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Mittwoch, 21. Oktober 2015

"ANDERSON" ein Film von itworks

"Seine Geschichte ist unsere Geschichte."
Bernd Papenfuß

Lithographie, "Porträt Sascha Anderson", von A. R. Penck 1990

E VII
Wirst Du, Kartenhaus, mich mit dem dreiunddreißigsten 
             Deiner Bilder betrüben, oder ist es naiv 
Wenn die Grenze mir einstürzt, das Äußerste, zu wagen 
              das Medium, das Herz, für die noch schönere Münz
 
Vor dem Gartenhaus stehen drei Birken, die heißen 
              Schuld und Sühne, ich weiß, welche die Liebste mir ist
s.a.

1980 oder 81, genau weiß ich es nicht mehr, lag mir mein Familienname besonders quer im Magen. Ein kleines Land, ein Name, damals zu groß, schwer für mich. Durch einen fremdmachenden Künstlernamen wollte ich diesem Druck entkommen und wählte ihn sorgfältig aus - Anderson - ein Dichter, den ich bewunderte und ein Wortspiel, dass mir gefiel. Im Nachhinein Schwachsinn. Damals ein Schritt. Auf einem Plakat, dem zur Aufführung "Jutta oder die Kinder von Damutz" von Helmut Bez, ist dann diese unwirkliche Person notiert, Johanna Anderson. 
Es hat, natürlich, nichts genutzt, das Land war zu klein, jeder kannte jeden, mein Vater war tief gekränkt, sein guter Name abgewiesen, verworfen. 
Und als Anderson aufflog, endlich, schrecklich, explosiv, fühlte ich eine ganz persönliche Verletzung, obwohl ich den Mann, abgesehen von einem kurzen, mich beeindruckenden Treffen, persönlich überhaupt nicht gekannt hatte. Nichts Wichtiges im Vergleich zu dem, was er Vertrauten, Freunden angetan hat, nichts. In was für einem häßlichen Land bin ich aufgewachsen. Mir ist übel.
Ein armer, egomanischer, überfordeter, böser Kerl.



ANDERSON 
ein Film von Annekatrin Hendel

 
SYNOPSIS DES VERLEIHS
Der Schriftsteller Sascha Anderson, in den 1980ern Fixstern und Popstar des kreativen DDR-Undergrounds, wird 1991 als Stasizuträger ersten Ranges enttarnt. Ein Skandal. Vom Nachnamen blieb nur noch das "A", und nicht wenige ergänzten: "rschlosch".
Der Film erzählt vom wildbewegten Doppelleben des Sascha Anderson zwischen Dissidententum und Verrat – und was es bedeutet, mit Lüge, Vertrauensmissbrauch und dem nicht abwaschbaren Stempel des Verräters zu leben. Annekatrin Hendel hat die, die nicht mehr miteinander reden, zum Reden bewegt und sie virtuell wieder an den Tisch gesetzt, an den Anderson seit fast 25 Jahren nicht mehr eingeladen wird. Noch immer ist kein Gras über die Sache gewachsen.

DER FILM

http://www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Dokumentarfilm-im-Ersten-Anderson/Das-Erste/Video?documentId=31199352&bcastId=799280 

1

alle dinge liegen klar in meinem herzen       das modell
der schwarze vogel februar tanzt auf den wochen & ich
habe angst dass er eines tages im august alles zurück
dreht um es wieder september zu nennen


alle dinge liegen klar in meinem herzen       denn die
gelegenheitsstunde an der weissen parkuhr unschuld
hat zwei zeiger die jedes lied sechzig mal teilen & das
ist auch das alibi für das ende der zeit


alle dinge liegen klar in meinem herzen       nichts wird
vergessen werden denn der punkt am ende ist nach
zwei der menschlichen seiten offen & nur auf den
pfauenaugen taut der schnee zum mittag restlos


alle dinge liegen klar in meinem herzen       so dass mir
nichts bleibt als an den abenden wenn ich der graue
spiegel über dem wortefluss bin jenes schwarze recht
eck nacht auf die namen und reime zu legen


alle dinge liegen klar in meinem herzen       zeugen wird
es nicht geben mutter sag dass der krieg eine er
findung ist & alles wurde nur erfunden um in den spiel
höllen die väterlichen taschen zu wechseln


alle dinge liegen klar in meinem herzen       das modell
der weisse vogel november tanzt auf den wochen & ich
habe angst dass er eines tages im februar alles zurück
dreht um es wieder frühling zu nennen

