Freitag, 17. Mai 2013

Theater hat auch einen Schlaf


Auch Schlafen ist eine Form der Kritik,
vor allem im Theater.

George Bernard Shaw

Ich kann mich noch gut erinnern, im Frühjahr 1990 in Paris in der Comédie-Française. Der Name des Stückes ist allerdings dem Vergessen anheimgefallen, irgendein französischer Klassiker wohl: 
Zweiter Akt. Wieder steht jemand an der Rampe, elegant, nahezu reglos, in barocker Pose und er rezitiert mit klarer, melodiöser, auf-und abschwellender Stimme einen sehr langen Monolog - Schwarzbild - mein Kopf schlägt hart auf die am Balkonrand angebrachte Metallstange. Ich werde mit einem "Schlag" wach und empfinde tiefe Scham ob meines Mangels an Ehrfurcht. 

Gegenbeispiel: nach zwei Nächten ohne Schlaf sitze ich in Franfurt/Main in einem Strassenbahndepot und sehe die "Mahabarata" von Peter Brook und seiner Truppe, acht Stunden lang, ebenfalls in französisch und ich starre und fiebere und lache und staune und bin hellwach und glücklich.

Also an der Sprache lag es demnach nicht.

Vorletzte Woche in Berlin, ich, ein mittlerweile geübter und trickreicher Theaterschläfer, verlasse betrübt, nach dreifacher Schlafattacke im ersten Teil noch in der Pause das Theater.
Dieses vom Schlaf-Überwältigt-Werden ist wie der Angriff einer Kraft gegen die ich machtlos bin, selbst harte kleine Bisse in die Mundschleimhaut, Augenaufreissen, Fingernagel in die Handfläche pieksen, hilft nicht. Auch wenn die Musik auf der Bühne laut, die Aktion heftig, die Stimmen laut ist, ob Nebel wallt oder Weißlicht gleißt - sobald mein Kopf, Bauch über längere Zeit nicht beteiligt wird, schaltet mein Körper auf Ruhezustand, die Augäpfel verdrehen sich in Clownsmanier nach innen, die Augenlider werden ungeheuer schwer. Da heißt es schnell und unbemerkt, eine gute Tarnungs-Sitzhaltung einzunehmen, so dass der Kopf nicht nach hinten oder vorn fällt, der Nachbar, der sich ja möglicherweise blendend amüsiert, nicht gestört wird und, zur Schnarchvermeidung, die Kehle nicht eingeklemmt wird. Den Kopf in die Hand gestützt, die Finger leicht über den Brauen gespreizt, hat sich als die bequemste und unauffälligste Haltung bewiesen. Selbst Leute in den Sitzen links und rechts haben nichts bemerkt.

Trotzdem - Schade, denn wenn Theater mich reißt, fasziniert, unterhält, bedrückt, dann werde ich immer wacher, der Körper locker gespannt, die Atmung mit dem auf der Bühne synchronisiert. Und wenn es ganz toll wird, dann macht mein Gesicht manchmal mit, sieht ziemlich albern aus, macht mich aber glücklich.

 


Marionetten-Theater
(Furnes, Kermes)

Hinter Stäben, wie Tiere,
türmen sie ihr Getu;
die Stimme ist nicht die ihre,
aber sie ziehn dazu
ihre Arme und Schwerter
ungemein und weit,
(findige Verwerter
dessen was grade schreit.)

Sie haben keine Gelenke
und hängen ein wenig quer
und hölzern im Gehenke,
aber sie können sehr
töten oder tanzen
oder auch im Ganzen
sich verneigen und noch mehr.

Auch pflegen sie kein Erinnern;
Sie machen sich nichts bewusst,
und von ihrem Innern
gebrauchen sie nur die Brust,
um manchmal darauf zu schlagen
als schlügen sie sie ein.
(Sie wissen, dieses Betragen
ist deutlich und allgemein.)

