Ein englisches Sonett (a-b-a-b / c-d-c-d / e-f-e-f / g-g), 1609 erstmals zusammen mit 153 anderen Sonetten und dem Gedicht "A lover's complaint" (Die Klage/Beschwerde des Liebenden) wahrscheinlich als Raubdruck erschienen. Das Buch ist Master W. H. gewidmet, die Sonette 1 bis 126 sind an einen schönen jungen Mann (fair boy) gerichtet, 127 bis 154 an eine dunkle Dame (dark lady).
W.H. Auden schrieb: „Über kein literarisches Werk ist mehr Unsinn geschrieben worden“ und er mag Recht haben, und dann liest man und spürt, dass ein Mann aus der englischen Provinz, im von Hunger und Pest geplagten London um 1600 vorformuliert hat, was beinah ein jeder von uns manchmal denkt und nicht in Worte fassen kann und man meint, er würde einen kennen. Das ist Poesie!
Von Nummer 66 gibt es circa 180 deutsche Übersetzungen und auch eine ins Klingonische für Trekkies.
Das Original:
Tyr'd with all these for restfull death I cry,
As to behold desert a begger borne,
And needie Nothing trimd in iollitie,
And purest faith vnhappily forsworne,
And gilded honor shamefully misplast,
And maiden vertue rudely strumpeted,
And right perfection wrongfully disgrac'd,
And strength by limping sway disabled,
And arte made tung-tide by authoritie,
And Folly (Doctor-like) controuling skill,
And simple-Truth miscalde Simplicitie,
And captiue-good attending Captaine ill.
Tyr'd with all these, from these would I be gone,
Saue that to dye, I leaue my loue alone.
Die Fassung in modernem Englisch:
Tired with all these, for restful death I cry,
As, to behold desert a beggar born,
And needy nothing trimm'd in jollity,
And purest faith unhappily forsworn,
And guilded honour shamefully misplaced,
And maiden virtue rudely strumpeted,
And right perfection wrongfully disgraced,
And strength by limping sway disabled,
And art made tongue-tied by authority,
And folly doctor-like controlling skill,
And simple truth miscall'd simplicity,
And captive good attending captain ill:
Tired with all these, from these would I be gone,
Save that, to die, I leave my love alone.
Wolf Biermanns Übersetzung:
Müd müd von all dem schrei ich nach dem Schlaf im Tod
Weil ich ja seh: Verdienst geht betteln hier im Staat
Seh Nichtigkeit getrimmt auf Frohsinn in der Not
Und reinster Glaube landet elend im Verrat
Und Ehre ist ein goldnes Wort, das nichts mehr gilt
Und einer Jungfrau Tugend wird verkauft wie’n Schwein
Und weil Vollkommenheit man einen Krüppel schilt
Und weil die Kraft dahinkriecht auf dem Humpelbein
Gelehrte Narrn bestimmen, was als Weisheit gilt
Und Kunst seh ich geknebelt von der Obrigkeit
Und simple Wahrheit, die man simpel Einfalt schilt
Und Güte, die in Ketten unterm Stiefel schreit
Von all dem müde, wär ich lieber tot, ließ ich
In dieser Welt dabei mein Liebchen nicht im Stich
Und die von Gustav Landauer:
Dies alles müd schrei’ ich nach Todesrast
Verdienst zu sehn als Bettelmann geboren,
Und dürftiges Nichts in Herrlichkeit gefasst,
Und reinste Treu’ zum Jammer auserkoren,
Und goldne Ehre, die den Falschen krönt,
Und jungfräuliche Tugend roh geschändet,
Und echte Hoheit ungerecht verpönt,
Und Kraft von lahmer Tyrannei entwendet,
Und Kunst geknebelt von der Obrigkeit,
Und Geist vorm Doktor Narrheit ohne Recht,
Und dumm befunden schlichte Redlichkeit,
Und Sklave Gut im Dienst beim Herren Schlecht:
Dies alles müd möcht’ ich begraben sein,
Ließ ich nicht sterbend, Liebster, dich allein.
Von Dorothea Tieck:
Satt alles dies, ruf’ ich des Todes Nacht –
Als: das Verdienst als Bettler sehn geboren,
Und ärmstes Nichts geschmückt in Glanz und Pracht.
Und reinste Treue unglücklich verschworen.
Vergold’te Ehre schandbar missgestellt,
Und jungfräuliche Tugend rau geschändet,
Und das Vollendete gekränkt, entstellt,
Und Kraft durch hinkenden Befehl entwendet.
Und Kunst verstummt vor Eitelkeit und Neid,
Torheit, die altklug, weist den Witz zurecht,
Einfält’ge Treu, geschimpft Einfältigkeit,
Gut, kriegsgefangen, dienen Kriegsherr’n schlecht.
Satt alles dies, möcht ich von hinnen scheiden,
Nur dass ich, sterbend, muss den Liebsten meiden.
Und Stefan George:
Dies alles müd ruf ich nach Todes Rast:
Seh ich Verdienst als Bettelmann geborn
Und dürftiges Nichts in Herrlichkeit gefasst
Und reinsten Glauben unheilvoll verschworn
Und goldne Ehre schändlich missverwandt
Und jungfräuliche Tugend roh geschwächt
Und das Vollkommne ungerecht verbannt
Und Kraft durch lahme Lenkung abgeflächt
Und Kunst schwer-zungig vor der Obrigkeit
Und Geist vorm Doktor Narrheit ohne Recht
Und Einfachheit missnannt Einfältigkeit
Und Sklave Gut in Dienst beim Herren Schlecht.
Dies alles müd möcht ich gegangen sein,
Ließ ich nicht, sterbend, meine Lieb allein.
Francisco de Goya y Lucientes: Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid. 1814 |
Oscar Wilde hat einen Kurzroman "The Portrait of Mr. W. H." verfasst.
das sechsundsechzigste sonett von shakespeare
AntwortenLöschenihr kotzt mich an, ich würd jetzt gerne gehn.
daß sie mein staunen immer noch bescheiden nennen
und hinter lachen nicht die armut sehn
und freien mut nicht, nur noch lüge kennen
und schamlos ihr geschwätztes konserviern
und liebstes nur zum zoten finden
und über unrecht, uns und unglück nicht mehr friern
und über jede art uns einzubinden
und die verfolgten dieser zeit bei tische mit verbieten
und herren sind und schrecklich unentzweit
daß alle aufrechten aus ihrer welt gerieten
und so gefahr mir droht: gewöhnung ist nicht weit.
und wie gesagt: ihr kotzt mich an;
doch mir zum gehn fehlt dieser dort
schweigende und redende und mir so liebe mann.
1979. erstveröffentlicht in LEGENDE, ddp goldenbogen, dresden 1999
Kommentar zum Kommentar: ronald m. schernikau
AntwortenLöschen