Donnerstag, 19. Juli 2018

Im Varieté - FINALE im Chamäleon

In den Hackeschen Höfen gibt es ein Theater, ein Varieté, einen Ort für zirzensische Kunst moderner Art, das Chamäleon. Da war ich heute zum ersten Mal und nun fühle ich mich beschwingt. 
Der Direktor begrüßt persönlich, man wird zum Platz geleitet und zwischendurch gefragt, ob man sich wohlfühlt. Man kann trinken & essen, natürlich nicht rauchen, aber es wirkt so, als könnte man.  
Es wird ja sowieso viel genebelt, geruchlos.
Ein Gong erklingt dreimal, die Show beginnt.
Acht Menschen verbringen mit Dir einen Abend und zeigen Dir, scheinbar nebenbei, was sie für erstaunliche Dinge können. Zum Beispiel mit drei, dann vier, fünf, schließlich sieben jonglierten Bällen auf einem Brett im Dialog mit einem Schlagzeug Musik machen; in einem Cyr Rad, tja, den Namen habe ich nachgeschlagen, es ist ein Reifen mit dem sich der Artist dreht, in so einem Rad elegant und lässig herumzuwirbeln und zu schwingen, als Mann einem Pole zu tanzen, cool und gefährlich. Senkrecht laufen wird plötzlich so einfach wie waagerecht.
Übrigens werden hier sieben Shows in der Woche über viele Monate gestemmt, Hochleistungarbeit.   
Wenn jemand etwas wirklich gut kann und es mir mit Konzentration, Leichtigkeit und Lust zeigt, steigen mir Tränen in die Augen vor Bewunderung und Glück. Egal was es sein mag.
Einmal hat ein Kellner ein Huhn aufs Feinste mit zwei mühelosen Schnitten tranchiert. Oder wenn Sylvie Guillem tanzt, oder mein HNO-Arzt eine Untersuchung mit leichter Hand, klugem Blick und blöden Witzen zum erträglichen Ereignis macht, oder die Lieblingsnichte sinnenfreudig und geruchsgeleitet eine Speise würzt, oder eben heute Abend ein junger Mann in einem Reifen aus gebogenem Stahl die Gravitation zum Tanzen bringt.


Das Cyr Rad
© Chamäleon Theater

Dienstag, 17. Juli 2018

ASIA DELI IM WEDDING

Ein Gang aus der gentrifizierten Mitte ins reichlich gemischte und deutlich ärmere Berlin. Wenn man die Friedrichstrasse hinunter bis zur Chausseestrasse läuft, dann weiter auf der Müllerstrasse, den Dorotheenstädtischen Friedhof passiert, schnell das betonstrotzende BND-Areal hinter sich läßt, bei Bayer vorbeischlendert, immer tiefer in den Wedding hinein   und schließlich links in die Seestrasse einbiegt, findet man nach zwanzig Metern neben einem Chinarestaurant einen kleinen chinesischen Schnellimbiß mit ungewöhnlich hohem Anteil von chinesischen Gästen. Das "Ambiente" ist, gelinde gesagt, nicht ansprechend.
Hier serviert man Hunanküche und aber auch Fischstäbchen mit Pommes. 
Haltet euch bitte an die rot gebundene Karte von originalen Hunan-Speisen inclusive reizender Druckfehler. Das Fleisch ist nicht zäh, die Sauce schmeckt und Schweinebeine sind auch im Angebot.
Achtung: viele Gäste, die europäisch aussehen, bekommen die langweilige Standardkarte, alle anderen die chinesische Karte, die rote enthält die guten Gerichte, die schwarze ist für Liebhaber von germano-chinesischem Pamps und Fischstäbchen. Wir haben die gute Karte bekommen, warum auch immer.



Pak Choi, krosses Hühnchen und die besten Auberginen, die ich je gegessen habe. (Einzige Ausnahme sind die gebratenen meines Schwagers.) Nächstes Mal werde ich den Schweinebauch - Maos Fünfstreifenfleisch oder die Rindernieren, die scharfen Garnelen oder das Rindfleisch im Topf versuchen.
Wer scharfes Essen nicht mag, sollte vorsichtig sein. Wer Knoblauch nicht mag, sollte wegbleiben.

