Sonntag, 29. Mai 2016

Eine Störung im Blick

Es gibt Tage, da liegt ein Schatten über Dir, obwohl, das vielleicht weit aus dramatischer klingt, als ich es meine. 
Also: ich stehe auf und watschele durch die üblichen morgendlichen Verrichtungen - Kaffee kochen, duschen, Kaffee trinken, Zähne putzen, Mails gucken, aber irgendetwas ist verquer, uneben, aus der Mitte. 

An jedem gewöhnlichen Morgen bin ich grundlos heiter. Ein sonniges Gemüt, so oberflächlich das auch klingen mag. Meine Grundhaltung der Welt gegenüber ist, ob in Folge genetischer Konstellationen oder durch günstige Umweltbedingungen, hoffnungsvoll. Ich vergesse Kränkungen, Niederlagen und andere Nackenschläge schnell und erwarte deshalb meist eine günstige Einstellung der Welt mir gegenüber, glückliche Auswirkung meines das-Glas-ist-halb-voll-Blickes und der Gnade meines schlechten Gedächtnisses. Wenn ich es positiv formulieren will, habe ich ein leichtes Gemüt. Wohl ein Geschenk meiner Mutter, die unter weit schwierigeren Bedingungen, ähnlich empfand.

Der Wellenreiter

Der letzte Wellenreiter
Einer schöneren Zeit
Mir ward warm wo es schneit
Die mich lieben
Sind mir lang geblieben
Und auch so kleine Sorgen
Sind immer wieder – morgen
Die Kriege die die Welt zerfraßen
Haben mich und Meine in Ruh gelassen
Das Essen schön
Die Betten warm
Die Kinder kamen nicht zu Harm
Die Kindheit von Vater und Mutter umgeben
Mein Mann der liebt mich sein ganzes Leben
Und eigentlich froh und heiter
Ich bin der Wellenreiter
Zwischen Himmel und Hai  
Kam ich halb sorglos
Am Schlimmsten vorbei.

barbara brecht-schall

Aber dann dieser Morgen, der aus der Gewöhnung fällt. Es hackt. Es läuft nicht rund. Es ziept und zerrt. Selbst gutes Wetter ist das falsche, ein gestern noch schönes Kleid sitzt komisch, die vielleicht völlig harmlose Bemerkung eines Kollegen klingt wie eine Beleidigung, die Probe schleppt, das Talent ist nicht zu Hause. Alles, alles ist nicht richtig richtig. Nicht schlimm, nicht katastrophal, nur so ningelig doof.
Schlafen gehen und wieder aufstehen, jetzt geht es wieder, nur so ein komischer Geschmack bleibt zurück, als hätte ich in einen faulen Apfel gebissen.
 
Das Wort Kaleidoskop stammt aus dem Griechischen und bedeutet: schöne Formen sehen. Konkret lauten die drei Wörter: καλός (kalós) „schön“, εἴδος (eidos) „Form, Gestalt“ und σκοπεῖν (skopéin) „schauen, sehen, betrachten“.

Da 'aschimos' im Griechischen 'häßlich' heißt, wäre ein Aschimoskop, wohl das, was sich mir manchmal überraschend vor die Linse legt.

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Eine Empfehlung zum Schluß: bis zum 10. Juli kann man im Hamburger Bahnhof noch "Manifesto" von Julian Rosefeldt ansehen & anhören. 13 parallel laufende Videos mit Cate Blanchett in unterschiedlichen Rollen und Situationen Kunstmanifeste sprechend, darunter Texte von Filippo Tommaso Marinetti, Tristan Tzara, Kazimir Malevich, André Breton, Claes Oldenburg, Yvonne Reiner, Sturtevant, Adrian Piper, Sol LeWitt oder Jim Jarmusch.

 © VG Bild-Kunst, Bonn 2016


Samstag, 21. Mai 2016

Strichmännchen - Kindheit der Kunst -

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Hand mit drei kleinen Figuren 
Ägypten, Wadi Sura, zwischen 4400 bis 3500 v. Chr., 
Aquarell von Elisabeth Charlotte Pauli, 1933.