Ihre großen Gesichter
sind ein für alle Mal;
nicht wie die unsern: schlichter,
dringend und ideal;
offen wie beim Erwachen
mitten aus einem Traum.
Das giebt natürlich Lachen
draußen in dem Raum,
aus dem die von den Bänken
sehn
wie sich die Puppen kränken
und schrecken und an Schwänken
in Bündeln zu Grunde gehen.

Wenn einer es anders verstände
und säße und lachte nicht:
Ihr einziges Stück verschwände
und sie spielten ihr jüngstes Gericht.
Sie rissen an ihren Schnüren
herein vor die kleinen Coulissen
die Hände von oben, die Hände,
die immer versteckten, entdeckten
häßlichen Hände in Rot:
und stürzten aus allen Türen
und stiegen über die Wände
und schlügen die Hände tot.


Rainer Maria Rilke Aus: Die  Gedichte 1906 bis 1910 (Paris, 20. Juli 1907) 

 

Mittwoch, 15. Mai 2013

Flieder, Flieder, Flieder




FLIEDER, FLIEDER

In Jean Genets "Unter Aufsicht" beschreibt der Mörder Grünauge seine 
Bredouille mit etwa diesen Worten: "Flieder zwischen den Zähnen 
tragend, wurde ich verfolgt von Leuten, die diesen Flieder begehrten."
Fliederduft ist sündig, schwer, süß, erotisierend, belebend. Wenn man
länger unter einem Fliederbusch stehenbleibt, wird man ein wenig 
trunken.    



UNTER DEM FLIEDER
Claude Oscar Monet 1873

WEISSER FLIEDER

Naß war der Tag - die schwarzen Schnecken krochen,
Doch als die Nacht schlich durch die Gärten her,
Da war der weiße Flieder aufgebrochen,
Und über alle Mauern hing er schwer.

Und über alle Mauern tropften leise
Von bleichen Trauben Perlen groß und klar,
Und war ein Duften rings, durch das die Weise
Der Nachtigal wie Gold geflochten war.  



Freiherr Börries von Münchhausen
Die Balladen und ritterlichen Lieder [des Freiherrn Börries von Münchhausen], 
Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart / Berlin, [73-77 Tausend], o. J., S. 168  



FLIEDER
Henri Matisse 1914


Wenn der weiße Flieder wieder blüht,
sing' ich dir mein schönstes Liebeslied.
Immer, immer wieder 

knie ich vor dir nieder,
trink mit dir den Duft vom weißen Flieder.
Wenn der weiße Flieder wieder blüht,
küß' ich deine roten Lippen müd'.
Wie im Land der Märchen 

werden wir ein Pärchen
wenn der weiße Flieder wieder blüht.
Frühling, Frühling, Frühling, wer liebt dich nie wie ich.
Frühling, Frühling, Frühling, voll Glück erwart' ich dich!
Ach schein in mein Stübchen recht bald nur herein,
mein Schatz hat schon Sehnsucht nach dir!
Er sagt: Ich brauch' Sonne um glücklich zu sein,
dann wünsche dir alles von mir.
Komm Frühling, komm, der du uns zwei vereinst,
schein' und erfüll' unser Sehnen!
Wenn der weiße Flieder wieder blüht ...


Franz Doelle


 WEISSER FLIEDER
Edouard Manet 1883


LIEBESZAUBER. Man nimmt eine Kerze, vorzugsweise in rosa oder rot, 

 lässt sie brennen, bis sich Wachs verflüssigt. In dieses flüssige Wachs gibt man einen Tropfen reines Fliederöl und lässt es verdampfen. 
Noch während es duftet wird ein kleines Blatt Papier mit dem Namen der 
oder des Geliebten in die Flamme gehalten und verbrennt . 
www.perlen-träume.de/kraeutergarten/flieder.htm


Lee Miller - Photographin


LEE MILLER
23. April 1907 – 21. Juli 1977


Andere Leute tendieren dazu, Dich so zu schätzen, wie Du Dich selbst schätzt.
Other people tend to value you the way you value yourself.
Lee Miller

Lee Miller als eine Statue in Jean Cocteaus Film "Das Blut eines Dichters"