2
 

So wurde von keiner Berührung gestörtes in zweierlei Hinsicht
Eins und das Selbe Betrachtend das Kind (die Ältern)
mit griechischem Auge Was bleibt ihm denn praktisch übrig
Das Haus ist zwar Turm und Echo kaum einer Hand voll Erde
"Deutschland aber wo liegt es" Dort auf dem Berg den sie gruben
In diese taubstumme Form des Himmels an Ilm oder Pegnitz

sascha anderson
 

Dienstag, 9. Dezember 2014

Kindermörderaugen


KINDERÖRDERAUGEN

Was soll das sein? Nun, Augen, aus derem Blick man alles lesen kann, eisigste Kälte und hitzigen Sex, mißtrauische Bösartigkeit und weiche Zuneigung, psychopathische Mordlust und kindliche Vertraulichkeit. Schauspieler mit solchen Augen können, wenn sie gut sind, alles mögliche spielen und haben dabei immer den Bonus einer zweiten Ebene, eben der, die ihre Augen versprechen, die alles, was sie tun, anrüchig, zweideutig, doppelbödig wirken läßt. Auch ein mittleres, sogar manches öde Drehbuch gewinnt durch solche Augen eine momentane unverdiente Tiefe.
Und wenn sich Stoff, Regie und Darsteller auf "Augenhöhe" treffen, dann, ja dann, kann ganz und gar Ungewöhnliches entstehen. Sei es Kubricks "Shining" oder die "Gefährlichen Liebschaften" von Stephen Frears. 
Ich kann mir bei solchen Augen meines Urteils nie sicher sein, meine Erwartungen bleiben in der Schwebe und daraus entsteht Spannung, Kitzel, Nervosität. Ich mag das. Die Engländer nennen es "suspense", wir sagen Spannung, was es nicht ganz trifft, denn "suspense" meint eher so etwas wie
"in Unsicherheit schweben", nicht verkrampft, unter Anspannung dem Ende entgegenfiebern. Das Schweben geht uns etwas ab, uns deutschen Menschen, denke ich. Zwischen mehreren Möglichkeiten zu hängen, Ambiguität, Mehrdeutigkeit, erotische Verunsicherung, empfinden wir eher als feindseligen Akt und weniger als vibrierendes Vorspiel eines ungewissen, aber sicher spannenden Endes.




Standphoto aus "The Shining"

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 Standphoto aus "Gefährliche Liebschaften"

Aus dem gleichen Film, während einer Drehpause.

Mittwoch, 2. Juli 2014

Die Anatomische Venus



CLEMENTE SUSINI & Werkstatt


Anatomische Venus 1782
© Saulo Bambi



Man beachte das winzige Embryo!

Clemente Susinis "Anatomische Venus" wurde um das Jahr 1790 herum erschaffen. Sie war für den Gebrauch im Anatomieunterricht gedacht, den Studierenden das Blut, Fleisch und andrer Flüssigfeste einer realen Sektion ersparend und etwaige moralische Einwände gegen solchen Gebrauch eines menschlichen Körpers umgehend und sie war, ohne zu verwesen, wieder und wieder gebrauchbar.
Heute liegt sie mit Glasaugen, Schmuck und Naturhaarperrücke in elegischer, hingebungvoller Pose in ihrem originalen Behältnis aus Rosenholz und venezianischem Glas im Museum für Zoologie & Naturgeschichte La Specola in Florenz. 
Es gibt solche "Auseinandernehmbaren Venusse" natürlich auch in anderen europäischen Museen.

http://morbidanatomy.blogspot.de/2013/01/ode-to-anatomical-venus-womens-studies.html 

Leider habe ich keine Informationen zu diesem Kopf gefunden, aber ist so schön, 
dass ich ihn denoch nicht weglassen wollte.

Orpheus. Eurydike. Hermes
 ...

Sie aber ging an jenes Gottes Hand,
den Schritt beschränkt von langen Leichenbändern,
unsicher, sanft und ohne Ungeduld.
Sie war in sich, wie Eine hoher Hoffnung,
und dachte nicht des Mannes, der voranging,
und nicht des Weges, der ins Leben aufstieg.