Eine Hand, der, der mit ihr griff, aß, streichelte, schlug, ist schon lange Staub, vielleicht jetzt Teil der gleichen rötlichen Erde, die den Hintergrund färbt. Das Abbild seiner Hand ist noch da. Hat der Besitzer der Hand die drei kleinen geduckten Figuren geschaffen? Oder war es jemand anderes, später? 
Schleichen sich die Drei an etwas an? Tanzen sie? Wer waren sie? 
Wie ist der längst Tote auf die Idee gekommen, sie zu zeichnen? 
Warum? Ich lese Diffuses über rituelle, religiöse Gründe. Aber der "Uranlass" für diese nie zuvor geschehene Tat - etwas abzubilden - bleibt mir ein Geheimnis. 
Mir wurden in Kinderzeiten Papier und Buntstifte angeboten, ich kritzelte und malte mich durch die Strichmännchenphase in die der Menschenähnlichkeit und hörte, in Folge völligen Talent- und somit Interessemangels, wenige Jahre später damit auf.
Aber irgendwann hat jemand ohne Vorbild, ohne Anleitung Tonerde und Wasser vermischt und ein Bild gezeichnet oder es mit einem spitzen Stein in eine Felswand gekratzt. Er hatte sein eigenes Abbild vielleicht im Wasser eines Sees, das Schattenbild seines Körpers von der Sonne auf die Erde geworfen, erblickt, und machte sich nun daran, selbst ein Abbild von etwas zu erschaffen. Und nicht etwa eins zu eins, sondern unter Weglassung von für seine Absicht unwesentlichen Einzelheiten, versuchte er etwas Wesentliches zu bannen, festzuhalten. Die Essenz? Die Schönheit? Die Kraft? Das Leben?
Ein Zeichen?
Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, dieser Akt war genauso revolutionär, wie der, als einer oder einige das erste Mal Feuer entfachten
Wir konnten nun Mitteilung von uns machen, die länger, viel länger blieb, als wir es selbst konnten, etwas, das unseren schnell vergänglichen Körper überlebte. 
Einen Rest, eine Nachricht, eine Verbindung. 
Und tausende Jahre später kamen Paul Klee, Franz Marc und andere, sahen die Abbilder dieser Bilder, fanden Erinnertes darin und malten es.

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Mühsame Arbeit: 
Die Malerinnen Elisabeth Paul und Katharina Marr beim Kopieren eines Felsbildes in El Richa, Algerien, im Jahr 1935.
© Frobenius-Institut Frankfurt am Main

Leo Frobenius (* 29. Juni 1873 in Berlin; † 9. August 1938 in Biganzolo, Italien) war ein deutscher Ethnologe, sagt Wiki. Eine sehr interessante Biographie, hochkonzentiert auf seine Arbeit nutzte er jedes gerade herrschende politische Sytem, scheinbar ohne Irritation, zur Förderung derselben.

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Drei hockende Gestalten, 
Simbabwe, um das Jahr 8000 bis 2000 v. Chr., Aquarell von Leo Frobenius, 1929.
© Frobenius-Institut Frankfurt am Main

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Liegender mit Hörnermaske
Agnes Schulz, Simbabwe, Rusape, Diana Vow, 1929. © Frobenius-Institut, Frankfurt am Main

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Männer
Simbabwe, Chinamora, Massimbura. 8.000-2.000 v. Chr.

--------------------------------------Aus dem Wikiartikel über Kinderzeichnungen:
 
Die ersten Gebilde auf Kinderzeichnungen, die für Erwachsene etwas Erkennbares darstellen, sind die sogenannten „Kopffüßler“. Sie bestehen zunächst aus einem Kreis mit fühler- oder tentakelartigen Gebilden, die nach allen Richtungen abstehen - dem sogenannten Tastkörper. Er hat zwar Ähnlichkeit mit Sonnendarstellungen auf späteren Kinderbildern, wird aber eher als Ausdruck der momentanen Entwicklungssituation des Kindes selbst, das nach allen Seiten hin Erfahrungen macht und seinen Horizont ausdehnt, angesehen. Später beschränkt sich die Anzahl an angehängten Gliedmaßen auf zwei bis vier und in den Kreis wird ein schematisches Gesicht eingefügt. Warum bei diesen frühen Menschendarstellungen regelmäßig der Rumpf fehlt, obwohl schon sehr viel jüngere Kinder wissen, dass es einen Bauch gibt, und diesen an sich selbst und anderen auch zeigen können, ist umstritten. Gegen Ende der Kopffüßlerphase, wenn sich auch die Strichmännchen entwickeln, werden auch andere Formen, etwa Rechtecke, in das Repertoire aufgenommen, so dass nun auch andere Bildinhalte als nur die „Urlebewesen“ dargestellt werden können.

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 Knabe mit einer Zeichnung
Giovanni Francesco Caroto
1. Hälfte 16. Jh.

Sonntag, 15. Mai 2016

Serien - Wie geht es weiter? - Ein Junkie beichtet.