Lee Miller arbeitete erfolgreich, als Modell, aber als ihr das 'Herumstehen' langweilig wurde, begann sie eine Ausbildung zur Photographin bei Man Ray in Paris und wurde, natürlich, auch seine Geliebte. Sie verließ Man Ray 1932, eröffnete ein Photo-Studio in New York, heiratete dann einen ägyptischen Geschäftsmann, verließ auch ihn, kehrte aus Kairo nach London zurück und verliebte sich dort in Robert Penrose, einen surrealistischen Maler und Kurator. Für Vogue photographierte sie die Bombardierung Londons durch die deutsche Luftwaffe, den sogenannten "Blitz" und ließ sich 1942 ließ als Kriegsberichtserstatter bei der US-Armee akkreditieren.


SS Wache im Lager Dachau. Er wurde in Zivilklamotten gefunden, von ehemaligen Gefangenen erkannt, zusammengeschlagen und ins Lager zurückgebracht. 
1945

Der stellvertretende Bürgermeister von Leipzig, Doktor Lisso, Mitglied der NSDAP seit 1932, und seine Familie nach ihrem Selbstmord durch Zyanid
Leipzig, Deutschland am 13. April 1945

Ehefrau und Tochter von Dr. Lisso

Baracke im Konzentrationslager Buchenwald 1945

Eine von vielen Zuordnungen:

Rechts stehend: Chaim David Halberstam

Zweite Bettenreihe:
Erster von rechts- Elie Wiesel
Vierter von rechts:
Herman Leefsma oder
Abraham Hipler oder
Berek Rosencajg oder
Zoltan Gergely
Fünfter von rechts:
Lajos Vartenberg (Yehuda Doron) oder
Yaakov Marton

Untere Bettenreihe:
Erster von rechts – Max Hamburger
Dritter von rechts – Issac Reich
Vierter von rechts:
Michael Miklos Nikolas Gruener oder Gershon Blonder oder Yosef Reich

Verhaftete Wachen,
Konzentrationslager Buchenwald, April 1945




Lee Miller in Hitlers Badewanne, Hitlers Wohnung, München, Deutschland, 1945 


Alle Photographien © Lee Miller Archives, Muddles Green, Chiddingly, East Sussex, BN8 6HW, England
Photographiert von David E. Scherman 

Dienstag, 14. Mai 2013

Life After Life - Kate Atkinson - Ein Leben nach dem anderen

    
   After the first death, there is no other.
   Nach dem ersten Tod gibt es keinen anderen.
   Dylan Thomas 

   Die Heldin dieses Buchs stirbt viele Tode.

   Ist es eine fiktive Biographie? Die Lebensgeschichte einer Frau, die bei der   
   Geburt stirbt und als Kleinkind ertrinkt und einen Psychpathen heiratet, der sie
   tot prügelt, und die bei einem Bombenangriff auf ihr Londoner Haus verschüttet
   wird und ein Kind bekommt und kein Kind bekommt und Hitler in München
   erschießt und dafür erschossen wird und gemächlich alt wird, aber ihren
   Lieblingsbruder verliert und...? Ist es ein Buch darüber, wie ein Buch entsteht, 
   wie eine Geschichte sich in eine Richtung entwickelt und dann eine Kurve fährt
   und noch eine und plötzlich wird eine ganz andere Geschichte daraus? Ist es
   also ein Buch über das Schreiben? Ist es ein Kriminalroman? Denn was ist
   wirklich in diesem Leben passiert und was ist Ahnung, Traum, Instinkt, Wunsch,  
   unbewusste Selbstkorrektur? Ein Leben als ständiges Déjà-vu mit der  
   Möglichkeit Ereignisse beim zweiten, dritten, vierten Mal zu korrigieren.  
   Varianten von Lebensläufen zu leben, die "beste" zu suchen und sie nicht zu
   finden. Welche Folgen haben Entscheidungen, die wir treffen? Wo hat etwas 
   begonnen, schief zu laufen? Wäre es anders besser gewesen? Was ist 
   "besser"? 
   Atkinson hat ein großartiges Gefühl für Rhythmus. Und sie hat Humor, einen 
   schwärzlichen und schrammt so immer an der Sentimentalität vorbei, manchmal
   haarscharf, aber doch vorbei. 



