Sonntag, 2. September 2018

Milo Rau - Die Wiederholung

Die Rekonstruktion eines Mordes, die Wiederholung einer unerklärlichen Untat.

Ein junger, homosexueller Mann wird, soweit wir es wissen können, anlaßlos von drei anderen Männern getötet. Der Ort ist Lüttich, einst Standort einer blühenden Stahlinsustrie, heute, bewohnt von Arbeitslosen. ZAm Abend der Tötung, zwei Geburtstagsfeiern, das Opfer besuchte die eine, die Täter kommen von einer anderen, Alkohol ist im Spiel.

Milo Rau, der Regisseur, hat neulich ein Manifest veröffentlicht, das Genter Manifest (https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=15410:das-genter-manifest-das-neue-leitungsteam-des-ntgent-um-milo-rau-gibt-sich-zehn-radikale-regeln&catid=101:debatte&Itemid=84), so wie Marx und Engels einst ihres oder später dänische Filmemacher das Dogma 95.

Wiki sagt: Ein Manifest (lateinisch manifestus, handgreiflich gemacht‘) ist eine öffentliche Erklärung von Zielen und Absichten, oftmals politischer Natur.

Theater ist Wiederholung, man probiert, diskutiert, wagt, aber dann muß man es an jedem Abend wiederholen, um 20.00 Uhr oder 19.30, mal hier mal da, die Stimmung stimmt oder nicht, egal, das Publikum darf Kunst erwarten für 20, 30 oder mehr Euros, die es bezahlt hat.

Milo Rau ist, scheint mir, größenwahnsinniger Rechthaber und ein suchender Künstler, ein verwöhnter Schweizer und ein penibler Rechercheur zu sein, und manchesmal, für Momente, ein Poet. Er kämpft mit dem Theater, dass er liebt und hasst. Er empört sich über die Stärke alter Texte, denen er nicht entkommt, also verbietet er sie, bzw. er erlaubt nurmehr einen 20 prozentigen Anteil klassischer Texte in seinen Produktionen.

Er ist klug. Er weiß viel über das Theater.

Der stärkste Moment heute Abend, war, für mich, als, nachdem ich viel Videoübertragung des aktuellen Bühnengeschehens gesehen hatte, als das Video plötzlich ein Eigenleben entwickelte, denn der Hund, der von einem Darsteller spazieren geführt wurde, war nur im Video real, auf der Bühne führte er pantomimisch ein unsichtbares Tier an der Leine. Oder als die Laiendarstellerin (Hundetrainerin), die im Bühnen-Interview zweifelte, ob sie sich auf der Bühne ausziehen würde, in der Filmszene nackt war und dann scheu der Video-Vorlage auf der Bühne folgte.

Poesie ist, wenn ein Gabelstaplerfahrer den Gabelstapler elegant fahrend mit einem singenden Schauspieler tanzt, der "The Cold Song" singt.

Ernüchterung ist, wenn versucht wird, einen vier Stunden dauernden, brutalen Mord auf der Bühne naturalistisch nachzuspielen. Das bleibt im harmlosen Bühnenkampf hängen, das kann Film besser, oder auch Theater, wenn es die grauenhaften Vorgänge im Off beläßt.

Gut, dass ich an diesem Abend dauernd denken muß. Schade, dass er, Milo Rau, nicht zugeben kann, wo die alten Texte schlauer sind als er. Er baut großartige Collagen, aber er ist kein kein Dichter. Er ist wunderbar, aber es mangelt ihm an Demut. Vielleicht aber habe ich auch zu viel davon. 


Eindrücke aus dem Theater

Für mich ist das wichtigste in einer Tragödie der sechste Aufzug:
die Auferstehung vom Schlachtfeld der Bühne,
das Zupfen an den Perücken, Gewändern,
das Entfernen des Dolchs aus der Brust,
das Lösen der Schlinge vom Hals,
der muntere Auftritt in einer Reihe
mit dem Gesicht zum Parkett.
Verbeugung, einzeln, gemeinsam:
die weiße Hand auf der Wunde des Herzens,
die Knickse der Selbstmörderin,
das Nicken geköpfter Häupter.