Sonntag, 15. Juli 2018

A wisdom of wombats & a kaleidoscope of butterflies

Das Englische ist ein wild zusammengesetzter Flickenteppich mit nordischen Mustern, sächsischen Motiven und, als alles durchwirkendem Faden, dem Anglo-Normannischen, einem Dialekt des Alt-Französischen. 1066 hatte Wilhelm der Eroberer und sein Heer in der Schlacht von Hastings die angelsächsischen Verteidiger besiegt und danach war Französisch für lange Zeit die Sprache der Herrschenden. 

Im Spätmittlelalter war die Jagd für den Adel eine Hauptbeschäftigung und das Französische bestimmte demnach auch die Jagdsprache. Zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert wuchs das "jägerische" Vokabular, die genaue Bezeichnungen von Tieren, Tierkörperteilen, Tierausscheidungen, und neue Bezeichnungen wurden kunstvoll erfunden, auch Kollektiva, Sammelbegriffe für Gruppen von Tieren. Im Deutschen gibt es das, wenn auch weit seltener auch: Rudel, Schwarm, Herde, Schoof (für Gänse), Schar, Kolonie, Schule - sind immer nur für bestimmte Tiere verwendbar, eine Hühnerherde klingt falsch, ein Rudel Lämmer auch.
Im Englischen nennt man das"terms of venery" von venerie in Mittel Englisch and Mittel Französisch, und vom Lateinischen vēnor, jagen. Das 1486 erschienene Book of St. Albans, “a compilation of matters relating to the interests of the time of a gentleman." - "eine Kompilation von Dingen, die einen Edelmann seiner Zeit interessieren", enthält schon eine lange Liste solcher Kollektiva, einige poetisch, einge gut beobachtet, andere witzig. Diese Spezialstrecke der englischen Sprache entwickelt sich bis heute noch weiter. 

Ich liebe das, nicht logisch, nicht nötig, aber wunderbar.

BEISPIELE :

Eine Gruppe von Kakerlaken nennt man "an intrusion of cockroaches", einen Einbruch von Kakerlaken oder eine Invasion.

an unkindness of ravens - eine Unfreundlichkeit von Raben
a business of ferrets - ein Geschäft von Frettchen
a murder of crows - ein Mord von Krähen
a shrewdness of apes - eine Gerissenheit von Affen
a convocation of eagles - eine Versammlung von Adlern
a stubborness of rhinoceroses - eine Sturheit von Nashörnern



a cloud of gnats - eine Wolke von Stechmücken
a congress of salamanders - ein Kongress von Salamander
an army of frogs & grasshoppers - eine Armee von Fröschen und Grashüpfer
a richness of martens - ein Reichtum von Marden
an exultation of larks - ein Jubel von Lerchen

a parliament of owls - ein Parlament von Eulen
a pandemoniumof parrots - ein Tumult von Papageien
a convent of penguins - ein Kloster von Pinguinen
a mischief of rats - ein Unheil von Ratten

Und auch für Menschen gibt es solche zusammenfassenden Begiffe:
a gaggle of women - eine (schnatternde) Schar Frauen
a multiplying of husbands - eine Vermehrung von Ehemännern
a worship of writers - eine Anbetung von Schriftstellern
an impatience of wives - eine Ungeduld von Frauen

Donnerstag, 12. Juli 2018

FLEISCH im Alten Museum

Ich liebe Fleisch. Rindersteak möglichst blutig. Die Kuh muß nur langsam durch einen warmen Raum laufen. 
Aber ich liebe auch Schabefleisch, Leberwurst, Speck, Leber, Bierschinken, Blutwurst, Schweinebraten, Lammnierchen, Rouladen, Salami, Schnitzel. Ein kläglicher Versuch mich zum Vegetarier umzuformen, endete wegen purer Fleischeslust nach nur zwei Wochen. Meine Schwäche, meine Schande. Ich versuche, um mein Gewissen zu beruhigen, nur ökologisch abgesegnetes Fleisch zu kaufen. Aber mein Körper verlangt nach dem Verzehr von Fleisch.
Mein Körper ist (zu Teilen) auch Fleisch, er isst es und ist es. 

Das Alte Museum, das eigentlich das Neue ist, hat einen Raum einer kleinen, etwas zufälligen und dennoch feinen Sammlung zum Thema Fleisch gewidmet.


 
Priaposstatuette mit hahnartigem Kopf
Tintinabulum / Kopie

Jeder hat seine Last zu tragen.