    Leider noch nicht ins Deutsche übersetzt, wird aber ganz sicher bald passieren. 




Muttertag - Teil 2


Und die Mutter blicket stumm
Auf dem ganzen Tisch herum. 

Struwelpeter Heinrich Hoffmann

Irgendetwas an diesen unzähligen Muttertagsgruß-Postings auf Facebook und anderswo hat mich ganz wuschig gemacht. Sie reichten von farbigen Blümchenbildern, gestellten Mama-Kind-Portraits bis zu pflichtgemäß von Herzen kommenden Aussagen wie "Hast du gut gemacht!", "Der besten Mama der Welt!" und was es noch an formelhaften, unpersönlichen Liebeserklärungen gibt.

Ich mag meine Mutter, sehr sogar, also warum reagiere ich so genervt? Sicher, der pompöse Ton der meisten Grüße ist lahm. Sicher, ich schätze, außer Weihnachten überhaupt keine organisierten Festtage, sicher, die Wurzeln des Muttertages sind suppig und unfeierlich. * 

Aber dies alles ist es nicht allein. Da klingt so ein komischer Ton mit in den Grüßen, als wäre die Leistung, so etwas Herrliches wie das jeweilige Kind erzeugt und erzogen zu haben, der einzige für dieses Kind greifbare Identifikationspunkt an bzw. in der Mutter. Es klingt also wie verbrämtes Selbstlob. Ich bin toll, also muß Mama ja was richtig gemacht haben.


MEINE MUTTER
Ach weh, meine Mutter reißt mich ein.
Da hab ich Stein auf Stein gelegt
und stand schon wie ein kleines Haus,
um das sich groß der Tag bewegt;
sogar allein.

Nun kommt die Mutter, kommt und reißt mich ein.
Sie reißt mich ein, indem sie kommt und schaut.
Sie sieht nicht, dass da einer baut.
Sie geht mir mitten durch die Wand von Stein.
Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.

Die Vögel fliegen leichter um mich her;
die fremden Hunde wissen: der ist der.
Nur einzig meine Mutter kennt es nicht,
mein langsam mehr gewordenes Gesicht.

Von ihr zu mir war nie ein warmer Wind;
sie lebt nicht dorten, wo die Lüfte sind.
Sie liegt in einem hohen Herzverschlag,
und Christus kommt und wäscht sie jeden Tag

Rainer Maria Rilke



Das liebe Wiki sagt:
* In Deutschland wurde der Muttertag 1922/23 vom Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber mit Plakaten „Ehret die Mutter“ in den Schaufenstern etabliert und – betont unpolitisch – als Tag der Blumenwünsche gefeiert. Mit Plakaten in Schaufenstern, kleineren Werbekampagnen und Veranstaltungen bis hin zu Muttertagspoesie wurde dem ersten deutschen Muttertag am 13. Mai 1923 durch den Vorsitzenden des Verbandes, Rudolf Knauer, der Weg bereitet. Ab 1926 wurde die Propagierung des Muttertages an die Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung übertragen, um „Kirche und Schule zu gewinnen und die Regierung dahin zu bringen, den Muttertag am zweiten Sonntag im Mai als offiziellen Feiertag festzulegen“.

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Feier des Muttertags mit der Idee der „germanischen Herrenrasse“ verknüpft. Besonders kinderreiche Mütter wurden als Heldinnen des Volkes zelebriert, da sie den „arischen Nachwuchs“ fördern sollten. 1933 wurde der Muttertag zum öffentlichen Feiertag erklärt und erstmals am 3. Maisonntag 1934 als „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“ mit der Einführung des Reichsmütterdienstes in der Reichsfrauenführung begangen. 