Sie war in sich. Und ihr Gestorbensein
erfüllte sie wie Fülle.
Wie eine Frucht von Süßigkeit und Dunkel,
so war sie voll von ihrem großen Tode,
der also neu war, daß sie nichts begriff.

Sie war in einem neuen Mädchentum
und unberührbar; ihr Geschlecht war zu
wie eine junge Blume gegen Abend,
und ihre Hände waren der Vermählung
so sehr entwöhnt, daß selbst des leichten Gottes
unendlich leise, leitende Berührung
sie kränkte wie zu sehr Vertraulichkeit.

Sie war schon nicht mehr diese blonde Frau,
die in des Dichters Liedern manchmal anklang,
nicht mehr des breiten Bettes Duft und Eiland
und jenes Mannes Eigentum nicht mehr.
Sie war schon aufgelöst wie langes Haar
und hingegeben wie gefallner Regen
und ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat.

Sie war schon Wurzel.
Und als plötzlich jäh
der Gott sie anhielt und mit Schmerz im Ausruf
die Worte sprach: Er hat sich umgewendet -,
begriff sie nichts und sagte leise: Wer?

Fern aber, dunkel vor dem klaren Ausgang,
stand irgend jemand, dessen Angesicht
nicht zu erkennen war. Er stand und sah,
wie auf dem Streifen eines Wiesenpfades
mit trauervollem Blick der Gott der Botschaft
sich schweigend wandte, der Gestalt zu folgen,
die schon zurückging dieses selben Weges,
den Schritt beschränkt von langen Leichenbändern,
unsicher, sanft und ohne Ungeduld. 
Rainer Maria Rilke 
Neue Gedichte 1907

"Die Zerschnittene oder Zerfetzte Schönheit"
wahrscheinlich auch aus der Wrkstatt des C. Susini


"... anatomischen Darstellungen von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert... waren nicht nur Lehrvorlagen für Ärzte, sondern Aussagen über die Natur des von Gott erschaffenen Menschen innerhalb der gesamten Schöpfung... Sie sprechen über die Natur von Leben und Tod..."  

Martin Kemp and Marina Wallace,
Spectacular Bodies

Montag, 14. April 2014

Lear - Haken schlagen


Wiedereinmal "Lear":

Vorweg, Lear, der König, ist ein Mistkerl, ein Tyrann, ein Egozentriker, ein Scheusal, ein Macht-haber.

Er hat wenige Szenen vor dieser, sein Königtum in einem Akt wissentlicher Hybris an seine Erben weggeben, in festem Vertrauen auf ihre andauernde Treue, und sich dadurch angreifbar gemacht. 
 
Zweiter Akt: Der König, bereits angeschlagen, findet bei der Ankunft im Schloss seiner Tochter, einen seiner Diener im Block vor, einer Art hölzernem Pranger, in den der Gefangene mit Armen, Beinen & Kopf eingeschlossen wurde. 
Einen Diener des Königs, ohne dessen vorheriger Zustimmung, zu strafen ist Hochverrat. 
Die Kinder des Königs haben ihm eine Falle gelegt, sie wissen, dass der König auf diesen Köder reagieren muß, er darf ihnen ihr Missverhalten nicht durchgehen lassen. Er wird zürnen, wüten, sich angreifbar machen und dann können sie ihn abschiessen.
Er ist Beute.
Jägersprache. Mördersprache.
Es handelt sich um eine Treibjagd. Und der Löwe wird zum Hasen. Und Hasen schlagen Haken, in der Hoffnung, durch schnelle Richtungswechsel, dem tödlichen Schuß zu entgehen.


NARR blickt auf den gefesselten Kent:

Ha, ha! der trägt ja Holz-Wollstrümpfe.



LEAR:

Wer war’s, der deinen Rang so falsch verstand,

Dass er dich festsetzt?



KENT:

                                        Sowohl er wie sie,

Ihr Sohn und Ihre Tochter.



LEAR:

                                        Nein.



KENT:

                                                  Ja.



LEAR:

                                                          Nein, sag ich.



KENT:

Und ich sag ja.