Büste eines toten Mannes
Johann Christoph Ludwig Lücke
1732

Opfer für Konfuzius im Frühjahr & Herbst
China 1929-34

Fröhlich vom Fleisch zu essen, das saftige Lendenstück
Und mit dem Roggenbrot, dem ausgebackenen, duftenden
Den Käse vom großen Laib und aus dem Krug
Das kalte Bier zu trinken, das wird
Niedrig gescholten, aber ich meine, in die Grube gelegt werden
Ohne einen Mundvoll guten Fleisches genossen zu haben
Ist unmenschlich, und das sage ich, der ich
Ein schlechter Esser bin.
b.b.

Dienstag, 10. Juli 2018

Ein Text über das Sterben

https://www.perlentaucher.de/essay/aufruhr-im-zwischenreich-teil-1.html

Ein anstrengender Text, aber er er ist aufwühlend und anregend genug, um die Lesezeit zu lohnen.
Wir alle werden ohne Ausnahme sterben und niemand von uns weiß wann. 
Aber sollten wir nicht über das "Wie" selbst bestimmen können? Wer definiert Leben, lebenswertes Leben? Gehört unser Sterben uns oder ist es ein durch den Staat zu entscheidendes Problem?
Ich möchte sterben können, wann ich es will. Solange ich noch einen Willen äußern kann. 
Macht eine Patientenverfügung! Man stirbt manchmal früher als man denkt!

 
"Wie soll das Einmalige, Persönliche, Nichtübertragbare und nur sehr begrenzt Kommunizierbare des individuellen Sterbens - etwas das es per definitionem nicht im Plural geben kann - von Parlamentariern stellvertretend diskutiert, normiert und per Gesetzeskraft einer ganzen Bevölkerung als Verhaltensmaßregel verordnet werden?"

"Darauf zu bestehen, dass ein Mensch auf eine Art und Weise stirbt, die nach Meinung anderer richtig ist, für ihn selbst jedoch in einem gravierenden Widerspruch zu seinem Leben steht, ist eine Form menschenverachtender Tyrannei."

"Gäbe es eine Gemeinschaft der Sterbenden, ein Sterbevolk oder eine Sterbepartei, die das Unmögliche, das Gemeinsame am Willen aller Sterbenden artikulieren, im Namen eines "Wir" aussprechen könnte, dann lautete ihre Botschaft an Parlament, Regierung, Ärztekammer und Kirchenverbände ganz klar: Wir wollen nicht, dass ihr euch einmischt! Und programmatischer: Wir wollen, dass ihr euch nicht mehr einmischt und vergangene, verfassungswidrige Reglementierungen wieder rückgängig macht. Hört auf, euch die Autorschaft für das letzte Kapitel unseres Lebens anzumaßen! Das ist weit schlimmer als Plagiat, das ist Persönlichkeitsenteignung! Hört endlich auf, Sterbewillige zu entmündigen und ihnen die nötigen Medikamente für ein sanftes Entschwinden zum selbst gewählten Zeitpunkt vorzuenthalten! Das ist staatlich verordnete Folter! Hört auf, den hirntoten christlich-obrigkeitsstaatlichen Paternalismus künstlich zu beatmen! Niemand hat euch beauftragt, uns unsere grundgesetzlich garantierten Rechte vorzuenthalten! In unserem Namen sprecht ihr nicht!"


Ocean's 8

Gerade telefonierte vor mir laufend ein Mann intensiv mit seiner Colaflasche. Was wird sie ihm antworten?

