Auch Schlafen ist eine Form der Kritik,
vor allem im Theater.
George Bernard Shaw
Ich kann mich noch gut erinnern, im Frühjahr 1990 in Paris in der Comédie-Française. Der Name des Stückes ist allerdings dem Vergessen anheimgefallen, irgendein französischer Klassiker wohl:
Zweiter Akt. Wieder steht jemand an der Rampe, elegant, nahezu reglos, in barocker Pose und er rezitiert mit klarer, melodiöser, auf-und abschwellender Stimme einen sehr langen Monolog - Schwarzbild - mein Kopf schlägt hart auf die am Balkonrand angebrachte Metallstange. Ich werde mit einem "Schlag" wach und empfinde tiefe Scham ob meines Mangels an Ehrfurcht.
Gegenbeispiel: nach zwei Nächten ohne Schlaf sitze ich in Franfurt/Main in einem Strassenbahndepot und sehe die "Mahabarata" von Peter Brook und seiner Truppe, acht Stunden lang, ebenfalls in französisch und ich starre und fiebere und lache und staune und bin hellwach und glücklich.
Also an der Sprache lag es demnach nicht.
Vorletzte Woche in Berlin, ich, ein mittlerweile geübter und trickreicher Theaterschläfer, verlasse betrübt, nach dreifacher Schlafattacke im ersten Teil noch in der Pause das Theater.
Dieses vom Schlaf-Überwältigt-Werden ist wie der Angriff einer Kraft gegen die ich machtlos bin, selbst harte kleine Bisse in die Mundschleimhaut, Augenaufreissen, Fingernagel in die Handfläche pieksen, hilft nicht. Auch wenn die Musik auf der Bühne laut, die Aktion heftig, die Stimmen laut ist, ob Nebel wallt oder Weißlicht gleißt - sobald mein Kopf, Bauch über längere Zeit nicht beteiligt wird, schaltet mein Körper auf Ruhezustand, die Augäpfel verdrehen sich in Clownsmanier nach innen, die Augenlider werden ungeheuer schwer. Da heißt es schnell und unbemerkt, eine gute Tarnungs-Sitzhaltung einzunehmen, so dass der Kopf nicht nach hinten oder vorn fällt, der Nachbar, der sich ja möglicherweise blendend amüsiert, nicht gestört wird und, zur Schnarchvermeidung, die Kehle nicht eingeklemmt wird. Den Kopf in die Hand gestützt, die Finger leicht über den Brauen gespreizt, hat sich als die bequemste und unauffälligste Haltung bewiesen. Selbst Leute in den Sitzen links und rechts haben nichts bemerkt.
Trotzdem - Schade, denn wenn Theater mich reißt, fasziniert, unterhält, bedrückt, dann werde ich immer wacher, der Körper locker gespannt, die Atmung mit dem auf der Bühne synchronisiert. Und wenn es ganz toll wird, dann macht mein Gesicht manchmal mit, sieht ziemlich albern aus, macht mich aber glücklich.
Hinter Stäben, wie Tiere,
türmen sie ihr Getu;
die Stimme ist nicht die ihre,
aber sie ziehn dazu
ihre Arme und Schwerter
ungemein und weit,
(findige Verwerter
dessen was grade schreit.)
Sie haben keine Gelenke
und hängen ein wenig quer
und hölzern im Gehenke,
aber sie können sehr
töten oder tanzen
oder auch im Ganzen
sich verneigen und noch mehr.
Auch pflegen sie kein Erinnern;
Sie machen sich nichts bewusst,
und von ihrem Innern
gebrauchen sie nur die Brust,
um manchmal darauf zu schlagen
als schlügen sie sie ein.
(Sie wissen, dieses Betragen
ist deutlich und allgemein.)
Ihre großen Gesichter
sind ein für alle Mal;
nicht wie die unsern: schlichter,
dringend und ideal;
offen wie beim Erwachen
mitten aus einem Traum.
Das giebt natürlich Lachen
draußen in dem Raum,
aus dem die von den Bänken
sehn
wie sich die Puppen kränken
und schrecken und an Schwänken
in Bündeln zu Grunde gehen.
Wenn einer es anders verstände
und säße und lachte nicht:
Ihr einziges Stück verschwände
und sie spielten ihr jüngstes Gericht.
Sie rissen an ihren Schnüren
herein vor die kleinen Coulissen
die Hände von oben, die Hände,
die immer versteckten, entdeckten
häßlichen Hände in Rot:
und stürzten aus allen Türen
und stiegen über die Wände
und schlügen die Hände tot.
Rainer Maria Rilke
Aus: Die
Gedichte 1906 bis 1910 (Paris, 20. Juli 1907)