LEAR:

                            Nein, nein; sie täten’s nicht.



KENT:

Ja, ja; sie taten’s.



LEAR:

                               Sie wagten’s nicht,

Sie konnten’s, würden’s nicht; ’s ist schlimmer als ein Mord,

An Königs Dienstmann solchen Frevel tun.

Oh! wie Erstickung mir ans Herz hochschwillt.

         Er geht kurz weg, kommt wieder.

Weigern sich mich zu sehn! Wärn krank! Wärn müde!



GLOUCESTER:

Sie kennen Cornwalls feurigen Charakter;

Wie unbeweglich und wie starr er ist.



LEAR:

Ich will den Herzog Cornwall sprechen und sein Weib.

Der König will mit Cornwall sprechen; der Vater

Möcht seine Tochter sprechen, Dienst will er sehn, befiehlt...

Nein, noch nicht jetzt; vielleicht ist ihm nicht gut:

Krankheit vernachlässigt stets allen Dienst,

Der bei Gesundheit Pflicht ist; auf den gefesselten Kent Warum

Sitzt der so da? Die Tat beweist es mir,

Dies Sich-Verziehn vom Herzog und von ihr

Ist Taktik nur. Gebt mir den Diener los.

Geh, sag Herzog samt Frau, ich möcht sie sprechen.



GLOUCESTER:

Ich möcht, das alles gut ist zwischen Ihnen. Ab.



LEAR:

Oh, ach! mein Herz, es steigt ans Herz! nein, runter!



NARR:

Schrei’s kräftig an, Nonkelchen, wie die neue Köchin die Aale, als sie sie aus Mitleid lebendig in die Pastete packte; sie über die Rübe gehaun hat mit ’nem Knüttel und schrien: ›Runter, vorwitzige Viecher, runter!‹
.....  

Dann treten nacheinander die Töchter und Schwiegersöhne auf und des Königs Haken werden schneller, verzweifelter und spitzer. Die Meute hetzt, der Hase rennt, der letzte Schuß sitzt, der König rennt in die Wildnis tödlich getroffen.  Es folgt: "Ein Sturm auf der Heide".

Ich muß bei der Szene immer an Saddam Hussein erschossen und in Unterhosen denken.

Shakespeare ist ein hundsgemeines Genie, eben konnte man den Kerl noch gemütlich hassen und dann soll man sich plötzlich mit ihm in die Enge getrieben fühlen. Man mißtraut dem eigenen Mitgefühl. Großartig.



Einen "Haken schlagen" stammt aus der Jägersprache und bezeichnet ursprünglich die abrupte Richtungsänderung des verfolgten Hasen. Der Haken meint dabei die gekrümmte Abweichung von einer als Gerade gedachten Fluchtlinie.
www.redensarten.de


Die Sprache und ihre Lehrer

Die Sprache ging durch Busch und Gehege,
Sie bahnte sich ihre eigenen Wege.
Und wenn sie einmal verirrt im Wald,
Doch fand sie zurecht sich wieder bald.
Sie ging einmal den gebahnten Steg,
Da trat ein Mann ihr in den Weg.
Die Sprache sprach: Wer bist du, Dreister?
Er sprach: Dein Lehrer und dein Meister.
Die Sprache dacht' in ihrem Sinn:
Bin ich nicht selber die Meisterin?
Aber sie ließ es sich gefallen,
Ein Streckchen mit ihrem Meister zu wallen.
Der Meister sprach in einem fort,
Er ließ die Sprache nicht kommen zum Wort.
Er hatt' an ihr gar manches zu tadeln,
Sie sollte doch ihren Ausdruck adeln.
Die Sprache lächelte lang' in Huld,
Endlich kam ihr die Ungeduld.
Da fing sie an, daß es ihn erschreckte,
Zu sprechen in einem Volksdialekte.
Und endlich sprach sie gar in Zungen,
Wie sie vor tausend Jahren gesungen.
Sie konnt' es ihm am Maul ansehn,
Daß er nicht mocht' ein Wort verstehn.
Sie sprach: Wie du mich siehst vor dir,
Gehört' das alles doch auch zu mir;
Das solltest du doch erst lernen fein,
Eh' du wolltest mein Lehrer sein.
Drauf gingen sie noch ein Weilchen fort,
Und der Meister führte wieder das Wort.
Da kamen sie, wo sich die Wege teilten,
Nach jeder Seit' auseinander eilten.
Die Sprache sprach: Was rätst nun du?
Der Meister sprach: Nur gerade zu!
Nicht rechts, und links nicht ausgeschritten;
Immer so fort in der rechten Mitten!
Die Sprache wollt' einen Haken schlagen,
Der Meister packte sie beim Kragen:
Du rennst mein ganz System übern Haufen.
Wenn du so willst in die Irre laufen.
Die Sprache sprach: Mein guter Mann,
Was geht denn dein System mich an?
Du deutest den Weg mir mit der Hand,
Ich richte mich nach der Sonne Stand;
Und wenn die Stern' am Himmel stehn,
So lassen auch die mich nicht irre gehn.
Macht ihr nur keinen Dunst mir vor,
Daß ich sehn kann den ewigen Chor.
Doch daß ich jetzo mich links will schlagen,
Davon kann ich den Grund dir sagen:
Ich war heut' früh rechts ausgewichen,
Und so wird's wieder ausgeglichen.