Verbeugungen paarweise:
die Wut Arm in Arm mit der Sanftmut,
das Opfer blickt selig ins Auge des Henkers,
Rebell und Tyrann gehen friedlich nebeneinander.

Der Tritt der Ewigkeit mit der Spitze des goldnen Pantoffels.
Das Fortfegen der Moral mit der Krempe des Hutes.
Die unverbesserliche Bereitschaft, alles zu wiederholen.

Der Einzug im Gänsemarsch der früher Verstorbenen,
im zweiten, im vierten Akt, auch zwischen den Akten.

Die wunderbare Rückkehr der spurlos Verschollnen.
Zu denken, daß sie geduldig hinter Kulissen warteten,
immer noch kostümiert,
ohne sich abzuschminken,
rührt mich stärker als alle Tiraden des Dramas.

Wahrhaft erhaben aber ist das Fallen des Vorhangs
und was man noch durch den unteren Spalt sieht:
da hebt eine Hand die Blume eilig vom Boden,
dort eine andere das liegengelassene Schwert.
Erst dann erfüllt sich die unsichtbare dritte
ihre Verpflichtung:
sie schnürt mir die Kehle.

Wislawa Szymborska

Milo Rau Photo: Thomas Muller

Sooft war ich noch nie in der Schaubühne. Alles außer Ostermeier, seine Arbeiten lösen bei mir Respekt aus und Kühlschrankkälte. Warum? Ich weiß nicht so recht. Die Seelenprobleme der bürgerlichen Mitte sind nicht mein Thema? Dabei bin ich selbst irgendwie ein Teil davon. Ibsen nee, Strindberg immer, Tschechow ja. Ich will die Volksbühne wiederhaben! Wiederholung. Unmöglich, aber ersehnt.

1 Kommentar:

  1. Tim Garde schrieb:
    Wislawa Szymborska ... Das Zitat ist toll - so geht's mir bestenfalls auch, wenn sich am Ende zusätzlich zum Stück erzählt: wir spielen, (die Toten) leben (wieder), wir können alles & nichts, und ihr Zuschauer auch. Ach ist das schön! HOFFNUNG!

    Das ist sogar fast das Schönste & Wichtigste (wenn's vorher auch schön & wichtig war; wenn nicht, ist es nur das Wieder-Wach-Räkeln-ins-Alltags-Leben ... nach einem beliebigen Traum im Schlaf in (meist) recht unbequemem Stuhle ...) Jetzt lese ich mal Milo Raus's Manifest ...

    Huch. Warum hab ich das (im Mai?) nicht gelesen. Ich LIIIIEEEBE es ja, wenn Menschen sich selbst Regeln (Hindernisse oft!) aufstellen, um bitte WACH zu bleiben, KREATIV sein zu MÜSSEN und wirklich die Welt machen wollen, "wiedewiedewiede sie ihnenen gefällt": die eigene kleine und damit vielleicht a bissl die ganze große. (Muss ja nicht gleich Marx sein). Und (ja, vielleicht hat er auch Angst vor der Wucht der Klassiker, die dann mehr ihn beherrschen als er sie) ich kann auch die 20 % -Klassik-Text-Anteil-Leitlinie erstmal fein finden: ERSTMAL (kann man ja später noch ändern) schauen was sich aktuell ergibt aus der Recherche hier&jetzt (und dann noch in Verbindung mit der Leitlinie: Laien (die ich seltsam finde), und mit Spielern aus anderen Kulturen ... Die DOGMA-Jungs ham selbst gesagt: Sie wollten vorallem sich (und andere) provozieren und die SCHRIFTLICHE Bestätigung geben: "Film" darf man auch nennen, was ohne großen, teure Apparat entsteht, um endlich guten Gewissens LOSZULEGEN, ohne sich dauernd vor sich selbst verteidigen/rechtfertigen/trösten zu müssen. Danke für den Link - ich hab's gern gelesen und kriege direkt Lust, für den Dreh mit den hannoveran'schen Schauspielstudenten Richtlinien hinzutippen, die dann immer in&über allem Schweben dürfen (und einen auch manchmal harsch gemahnen!). I like (für BEGRENZTE Zeit und KONKRETEN Ort). Grüüüße!

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