Montag, 13. Mai 2013

Muttertag - Teil 1


"Die Jungen denken, die Zukunft wäre für sie erfunden worden." Kate Atkinson

Etwa 1940 geschrieben - ein Text von Bertolt Brecht über seine Tochter Barbara, meine Mutter, den ich gestern, am "Tag der Mütter" bei einer Lesung vorgelesen habe, während sie, nunmehr einige Jahre älter, genauso klein und immer noch mit den "lustigen blauen Augen", im Publikum saß.

BARBARA

Barbara - zehn Jahre alt - ist dünn wie ein Spatz im März. Sie hat ein kleines Gesicht mit lustigen blauen Augen. Sie ist ein merkwürdiges Geschöpf, wild wie ein kleiner Hurrikan und zart wie Brüsseler Spitze. Sie quält einen bis aufs Blut mit ihren Fragen und ist äusserst freigiebig mit ihren Meinungen. Sie ist brennend interessiert an allem, was sie etwas angeht und ebenso brennend an allem, was sie nichts angeht. Sie ist kein stilles Kind und hat absolut keine Hemmungen.
Barbara schnappt unentwegt neue Wörter und Sätze auf, die sie dann bei der ersten Gelegenheit an den Mann zu bringen sucht. Sie probiert die neuen Wörter mit grösster Kühnheit aus, wirft sie wie beiläufig in das Gespräch ein und wenn sie Erfolg haben (aber auch, wenn sie gar nicht auffallen, weil sie selbstverständlich sind) werden sie in den Sprachschatz aufgenommen. Lacht man darüber, werden sie einfach fallen gelassen. Barbara hat genug Gelegenheit gehabt, viele Ausdrücke aufzuschnappen, denn sie ist ein Emigrantenkind, und da wohnt man mal da, mal dort, trifft in immer neuen Ländern immer neue Leute, ganz verschiedene. Im allgemeinen sind die Leute freundlich zu ihr. Aber sie hat doch schon eine ganze Menge Widerwärtigkeit gesehen.
Sie meint selber, sie ist nicht klüger als andere Kinder. Sie sei eben viel herumgekommen, erklärt sie entschuldigend, wenn sie mehr weiss als die andern.
Ausserdem ist sie eine Leseratte. Sie liest wahllos, was ihr in die Hände kommt, von Märchen über "Das Wochenblatt der Dame" bis zu Selma Lagerlöf. Die neuen Ideen und Ausdrücke werden zum Glück meistens eben so rasch vergessen wie aufgenommen.
Als wir uns neulich bei Tisch über eine Scheidung unterhielten, warf sie plötzlich mit einem Augenaufschlag, den sie vor nicht langer Zeit im Kino gesehen haben muss, ein: "Hat er wirklich seine Gattin verstossen?". Wir brachen in schallendes Gelächter aus und Barbara? Lachte einfach ungeniert mit. Wann man sie fragt, ob sie noch ein Glas Milch haben will, kann sie antworten: "Darüber muss ich erst mit mir zu Rate gehen, es dürfte aber zweckmässig sein."
Ihre liebsten Puppen sind die ganz kleinen, höchstens 9 Zentimeter langen, denen sie sehr moderne Kleider näht und winzigkleine Tellerchen Gläschen kauft, auch wirkliches Essen vorsetzt.
Jetzt ist sie seit einem halben Jahr in einer neuen Schule. Die Lehrer und Kinder scheinen sie gern zu haben, sie geht gern hin. Viele Sachen aus der Schule berichtet sie zu Hause, aber was ich nun erzählen will, habe ich nicht von ihr selbst gehört.
Ich trank mit einer Bekannten das, was man heutzutage Kaffee nennt, in einem kleinen überfüllten Kaffeehaus. Und während wir von allen Seiten geschubst wurden und diejenigen, die keinen Platz hatten, uns missmutig ansahen, ob wir nicht bald gehen würden, erzählte meine Bekannte, dass sie Barbaras Lehrerin getroffen habe. Und die habe ihr eine so merkwürdige Geschichte erzählt, man könne sie einem zehnjährigen Kind kaum zutrauen. Barbara konnte man es, dessen war ich sicher.
Nach der Stunde hatten die Kinder ihre Zeichnungen abgeliefert, Barbara gab eine Zeichnung ab, worauf halb entlaubte Bäume, einige Sträucher entschieden grüner, aber doch nicht mehr in sommerlicher Pracht, und massenhaft Pilze zu sehen waren. warum es Barbara für notwendig hielt, ihre Zeichnung auch noch vor der ganzen Klasse mit einer lauten Bemerkung zu versehen, ist unklar, aber jedenfalls sagte sie: "Es ist halt Herbst. Da fallen die Blätter von den Bäumen. An die Sträucher kommt der Wind nicht so leicht ran, aber doch. Und Pilze gibt's eben massenhaft im Herbst."
Vielleicht war sie auch dann mit der Aufnahme, die ihre Zeichnung gefunden hatte, nicht völlig zufrieden und wollte den Eindruck etwas verstärken; vielleicht war sie einfach redselig: sie hatte einen Schnupfen und sprach gern, weil es "so schön durch die Nase klingt". Sie vertraute in der Pause der Lehrerin an: " Das war es gar nicht, was ich mit dem Bild meinte. Ich meinte: die Bäume sollen die Erwachsenen sein, die alten Menschen also. Die hat der Wind durchgeweht und da ist nur ein ganz klein bisschen Herz übrig geblieben - das sind die Bätter hier. Und sie haben traurige Farben. So sind sie. Die Sträucher sollen die jungen Menschen sein. Die glauben noch, dass schon alles gut gehen wird, darum habe ich die vielen grünen Blätter gemacht. Und die Pilze, das sind die Kinder, die sind bunt und lustig, weil sie gar nicht wissen, was noch alles kommt."
Die Lehrerin war darüber sehr betroffen und zeigte es wohl auch. Barbara aber meinte, dass auch diese Erklärung der Lehrerin nicht gefallen habe und sprach schnell und heiter über Pilze im allgemeinen weiter und wie man sie kochen und einlegen muss. Sie ist nie um ein Gesprächsthema verlegen.
Ich war nicht ganz so gerührt wie die Lehrerin und meine Bekannte. Aber doch, ich muss sagen: ich spreche gern mit Barbara. Als sie neulich wie durch ein Wunder von einem Freund ein Stückchen Schokolade geschenkt bekam, wollte sie es erst in gleiche Teile für alle teilen. Aber alle bestanden darauf, dass sie als die Kleinste ihr kleines Stückchen allein isst. Da ging sie weg.
Eine Stunde später sagte sie zu mir: "Schokolade ist wunderbar. Findest du nicht, das beste wäre, wenn alle immer Kinder blieben? Dann gäbe es keinen Krieg mehr, denn Kinder können keinen machen."