Ocean's 8, die Weiberversion von Ocean's 11, funktioniert leider gar nicht. 
Die interne Dynamik der simpel und schematisch aufgebauten Gruppe von Spezialisten ist auf nichts gegründet als verbaler Behauptung, der Coup gerade mittelspannend und es gibt keinen interessanten gefährlichen Gegner. Es plätschert. Schade. Ganz abgesehen davon, dass Sandra Bullock's Gesicht eine Überdosis Botox intus hat und Cate Blanchett leider eine nur um Weniges kleinere Dosis. Starre Mimik in der nur noch die Augen leben. Hier und da macht sich ein Klümpchen der Füllmasse selbsständig und bildet kleine Wellen oder Hügel. Brauen werden hochgezogen ohne irgendeine Reaktion auf der Stirn hervorzurufen. Oder, wie bei der von mir sehr verehrten Cate Blanchett, muß ein überlanger Pony das glattgespritzte Gesichtsteil abdecken.
Wenn man bei Ocean's 11 den täuschend glaubwürdigen Eindruck haben konnte, ein Gruppe Trinkkumpanen hätten sich getroffen, um Spaß zu haben und nebenbei einen guten Film zu drehen, herrschte hier Anstrengung, Make-up und Gestaltungszwang. Der Jugend-, Schöhnheitwahn für Darstellerinnen ist offensichtlich so erdrückend , dass diese tollen Frauen lieber ihre Mimik verlieren, als ein paar Falten zu riskieren. Clooney und Pitt dürfen ergrauen und verknittern, ihre spielerisch durchaus ebenbürtigen weiblichen Gegenparts nicht. 
Hat mich zutiefst erschreckt. 
Sehr gute Spielerinnen, die ihr intimstes Handwerkszeug, ihre Gesichtsmuskeln, Vermittler jeder Regung, vergiften, aus Angst vor dem professionellen Schrotthaufen.
Die Nebenrollen, weniger Druck ausgesetzt, sind großartig.
Ocean's 11 war die filmische Hommage an die Coolness. Cool ist, wenn Gary Cooper in "Zwölf Uhr mittags" durch die Stadt voller Feiglinge schreitet, wenn James Bond, im Angesicht der Gefahr, seinen Martini immer noch geschüttelt und ncht gerührt verlangt.

Was macht Coolness aus?
Wenn jemand etwas unerwartet Nettes tut, ist das 'cool'.
Wenn ich mit etwas einverstanden bin, I am cool with it.
Loosing your 'cool', heißt, dass Du die Beherrschung verlierst. Also: "stay cool. boy!", wie sie in West Side Story singen oder play it 'cool!'. 'Cool' it!

Boy, boy, crazy boy
Get cool, boy!
Got a rocket, in your pocket
Keep coolly cool, boy!
Don’t get hot


https://www.youtube.com/watch?v=wugWGhItaQA 
Immer noch eine der geilsten, coolsten Tanzszenen aller Zeiten. Hoch lebe Jerome Robbins, der Mentor von Bob Fosse.

Unangestrengter Charme wirkt cool.
Was macht Coolness aus?
Castorf macht gerade Skandal, weil er, im sicheren Wissen, um seine Funktion als alter Sack und genialer Narr, fiese Äußerungen über Frauenfußball und Theater, dass von Frauen inszeniert wird, rausgehauen hat. Kränkt mich das? Nein. Warum? Weil er Recht hat. Über Fußball kann ich mich, mangels Kenntnis und Interesse nicht äußern, aber über Frauen im Theater schon. Wir sind selten cool. Schreit ein Kerl, ist er wild, intensiv, ergebnisorientiert. Schreien wir, sind wir hysterisch. Coolness bedarf eines Gefühls der Sicherheit und das wird uns selten gewährt. 
2018 und immer noch habe ich das Gefühl, von mir wird mehr Empathie und mehr Nachgiebigkeit erwartet. Meine Intensität ist nicht sexy. Warum nicht? Also mildere ich sie ab. Weil ich gemocht werden will. Mein Schwachpunkt. Oder meine Stärke?

Samstag, 7. Juli 2018

Endstation Sehnsucht im Berliner Ensemble

Vor 10 Jahren wanderte ich Eindrücke saufend und schwitzend in heftigster Hitze durch New Orleans und begenete einer Strassenbahn, deren Name war "Desire". So profan und poetisch meint es der originale Titel "A Streetcar Named Desire" von Tennessee Williams. Und ich glaube, dass ein Grund für die Schwierigkeiten dieses Stück von Williams in Deutschland zu inszenieren, in der Gewichtigung des Titels liegt. Endstation. Wir lesen das Stück von seinem Ende her. Und es fehlt uns auch das ganz körperliche Erleben von großer Hitze in feuchtschwerer Luft und dem noch immer andauernden Kampf der Südstaaten gegen ihren Beitritt zur Neuzeit. Fiebrigkeit & Depression in Folge von Klima und dem Unwillen die scheinbar große Vergangenheit loszulassen.

