt; und in betreff der Behauptung, daß alle Reisepoesie verschwindet, bin ich völlig entgegengesetzter Meinung. Gerade in den engen, vollgepackten Reisewagen ist es, wo die Poesie verschwindet, man wird hier träge. In der besten Jahreszeit wird man von Staub und Hitze geplagt und im Winter durch schlechte Wege; die Natur selbst erhält man nicht in größeren Portionen, aber wohl in längeren Zügen als im Dampfwagen. Oh, welches große Werk des Geistes ist doch diese Erfindung! Man fühlt sich ja mächtig wie ein Zauberer der Vorzeit! Wir spannen unser magisches Pferd vor den Wagen und der Raum verschwindet; wir fliegen wie die Wolken im Sturm, wie der Zugvogel fliegt; unser wildes Pferd wiehert und schnaubt, der Dampf entsteigt seinen Nüstern. Schneller konnte Mephistopheles nicht mit Faust auf seinem Käppchen fliegen! Wir sind durch natürliche Mittel in unserer Zeit ebenso stark, als man im Mittelalter nur durch die Hilfe des Teufels sein konnte! Wir sind ihm durch unseren Verstand an die Seite gekommen, und ehe er es selber weiß, sind wir an ihm vorbei.

Hans Christian Andersen


Jetzt pfeift der Dampf und läßt im Sturm uns reisen;
Verwandelt ward die Zeit und wir mit ihr.
Emanuel Geibel



Wir fahren mit der Eisenbahn,
und wer fährt mit, und wer fährt mit?
Wir fahren mit der Eisenbahn,
und du fährst mit.


Scherl: Der Lehrter Bahnhof nach seiner Renovierung Berlin 1929

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Wenn einer fortgeht

Wenn einer fortgeht, gibt man sich die Hände,
Am Bahnhof lächelt man, so gut es geht.
Wie oft sind unsrer Sehnsucht Außenstände
Mit einem D-Zug schon davon geweht...

Wenn einer fortfährt, steht man zwischen Zügen,
Und drin sitzt der, um den sich alles dreht.
Man könnte dieses "alles" anders fügen.
Durch einen Blick, ein Wort vielleicht. – Zu spät.

Wenn einer fortfährt geht das Herz auf Reisen
Und treibt sich irgendwo allein herum
Es ist schon manchmal schwer, nicht zu entgleisen.
Die klügste Art zu reden bleibt doch: stumm.

Wenn einer fortgeht, kann man nichts vergessen.
Und jeder Tag ist ein Erinnerungsblatt.
Wenn einer fortgeht, braucht man nichts zu essen.
Man wird so leicht vom Tränenschlucken satt.

Wenn einer fort ist, gibt es Ansichtskarten
Und ab und zu mal einen dicken Brief.
Ein schweres Verbum ist das Wörtchen "warten"
Und "lebe wohl" ein Schluss – Imperativ...

Mascha Kaleko

Der Hauptbahnhof Berlin die Südseite

Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht

Der Schnellzug tastet sich und stößt die Dunkelheit entlang.
Kein Stern will vor. Die ganze Welt ist nur ein enger, nachtumschienter Minengang,
Darein zuweilen Förderstellen blauen Lichtes jähe Horizonte reißen: Feuerkreis
Von Kugellampen, Dächern, Schloten, dampfend, strömend ... nur sekundenweis
Und wieder alles schwarz. Als führen wir ins Eingeweid der
Nacht zur Schicht.
Nun taumeln Lichter her.. verirrt, trostlos vereinsamt..
mehr .. und sammeln sich.. und werden dicht.
Gerippe grauer Häuserfronten liegen bloß, im Zwielicht
bleichend, tot - etwas muß kommen.. o, ich fühl es
schwer
Im Hirn. Eine Beklemmung singt im Blut. Dann dröhnt der
Boden plötzlich wie ein Meer:
Wir fliegen, aufgehoben, königlich durch nachtentrissne
Luft, hoch übern Strom. O Biegung der Millionen
Lichter, stumme Wacht,
Vor deren blitzender Parade schwer die Wasser abwärts
rollen. Endloses Spalier, zum Gruß gestellt bei Nacht!
Wie Fackeln stürmend! Freudiges! Salut von Schiffen über
blauer See! Bestirntes Fest!
Wimmelnd, mit hellen Augen hingedrängt! Bis wo die Stadt
mit letzten Häusern ihren Gast entläßt.
Und dann die langen Einsamkeiten. Nackte Ufer. Stille.
Nacht. Besinnung. Einkehr. Kommunion. Und Glut
und Drang
Zum Letzten, Segnenden. Zum Zeugungsfest. Zur Wollust.
Zum Gebet. Zum Meer. Zum Untergang.