Vater und Tochter

Donnerstag, 9. Mai 2013

Pablo Casals photographiert von René Burri



Der spanische Cellist Pablo Casals während einer Meisterklasse. 1960
Schweiz. Zermatt.






Pablo Casals spielt Johann Sebastian 
Bach Cello Solo Nr.1, BWV 1007
August 1954, Casals war 77 Jahre alt.

http://www.youtube.com/watch?v=KX1YtvFZOj0



Herr Casals gibt Unterricht.





Eines Tages werde ich ein Buch mit all den Photos veröffentlichen, die ich nicht gemacht habe. Es wird ein großer Erfolg werden.

One of these days, I'm going to publish a book of all the pictures I did not take. It is going to be a huge hit. 

René Burri - New York Times, May 20 2004




Alle Photographien © Magnum René Burri

Vatertag Herrentag Männertag


Historisch könnte die Tradition des Herrentages, unter anderem, auf die traditionellen Flurumgänge am Himmelfahrtstag zurückgehen. Nach germanischem Recht mußte jeder Grundeigentümer einmal im Jahr seinen Besitz umschreiten, um seinen Besitzanspruch zu wahren. Und es wurden auf diese Weise, die noch nicht schriftlich fixierten Flur-und Gemeindegrenzen, erinnert und bestätigt.