 Friedrich Rückert

Dienstag, 28. Januar 2014

Marianne Brün ist gestorben


MARIANNE BRÜN

"Nein, die heutigen Verhältnisse können nicht ermutigen. Also muß Ermutigung woanders herkommen, zum Beispiel vom Wollen, vom Begehren her." M.B.

7. Januar 2014. Eine gute Frau ist gestorben. Eine ernsthafte Frau mit einem Kinderlachen und verstehenden Augen. Eine schlaue Frau, die einem nix durchgehen ließ. Wir haben uns nicht oft gesehen, aber ich werde sie vermissen, besonders zur jüdischen Weihnacht.
Gute Reise.

"Ob es einen Gott gibt oder nicht, ist mir bis heute egal. Mich interessieren die Dinge hier auf Erden, mit denen ich mich auseinandersetzen - und die ich vielleicht auch ändern kann." M.B.

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Ein Artikel aus der FAZ vom 2.3.2009

Im Gespräch: Marianne Brün 

Ich hatte neunundfünfzig Adressen 

Die „ungeduldige Gesellschaftskritikerin“ Marianne Brün wohnt heute in Berlin und den Vereinigten Staaten. Mit der F.A.Z. sprach sie über ihr Leben als Tochter Fritz Kortners und in der Emigration. Deutliche Worte findet sie, die sich gegen die Kriege in Vietnam und im Irak engagierte, für den Gaza-Konflikt. 
Die „ungeduldige Gesellschaftskritikerin“ Marianne Brün wohnt in Berlin und den Vereinigten Staaten. Sie hat sich gegen den Krieg in Vietnam wie im Irak engagiert. Hier erzählt sie über ihr Leben als Tochter Fritz Kortners und in der Emigration.
Frau Brün, Sie werden in diesem Jahr achtzig Jahre alt, aber der Computer flößt Ihnen keine Angst ein. Sie pflegen einen regen E-Mail-Verkehr. Macht Ihnen das Spaß? 
Mit bald achtzig bin ja noch nicht senil. Außerdem habe ich meine Kinder in den Vereinigten Staaten, Freunde und Bekannte sind in der ganzen Welt verstreut, wie soll ich da ohne E-Mail auskommen? Mit Briefen geht das bei mir nicht. Deshalb ist es mir in früheren Zeiten nie gelungen, mit Freunden in Verbindung bleiben. Seit meine Eltern im Jahr 1933 erst nach England, dann in die Vereinigten Staaten emigriert sind, habe ich mich überall wohl gefühlt, hatte und habe aber nirgends das Gefühl hinzugehören, zu Hause zu sein. Das ist aber keineswegs unangenehm. So geht es heute ja vielen Menschen. Natürlich gibt es tausend Funktionen, die ich am Computer nicht beherrsche, aber das, was ich brauche, schon: Texte und E-Mails schreiben, Informationen besorgen.
Sie wirken überhaupt so aktiv und munter - wie machen Sie das?
Mit einer sehr guten Ärztin, fünf Pillen und zwei Sprays täglich!
Obwohl Ihr Vater Fritz Kortner ein berühmter Regisseur und Schauspieler, Ihre Mutter Johanna Hofer eine berühmte Schauspielerin war, sagten Sie einmal, dass in Ihrer Kindheit daheim nur wenig über Theater, aber viel über Politik gesprochen wurde. Hat Sie das geprägt?
Ganz bestimmt. Als Immigrant ist man wohl empfindlicher gegenüber jeglicher Unterdrückung. Meinen Vater hat zum Beispiel die Situation der Schwarzen in den Vereinigten Staaten nicht weniger berührt als die der Juden in Deutschland. Unterdrückung ist immer Unterdrückung! Ich war schon als junges Mädchen politisch aktiv, und seit 1968 bin ich Mitglied der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit.