Blanche, Stella und Stanley Kowalski sind Bewohner unseres filmgefütterten Bewußtseins, Marlon im Unterhemd, wurde heute Abend durch einen kurzen Hemdverlust zu Beginn abgearbeitet. Cordelia Wege aka Blanche, die ich zuletzt vor 20 Jahren in meinem Leipziger Debut mit Frühlingserwachen habe spielen sehen, ist eine sensationell gute Schauspielerin geworden. Schön, intelligent, humorvoll und selbst, wenn Thalheimer sie in sene neuerdings bevorzugten psychopathologischen Hysterien jagt, bleibt sie "Frau" der Lage. Sina Martens, Andreas Döhler, Kathrin Wehlisch, Henning Vogt allesamt sehr interessant anzuschauen. 
 



Kluger und reifender Grundgedanke, dass eine untergehende, dekadente Klasse ihre Verachtung der nachfolgenden herausschreit, hier die der Proleten, verkörpert durch Kowalski und seine Pokerfeunde, und sie damit provoziert, sich genauso brutal zu verhalten, wie es ihnen unterstellt wird.

Aber wieder ein massives Olaf Altmann Bühnenbild, das allen seine Architektur aufzwingt. Ein schräg in eine rostige Metallwand eingelassener Raum mit sicher 15prozentiger Schräge, die Frauen tragen auch noch Absatzschuhe. Wieder Daueruntermalung mit Klängen. Wieder harte statische Arrangements. Wieder keine Punkt, der mich erwischt.

Freitag, 6. Juli 2018

Das Letzte Mahl - Oy vey ist mir!

Im Rahmen des Jüdischen Filmfstivals habe ich heute in der Kulturbrauerei einen deutschen Film gesehen. Einen Film mit besten Absichten, mit großer Ernsthaftigkeit recherchiert, geschrieben und inszeniert.


Der Regisseur Florian Frerichs und der Historiker Stephan Warnatsch wollen, anhand eines Abendessens der letztmals vollständig versammelten Berliner Familie Glickstein am Abend des 30. Januar 1930, ausdrücklich Parallelen zur heutigen politischen Situation in Deutschland ziehen. Das haben sie selbst vor Beginn so formuliert. Herr Warmatsch erwähnte auch, wir würden anschließend im Q & A darüber reden. Jetzt wo ich durch Google weiß, dass er mal Geschichtslehrer war, weiß ich auch, warum ich das Gefühl hatte, mir würde eine Prüfung angedroht. 

Der 30. Januar 1933, Hindenburg ernennt Adolf Hitler zum Reichskanzler und die Familie Glickstein zelebriert ein Abendmahl, der Vater, ein Fabrikant in finanziellen Nöten, versucht die drohende Gefahr herunterzuspielen, der Sohn verehrt Hitler und dessen Ideen glühend, die Tochter will nach Palästina auswandern, die Nichte ist Kommunistin, der Onkel Rabbiner, die Großeltern weise und die Mutter in Sorge um alle, ein Querschnitt. Niemand hat mehr als ein Problem, mehr als eine Farbe, niemand ist sowohl als auch, ambivalent oder gar widersprüchlich.

Und mir bleibt keine Chance irgendetwas mißzuverstehen, weil alles, aber auch alles ausformuliert wird. Jeder sagt was er denkt und warum, und was es politisch und historisch bedeutet. Zwei Leute stehen vor der Haustür und rauchen, ein dritter tritt hinzu und sie erklären ihm, dass sie vor der Tür stehen, um zu rauchen. Mußten damals auch schon alle raus zum Rauchen? Bei jeder Erwähnung von Palästina, sagt einer "Eretz Israel!", ein anderer "Das Land unsrer Väter!". Man erzählt sich jüdische Witze, aber leider ohne Timing . Immer wieder ertönt Mischpoche wie ein Fremdwort im Dialog, bei uns hieß das Mischpoke. Die Machtverhältnisse zwischen Hindenburg, Papen, Schleicher und Hitler werden mehr als einmal genauestens erklärt, wohl damit ich in der Prüfung später alle Fragen richtig beantworten kann. Ein weiterer Knackpunkt, für mich, die ich mit jüdischer Mutter und Großmutter aufgewachsen bin, ist das Essen, Zentrum eines jeden Familientreffens, hier wird es lieblos und ungenau behandelt und nicht wirklich gegessen. Was soll denn das? 