Eine Erinnerung
Herrentag in Mecklenburg-Vorpommern: Gegen sieben Uhr morgens werde ich von einer derb fröhlichen Männerstimme geweckt, die ein Lied davon singt, wie man auf mexikanische Art Mittagspause macht. Sie scheint direkt innerhalb meines Kopfes zu singen. Es stellt sich aber Gott sei Dank heraus, dass dieser Eindruck nur durch die Lautstärke entsteht, mit der das Lied aus zwei Lautsprechern erschallt, die in einer Gartenkneipe, nur lächerliche 500 Meter entfernt, angebracht wurden. Und dort sitzen tatsächlich Herren, Männer, möglicherweise Väter, die um diese morgendliche Stunde Bier trinken, um den ihnen gewidmeten Tag einzufeiern.
Die Menge der deutschen Schlager, die das Liebe und Feiern an exotischen Orten besingen, ist erstaunlich, allerdings klingen alle diese Orte dann doch irgendwie wie Hoyrerswerder oder Detmold.
Zeitsprung: gegen 20.00 Uhr auf dem jetzt stillen Platz vor meinem Haus stehen, fein ordentlich verteilt auf die vier Himmelsrichtungen, sozusagen im Rechteck, vier Männer, die das zuvor getrunkene Bier in den mild wehenden Wind verteilen. Ein Flurumgang der ganz eigenen Art. Ein Skinhead mit Kampfhund schwankt vorbei, ich weiche automatisch auf die andere Strassenseite aus, und höre wie er seinen Hund mit den Worten: "Jaqueline, dat reicht jetze!" zurechtweist. Ungelogen.

Unser HERR Jesus Christus ist am MÄNNERTAG zu seinem VATER in den Himmel gefahren.

Seit dem vierten Jahrhundert feiern Christen 40 Tage nach Ostern das Fest Christi Himmelfahrt.
In manchen Kirchen ist es Brauch, an diesem Tag in der Kirche eine Christusstatue zur Decke hinaufzuziehen. Im Umfeld des Himmelfahrtstages finden an vielen Orten Prozessionen durch Felder oder Weinberge statt, in denen die Gläubigen um ein gutes Erntejahr beten.
Eine Erklärung bringt die Tradition des Umzugs mit dem Gang der elf Jünger zu einem Berg in Galiläa in Zusammenhang - "Apostelprozession", wo sie von Jesus den "Missionsbefehl" erhielten (Siehe: Matthäus-Evangelium 28, 16f).

Allerdings sollen die Umzüge bereits im Mittelalter ihren religiösen Sinn oftmals verloren und der Alkohol eine zunehmende Rolle gespielt haben. Aus diesen von der protestantischen wie katholischen Kirche bekämpften alkoholträchtigen Umzügen entwickelten sich im 19. Jahrhundert "Herrenpartien" oder sogenannte Schinkentouren. Diese wurden nach der Einführung des Muttertages Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Staaten zum Gegenstück, dem "Vatertag".
Aus der Berliner Morgenpost vom 9.5.2013

LUKAS 24

Da sie aber davon redeten, trat er selbst, Jesus, mitten unter sie und sprach: Friede sei mit euch! Sie erschraken aber und fürchteten sich, meinten, sie sähen einen Geist. Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so erschrocken, und warum kommen solche Gedanken in euer Herz? Sehet meine Hände und meine Füße: ich bin's selber. Fühlet mich an und sehet; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ihr sehet, daß ich habe. Und da er das sagte, zeigte er ihnen Hände und Füße. Da sie aber noch nicht glaubten, vor Freuden und sich verwunderten, sprach er zu ihnen: Habt ihr etwas zu essen? Und sie legten ihm vor ein Stück von gebratenem Fisch und Honigseim. Und er nahm's und aß vor ihnen. ...