Sie haben nicht nur gegen den Irak-Krieg demonstriert, sondern bereits gegen den in Vietnamkrieg - und Sie haben Wehrdienstverweigerer in den Vereinigten Staaten beraten. Was für Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
Besonders interessant war damals zu beobachten, wie viele Mütter uns wegen dieser Beratungen angegriffen und beschimpft haben: "Sie können sich nicht vorstellen, was meine Nachbarn sagen, wenn mein Sohn nicht nach Vietnam geht!" Das Urteil der Nachbarn war wichtiger als das Leben des eigenen Kindes. Das hat mich zutiefst schockiert. Eine Frau hat mich sogar körperlich angegriffen. Die Väter waren toleranter, da bin ich weder physisch noch verbal attackiert worden. Sie haben meist herumgestanden und so getan, als würden sie nicht zuhören.
Hatten Sie keine Angst, in dieser politisch überreizten Zeit selbst Schwierigkeiten zu bekommen?
Angst nicht: Mir war es sowieso wegen des Vietnam- Krieges nicht geheuer, dass wir nicht weggingen. Es war immer eine Diskussion zwischen meinem Mann und mir: Wann kommt der Moment, in dem man emigrieren muss, auch wenn man nicht selbst betroffen ist?
Ihr Mann, der Komponist, Musiktheoretiker und Kybernetiker Herbert Brün, der im Jahr 2000 verstorben ist, emigrierte 1936 nach Palästina und wurde nach Stationen in Frankreich sowie Deutschland an die University of Illinois berufen.
Er ist aus Israel auch wegen der Art weggegangen, wie sich die Israelis schon damals gegenüber den Palästinensern verhalten haben. Immer wieder wird auf den Holocaust gepocht - und wegen des Holocausts trauen sich viele nicht, Israel zu kritisieren. Als Martin Walser im Jahr 1998 seine Friedenspreis-Reise gehalten hatte, hoffte ich auf eine Normalisierung dieser Debatten in Deutschland - leider habe ich das vergebens gehofft. In den Vereinigten Staaten ist das noch schwieriger. Wenigstens in einem ARD-Kommentar hat sich ein Korrespondent zu sagen getraut, dass Israel derzeit im Begriff ist, aus dem Gazastreifen ein zweites Somalia zu machen.
Ist es denn nicht das erklärte Ziel der Hamas, Israel zu vernichten?
Der Gazastreifen misst knapp vierhundert Quadratkilometer, das ist weniger als das Bundesland Bremen. Darin sind anderthalb Millionen Palästinenser eingesperrt. Es kommen kaum die nötigsten Materialien durch, sie kriegen nicht genug zu essen, haben zu wenig Strom und nicht genug Wasser - klar, dass sie irgendwann gegen ihre Unterdrücker aggressiv werden. Man will seine Unterdrücker natürlich vernichten.
Sind Sie mehr das Kind Ihrer Mutter oder Ihres Vaters?
Ich glaube, ich bin wirklich eine Mischung aus beiden Elternteilen. Meine Mutter Johanna Hofer war vom Wesen her keineswegs so politisch, wie ich es bin. Oder wenigstens nicht so direkt. Sie hat unter bestimmten Sachen auch sehr gelitten, aber sie war nie aktiv. Das kommt bei mir eher von meinem Vater, der immer Stellung bezogen hat. Von meiner Mutter wiederum habe ich gewisse mildere Wege gelernt, um mich zu behaupten, darin war sie viel geschickter als mein Vater. Kortner hat einmal gesagt, er sei ein "tobender Pantoffelheld"! Meine Mutter hat sich immer durchgesetzt, obwohl es nie so aussah.
Sie kamen im Jahr 1948 nach Europa zurück und haben an die zwei Jahre am Berliner Ensemble auch bei Bertolt Brecht assistiert. Wollten Sie Regisseurin werden?