Es wird so unendlich viel geredet in diesem Film, aber wenn unter den Worten, zwischen ihnen nichts zu Verbergendes liegt, kein Geheimnis, kein Abgrund, dann verwandeln sie sich in Stroh und Staub. Und wenn manche Spieler nicht über mehr als zwei Gesichtsausdrücke verfügen, ist das auch nicht hilfreich. 

Ich sehe vor meinem inneren deutsch-jüdischen Auge Preisverleihungen aus nicht guten Gründen und Schüler, die von Langeweile gepeinigt 120 Minuten von besten Absichten über sich ergehen lassen müssen. Oy vey ist mir!

Mein liebster & kürzester jüdischer Witz stammt immer noch von Woody Allen: "Immer wenn ich Wagner höre, habe ich das Gefühl, ich muß in Polen einmarschieren."

Ein paar Tipps für gute Filme über jüdische Themen: 
Der große Diktator 1940
Hester Street 1975
A Stranger Among Us 1995
The Believer 2001 (mit dem ganz jungen Ryan Gosling)
Waltz with Bashir 2008

Übrigens ist Claude Lanzmann der Sammler von unerzählbaren Geschichten, der Zuhörer, der Ordner, der Rufer in der Wüste, der Regisseur von "Shoa" gestern im gesegneten Alter von 92 gestorben. Möge er in Frieden ruhen.

Donnerstag, 5. Juli 2018

Lingua Tertii Imperii / Neusprech /

Dieses Buch hat meine unüberprüfte Sprachgewißheit, vielleicht 15-jährig, tief erschüttert. Seitdem achte ich, wenn ich mehr als achtlos schnattere, auf meine Wörter, meine Worte. 
Diese Prägung war, was mich betraf, allerdings nicht im Dritten Reich verwurzelt, dafür hat mein Vater, der einst Pimpf war und dann nach 45 ernsthaft und gründlich, wie es seine Art war, dieses gräßliche Gehirngift bei sich untersuchte und versuchte auszumerzen, gesorgt, sondern die selbstgewiß blabbernde Diktatur der DDR. Staatlich organisiertes Neusprech sozusagen, gedächtnisschwache, verkrüppelte Ideale in inniger Bindung zu akuter Machtbesessenheit, vermurksten die Sprache meines Geburtslandes bis zur völligen Unverständlichkeit. Tsche Mkratsche Rplik - so klang der Name meines Landes aus Honeckers Mund. "Wir brauchen keine Brille um unseren Weg zu finden" schien mir, schwer kurzsichtig, ein besonders idiotischer Liedtitel auf einer Demonstration zur Feier des Ersten Mais. Kurz nach dem Fall der Mauer stotterte ein SED-Genosse. der daraufhin in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde, "Hu Genossen ra, es lebe der Sozimus!".


Wiki sagt: LTI – Notizbuch eines Philologen ist ein 1947 erschienenes Werk von Victor Klemperer, das sich mit der Lingua Tertii Imperii befasst, der Sprache des Dritten Reiches. 

"Eine Schicksalsgemeinschaft bewährt sich, wenn sie herausgefordert wird." meint Alexander Dobrindt, auch Angela Merkel verwendet im gleichen Zusammenhang dieses Wort "Schicksalsgemeinschaft" - was ist das für eine Wortwahl? Schicksalsgemeinschaft: (sagt Wiki) ist eine "Gemeinschaft von Menschen, die das gleiche schwere Schicksal verbindet. Beispiele hierfür sind Schiffbrüchige, Geiseln oder in einem Bergwerk eingeschlossene Personen", hä? 2018 sind bereits mehr als 1000 Menschen im Mittelmeer, bei dem Versuch aus ihrer Heimat zu fliehen, ertrunken. "Der CDU-Politiker Volker Kauder forderte kurz nach dem Berliner „Integrationsgipfel“ der deutschen Bundesregierung im Juli 2006 von Einwanderern in Deutschland: „Wer Deutscher werden will, muss sich auch zur deutschen Schicksalsgemeinschaft und damit zur deutschen Geschichte bekennen." Hä? Hä? Hä? What the fuck!!!!!! Oder "Du Brunzkachl, du ogsoachte. Du g'hörst ja mit der Scheißbürscht’n nausghaut!"
Schon der Gebrauch des Schicksalsbegriffes scheint mir verwerflich. Schicksal ist, wieder nach Wikis Aussage: "von einer höheren Macht über jemanden Verhängtes, was sich menschlicher Berechnung und menschlichem Einfluss entzieht und das Leben des einzelnen Menschen entscheidend bestimmt." Wir, als Staat, sind also völlig hilflos höheren nicht begreifbaren Einflüssen ausgesetzt? 