Ernst Stadler

 Anders Reisen
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D-Zug

Braun wie Kognak. Braun wie Laub. Rotbraun.
Malaiengelb.
D-Zug Berlin-Trelleborg und die Ostseebäder.

Fleisch, das nackt ging.
Bis in den Mund gebräunt vom Meer.

Reif gesenkt, zu griechischem Glück.
In Sichel-Sehnsucht: wie weit der Sommer ist!
Vorletzter Tag des neunten Monats schon!

Stoppel und letzte Mandel lechzt in uns.
Entfaltungen, das Blut, die Müdigkeiten,
die Georginennähe macht uns wirr.

Männerbraun stürzt sich auf Frauenbraun:
Eine Frau ist etwas für eine Nacht.
Und wenn es schön war, noch für die nächste!
Oh! Und dann wieder dies Bei-sich-selbst-Sein!
Diese Stummheiten! Dies Getriebenwerden!

Eine Frau ist etwas mit Geruch.
Unsägliches! Stirb hin! Resede.
Darin ist Süden, Hirt und Meer.
An jedem Abhang lehnt ein Glück.

Frauenhellbraun taumelt an Männerdunkelbraun:

Halte mich! Du, ich falle!
Ich bin im Nacken so müde.
Oh, dieser fiebernde süße
letzte Geruch aus den Gärten.

Gottfried Benn 
 
Das Eisenbahngleichnis

Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug.
 Und keiner weiß, wie weit.

Ein Nachbar schläft, ein anderer klagt,
ein dritter redet viel.
Stationen werden angesagt.
Der Zug, der durch die Jahre jagt,
kommt niemals an sein Ziel.

Wir packen aus. Wir packen ein.
Wir finden keinen Sinn.
Wo werden wir wohl morgen sein?
Der Schaffner schaut zur Tür herein
und lächelt vor sich hin.

Auch er weiß nicht, wohin er will.
Er schweigt und geht hinaus.
Da heult die Zugsirene schrill!
Der Zug fährt langsam und hält still.
Die Toten steigen aus.

Ein Kind steigt aus. Die Mutter schreit.
Die Toten stehen stumm
am Bahnsteig der Vergangenheit.
Der Zug fährt weiter, er jagt durch die Zeit,
und niemand weiß, warum.

Die 1. Klasse ist fast leer.
Ein feister Herr sitzt stolz
im roten Plüsch und atmet schwer.
Er ist allein und spürt das sehr.
Die Mehrheit sitzt auf Holz.

Wir reisen alle im gleichen Zug
zu Gegenwart in spe.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir sitzen alle im gleichen Zug
und viele im falschen Coupé.

Erich Kästner

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Für den Fall eines Streiks: 

 

 Ein Eisenbahner
 
Ich kann Eisenbahn-Zugführer werden;
nein, Lokomotivführer lieber!
Dann bin ich kleiner Menschenknirps
der größten Maschine über,
die tausend Pferdekraft stark ist.

Und tausend andre Menschen
regiert Ein Griff meiner Hand,
tagein tagaus, bei Nacht, bei Nebel,
im Sturm von Land zu Land;
Bahn frei! schreit meine Maschine.

Bahn frei - was schreit da wider?
im Dunkeln welch Gestampf?
Woher, wohin? Vorwärts, zurück?
Halt! bremsen! Gegendampf!
jetzt gilt's, Mensch: Einer für Alle!

Und fliegt der Kopf vom Kragen,
so stirbt sich's ohne Grämen;
dann braucht man sich doch wenigstens
des Lebens nicht zu schämen!
So denkt ein kleiner Held.
 
Richard Dehmel