Mir scheint, ich wusste gar nicht genau, was ich wollte. Aber ich entschied mich schon bald gegen den Beruf der Regisseurin - in Deutschland ging es wegen meines berühmten Vaters nicht und in den Vereinigten Staaten wegen des nicht wirklich vorhandenen Theaters. Ich habe danach als Bildmischerin beim Bayerischen Rundfunk gearbeitet, der gerade sein Fernsehprogramm begann.
Gehen Sie denn in Deutschland manchmal ins Theater?
Früher ging ich leidenschaftlich gerne. Seit geraumer Weile aber mache ich das kaum noch, weil mich ganz selten etwas interessiert. Lange Zeit fand ich alles grässlich. Ich hatte das Gefühl, dass die Regisseure keine Liebe zu den Stücken hatten, die sie inszenierten. Und ich konnte nicht verstehen, warum sie es trotzdem taten. Natürlich muss man den Theatertext jedes Mal auf das überprüfen, was heute wichtig ist. Aber man kann sich nicht bloß lustig machen über ein Werk oder sich gegen den Autor wenden. Dann sollte man doch lieber selbst ein Stück schreiben. Ich erinnere mich, dass ich einmal in der Berliner Volksbühne saß und ein Schauspieler auf der Bühne zum dritten oder vierten Mal die Hose herunterließ. Daraufhin muss ich einen solchen Seufzer der Langeweile ausgestoßen haben, dass alle um mich herum zu lachen anfingen.
Tochtersein ist kein Beruf, haben Sie einmal gesagt.
Nein, das interessiert mich nicht. Ich habe meinen Vater ungeheuer geliebt, aber jetzt ist er tot. Für mich war er kein Forschungsobjekt, ich habe kein Buch über ihn geschrieben, ich habe ihn nicht studiert. Die Erinnerungen, die ich an ihn habe, sind wirklich lediglich die einer Tochter. Und die sind äußerst angenehm, weil ich sehr verwöhnt wurde.
Sie haben einmal von sich gesagt, an mindestens neunundfünfzig Adressen in sieben Ländern gelebt zu haben, dreiundzwanzig Schulen besucht, achtzehn bezahlte - darunter von 1971 bis 1988 als Dozentin für Gesellschaftsveränderung an der University of Illinois -, sowie unzählige unbezahlte Stellungen gehabt zu haben. Wie erlernt man so viel Offenheit und Wandlungsfähigkeit?
Wahrscheinlich durch diese vielen Wechsel. Außerdem hatte ich eine ziemlich unkonventionelle Erziehung. Über manche Sachen wurde ich einfach nicht aufgeklärt, zum Beispiel darüber, dass es heute noch Religionen gibt. Ich dachte, das sei ein Überbleibsel aus vergangenen Jahrhunderten.
Im Ernst?
Mit zehn Jahren habe ich meinen Vater erschüttert gefragt: "Wusstest du, dass Leute heute noch an Gott glauben?" Und er antwortete: "Ich weiß es, aber ich kann nichts dafür." Wir haben zwar Weihnachten und Ostern gefeiert, aber völlig ohne Gott. Als ich sehr klein war und nur noch ein paar Worte Deutsch konnte - wir lebten schon in England -, hielt ich Weihnachten für die Nacht, in der man Wein hat. Es war tatsächlich die einzige Nacht, in der ich einen Schluck Wein trinken durfte. Das erklärte die Angelegenheit für mich vollkommen. Ob es einen Gott gibt oder nicht, ist mir bis heute egal. Mich interessieren die Dinge hier auf Erden, mit denen ich mich auseinandersetzen - und die ich vielleicht auch ändern kann.

Die Fragen stellte Irene Bazinger.

"Ich hatte neunundfünfzig Adressen."

UND:
Ein Artikel aus der Welt vom 28.8.2010

"Tochter von Beruf war ich nie."

UND:
Noch ein Artikel

"Ermutigung muß von Begehren kommen."