"Die Sprache des Dritten Reiches scheint in manchen charakteristischen Ausdrücken überleben zu sollen; sie haben sich so tief eingefressen, dass sie ein dauernder Besitz der deutschen Sprache zu werden scheinen." V.K.

 EIN ERSATZTEIL-LAGER


Die Fiktion einer Nichteinreise

In der entsprechenden Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz heißt es: „Der Ausländer hat eine Grenzübergangsstelle erst dann passiert, wenn er die Kontrollstationen der Grenzpolizei und des Zolls, soweit an den EU-Außengrenzen vorhanden, hinter sich gelassen hat und sich frei in Richtung Inland bewegen kann.“ Kommt er in ein Transitzentrum, ist die Person im juristischen Sinne nicht eingereist, auch wenn sie körperlich die Kontrollstationen passiert hat. faz

Die Fiktion der Nichteinreise: Jemand ist da aber nicht da. Er bzw. Sie verwandelt sich, durch die Anwendung von Gesetzen, in ein Phantom. Menschen, die, unter für mich nicht nachvollziehbaren Gefahren, versuchen, in unser Land zu gelangen, eine unübersichtliche Melange von Verzweifelten, akut lebensgefährdeten Asylsuchern, Hoffnungsvollen auf ein besseres Leben und einigen, nicht wenigen, dubiosen Figuren. Jetzt werden sie zu Phantomen. Es gibt sie, aber es gibt sie von nun an auch nicht. Sie werden in Transitzentren aufbewahrt, um dann irgendwohin zurückgeschickt zu werden, in andere Lager anderswo. Ups. Lager, ein geradezu unbenutzbares Wort. "Jedem das Seine". Nein. Das meinen wir nicht. Wir werden sie nicht töten, nur aufbewahren, um sie abzuschieben. Ich habe keinen Lösungsvorschlag, aber eine große Menge an Befürchtungen. Was macht das mit uns? Wie verändert es uns, dass wir Andere wegschicken ins Ungewisse?

Sonntag, 1. Juli 2018

Dürer / Teschke / Melancholie

MELENCOLIA 1542

Inmitten der Trümmer Auf der Schwelle zum Goldenen Zeitalter
Inmitten der Instrumente Der Rechentafeln und Waagen
Ein grimmiger Engel mit neuen Waffen
Bücher und Zirkel Das Navigationsgerät der Gelehrten
Der Engel ist eine Frau Von Instrumenten umstellt
Im Gefieder die Asche der kommenden Schlachten
Das Erwachen der Vernunft gebiert noch nie gesehene Monster
Teufel in Menschengestalt Dämonen mit Karte und Kompass
Über dem Horizont ein blutiger Regenbogen
Die Fahne der geschlachteten Bauern Und ein verglühender Stern.

Holger Teschke 1994



































Albrecht Dürer

Die Felder auf diesem magischen Quadrat ergeben in alle Richtungen 34. Auch die vier Eckfelder und die vier Felder in der Mitte ergeben diese Summe. In der unteren Reihe ist außerdem die Jahreszahl des Stichs, 1514, enthalten. In der zweiten Reihe korrigierte Dürer eine 6 zu einer 5. Die 9 im Feld darunter geht auf eine ältere Schreibweise zurück.
https://www.albrecht-duerer-apokalypse.de/sein-werk/die-drei-meisterstiche/melencolia-i/

Das Todesdatum von Dürers Mutter Barbara, der 16.5.1514 ist auch zu finden.
Dürer sagte über seine Mutter, die achtzehn Kinder gebar, von denen nur drei überlebten:
„Diese meine fromme Mutter hat oft die Pestilenz gehabt und viele andere schwere Krankheiten, hat große Armut erlitten, Verspottung, Verachtung, höhnische Worte und andere Widerwärtigkeiten, doch ist sie nie rachsüchtig gewesen. Und in ihrem Tode sah sie viel lieblicher aus, als da sie noch das Leben hatte."

Auf einer Vorskizze hat Dürer notiert: "Schlüssel bedeutet Gewalt, Beutel bedeutet Reichtum."