Er führte sie aber hinaus bis gen Bethanien und hob die Hände auf und segnete sie. Und es geschah, da er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel. Sie aber beteten ihn an und kehrten wieder gen Jerusalem mit großer Freude und waren allewege im Tempel, priesen und lobten Gott. 



 Himmelfahrt Salvador Dali 1958

Wiki sagt:
Aufgrund des erhöhten Alkoholkonsums und den häufig durchgeführten Massenveranstaltungen gibt es, wenn man die Statistik betrachtet, am Vatertag erheblich mehr Schlägereien als an gewöhnlichen anderen Tagen. Laut dem Statistischen Bundesamt steigt die Zahl der durch Alkohol bedingten Verkehrsunfälle an Christi Himmelfahrt auf das Dreifache des Durchschnitts der sonstigen Tage an und erreicht einen Jahreshöhepunkt. 
Da muß man wohl Gute Himmelfahrt wünschen? Wahnsinn!

Dienstag, 7. Mai 2013

Der Hase mit den Bernsteinaugen - eine Zeitreise


DER HASE MIT DEN BERNSTEINAUGEN

Ein ganz langsames melancholisches Buch. Ein Buch über den Tastsinn, über die Notwendigkeit von Vitrinen, über Assimilation und Antisemitismus, über Reichtum und die Liebe zu Gegenständen. Seltsam und hypnotisch.



Wiki sagt:
Netsuke (jap. 根付, dt. „Wurzel[holz]-Anbringung“) sind kleine geschnitzte Figuren aus Japan. Sie dienten als Gegengewicht bei der Befestigung eines Sagemono (‚hängendes Behältnis‘) wie z. B. eines Inrō, einer flachen, kleinen, mehrteiligen Lackholzdose am Obi des taschenlosen Kimono.



1781 Toleranzpatent Josef II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches

Solang sich die irrgläubigen Landesinwohner ruhig und friedlich betragen, ist ihre Bekehrung lediglich der unendlichen Barmherzigkeit Gottes, und der bescheidenen Mitwirkung der Geistlichkeit zu überlassen. Wenn sie sich aber unterstünden, andere von dem katholischen Glauben abwendig zu machen und zu verführen: so sind sie nach der obigen Vorschrift zu bestrafen.

Und wieder Wiki:
1867 wurde durch das Staatsgrundgesetz den Juden erstmals in ihrer Geschichte in ganz Österreich der ungehinderte Aufenthalt und die Religionsausübung gestattet. Die Jüdische Gemeinde wuchs als Folge dieser Entwicklungen sehr rasch: Registrierte die Israelitische Kultusgemeinde Wien 1860 6.200 jüdische Einwohner, so waren es 1870 bereits 40.200 und zur Jahrhundertwende 147.000.


Die Ephrussis, eine sephardische Familie in der Diaspora; über Griechenland kamen sie nach Odessa, gründeten erst einen Getreidehandel und als der erfolgreich wurde, eine Bank. Die Söhne wurden nach Paris und Wien geschickt, um Zweigstellen zu eröffnen. Ephrussi & Cie war, in der zweiten Hälfte des 19. jahrhunderts, nach der der Rothschilds, die zweitgrößte europäische Bank. 

"Eine Geschichte über das Verstecken...Es war ein Ort an dem man versteckte wo man herkam, ein Ort um Dinge zu verstecken."


 Pierre Auguste Renoir 1881 Mittagessen der Bootpartie
Charles Ephrussi ist der Herr mit dem Zylinder, den man nur von hinten sieht. Er ist unpassend, zu fein gekleidet für eine Bootsfahrt, er ist der Mäzen.

Während der Dreyfuß-Affaire zeigte sich Renoir als vehementer Antisemit, er sagte zum Beispiel über die Familie seines jüdischen Kollegen Pissaro, sie sei Teil "der jüdischen Rasse von klebrigen Kosmopoliten und Wehrdienstverweigerern, die nur nach Frankreich kommen, um Geld zu machen."  Und Degas wechselte die Strassenseite, wenn er Pissaro von weitem erblickte. Fakten, die man lieber nicht wüßte, oder?