Die Probleme beginnen mit der Identifizierung der Gegenstände auf dem Bild: Ist die sitzende Figur eine Frau, ein Engel, ein Mann, ein Genius? Ist das Bauwerk eine Baustelle, ein Pfeiler, ein Turm, ein Haus? Ist die kleine geflügelte Figur ein Putto, ein unschuldig kritzelndes Kind, ein böser Dämon, eine Assistenzfigur, die die höchsten Eingebungen der Melancholie notiert? Ist das Tier, auf dessen Flügel die Aufschrift "Melencolia I" steht, eine Fledermaus, ein Mischwesen aus Fledermaus und Echse oder der Drachen des Saturn? Ist das Zeichen "I" im Schriftzug der Flügel die Zahl "Eins", die Ordnungszahl "Erstens", der Buchstabe "I" in der Bedeutung des Imperativs des lateinischen "ire" (gehen), also: "Melencolia - geh weg!"? Ist der Bogen im Hintergrund ein Regenbogen, Mondbogen, der Saturnring? Ist die meteorartige Himmelserscheinung ein Komet oder Saturn? Welche Lichtquellen herrschen? Ist das Land im Hintergrund teilweise überschwemmt? Ist der Steinblock ein Säulenrest, die missratene Form von einem der Urkörper, die Konstruktion eines unregelmäßigen Polyeders oder die Darstellung der Kristallstruktur?


http://www.unterricht.kunstbrowser.de/theorie/interpretation/03c19899200b03c07/duerermelencolia.html

Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst. 
S. Freud

...der Zirkel ruht müßig in der Hand, zerstreutes, gramseliges Licht liegt auf zerstreuten Gegenständen, die Ordnung, welche sonst Gelehrtenstuben des sechzehnten Jahrhunderts auszeichnet, ist völlig fern, kein größerer Gegensatz als zwischen diesem Ensemble und dem aufgeräumten des Blatts "Hieronymus im Gehäuse". Das eben macht: Dürers Blatt "Melencolia" zeichnet, mit astrologischen Hilfsmitteln, die Angst als die Berührung mit einem möglichen Abgrund, der nicht einmal einen Boden hat, auf dem das Fallen zerschellt. Das Blatt zeichnet Stupor, worin eine in dauerndem Jetzt eröffnete Verzweiflung starrt; Dürers "Melencolia" ist so das unschätzbare Dokument negativen Staunens, gerade ohne Spuk und Hölle, selbst ohne die Bestimmtheit Saturn."
Ernst Bloch Das Prinzip Hoffnung Bd.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1985, S.350 f

"Ein gefügeltes Weib, das auf einer Stufe an der Mauer sitzt, ganz tief am Boden, ganz schwer, wie jemand, der nicht bald wieder aufzustehen gedenkt. Der Kopf ruht auf dem untergestützten Arm mit der Hand, die zur Faust geschlossen ist. In der anderen Hand hält sie einen Zirkel, aber nur mechanisch: sie macht nichts damit. Die Kugel, die zum Zirkel gehört, rollt am Boden. Das Buch auf dem Schoß bleibt ungeöffnet. Die Haare fallen in wirren Strähnen, trotz dem zierlichen Kränzchen, und düster-starr blicken die Augen aus dem schattendunklen Antlitz. Wohin geht der Blick? Auf den großen Block? Nein, er geht darüber hinweg ins Leere. Nur die Augen wandern, der Kopf folgt nicht der Blickrichtung. Alles scheint Unmut, Dumpfheit, Erstarrung.
Aber ringsherum ist alles lebendig. Ein Chaos von Dingen. Der geomertische Block steht da, groß, fast drohend; unheimlich, weil es aussieht, als ober fallen wolle. Ein halbverhngerter Hund liegt am Boden. Die Kugel. Und daneben eine Menge Werkzeuge: Hobel, Säge, Lineal, Nägel, Zange, ein Schnürtopf zum Farbenanrühren - alles ungenützt, unordentlich zerstreut.
Was soll das heißen? Als Erklärung steht oben, den Flügeln eines fledermausähnlichen Fabeltieres eingeschrieben, das Wort: Melencolia I."
Heinrich Wölfflin
Die Kunst Albrecht Dürers. München: Verlag F.Bruckmann, 1926, S. 247 f

http://www.unterricht.kunstbrowser.de/theorie/interpretation/03c19899200b03c07/duerermelencolia.html