Vor circa zehn Jahren habe ich, kurz entschlossen, aufgehört Fernsehen zu gucken. 
Nächte, in denen ich zum penetranten Klang von Dauerwerbesendungen aufwachte, in denen mir im halbwachen Zustand gräßliche Gestalten ihre unnützen Angebote in die schlafmüden Ohren brüllten, in denen ich angeschrien und bedrängt wurde jetzt und sofort irgendwelchen Dreck zu kaufen, solche Nächte hatten mich zu dieser Entscheidung gezwungen. Ich war offenbar nicht fähig, das übertragende Gerät auszuschalten, wenn es genug war. Irgendetwas an diesem Medium hypnotisierte mich in einen Zustand verteidigungsloser Willigkeit alles aufzusaugen, was mir visuell und akustisch zugemutet wurde, von inhaltlich und ästhetisch ganz zu schweigen. 
Schluß, aus, genug! 
Ich ging ersteinmal viel ins Kino, heute seltener, weil meine Mutter nicht mehr da ist, mit ihrer jungen und erfrischenden Begeisterungsfähigkeit für nahezu jedwede Form von beweglichen Bildern. Eine Kindheit in Los Angeles mit Triple-Shows am Samstag für einen Dollar hatte sie wohl lebenslang infiziert. Und durch genetische Übertragung dann mich. Mit wem soll ich jetzt in den nächsten Avenger gehen? X-Men Teil XV für mich und der neue Thor für sie. Die 3D-Brillen immer bereit in ihrem Täschchen, da spart man jedesmal 2 Euro, hat sie gesagt. Mist, Mist, Doppelmist!

Wenige, nahezu fernsehfreie Jahre später, haben mich Serien kalt erwischt.

SERIEN sind meine neue Droge. 
Nein, nein, nein, keineswegs alle. Keine Komödien, nix mit Vampiren und Zombies, und nichts aus deutscher Produktion (Mea culpa!). 
Aber eine komplizierte, langwierige, überraschende Geschichte gründlich und langsam, ja, nahezu bedächtig, durch Schauspieler,  Regisseure und ihre Kollaborateure, die ihr Handwerk verstehen, erzählt, packt mich, greift mich am Schlaffitchen, zwingt mich zum Zuschauen, Mitfiebern.
Manche gucke ich im Stück, eine Staffel im Schnelldurchlauf, wie ein Gelage: es ist zwei Uhr nachts, aber eine Episode geht doch noch. Andere ganz ordentlich im Wochenabstand, Happs für Happs mit Genuß und vorfreudiger Ungeduld. 

 
Game of Thrones war in seiner fünften Staffel, ich arbeitete in Heilbronn, das kein Wlan bietet, außer beim örtlichen Starbucks. Dort ist es laaaaaaangsaaaaaam, aber willig. Jeden Montag trank ich dort verlogen betulich anderthalb Stunden einen Latte, bis die neue Episode heruntergeladen war. Illegal und lächerlich, aber wahr.

Vor drei Tagen habe ich meine großartige und sehr ernsthafte Regieassistentin, eine Frau um die 40, tanzen gesehen, in Vorfreude auf Staffel 6.

Homer sang den Zorn des Achilles. 
Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte,
Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs
Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden,
Und dem Gevögel umher. So ward Zeus Wille vollendet:
Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten
Atreus Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus.

Zwischen der fünften und sechsten Staffel vergeht ein Jahr, übervoll von gelebtem Leben und lebendiger Arbeit, und doch weiß ich immer noch, wer wen haßt, wer mit wem bald zusammentreffen muß, wer gestorben ist (oder doch nicht?), wer wen liebt in Westeros. In einer Geschichte mit mindestens sieben Handlungssträngen, Drachen und äußerst unfeministischen Frauenkostümen. In meiner realen Welt macht es mir Mühe die Namen der Hauptakteure, Politiker, Bosse und Bankiers zu erinnern, in der mythischen Fernsehwelt nicht. Warum?

Als ein Grundmuster von Mythologien hat der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell das Motiv der Heldenfahrt erforscht.

Das "Abenteuer des Helden" nach Joseph Campbell

Die Stationen einer Heldenreise stellen sich nach Campbell wie folgt dar:
Der Ruf des Abenteuers (Berufung): Erfahrung eines Mangels oder plötzliches Erscheinen einer Aufgabe
Weigerung: Der Held zögert, dem Ruf zu folgen, beispielsweise, weil es gilt, Sicherheiten aufzugeben.
Übernatürliche Hilfe: Der Held trifft unerwartet auf einen oder mehrere Mentoren.
Das Überschreiten der ersten Schwelle: Er überwindet sein Zögern und macht sich auf die Reise.
Der Bauch des Walfischs: Die Probleme, die dem Helden gegenübertreten, drohen ihn zu überwältigen - zum ersten Mal wird ihm das volle Ausmaß der Aufgabe bewusst.
Der Weg der Prüfungen: Auftreten von Problemen, die als Prüfungen interpretiert werden können (Auseinandersetzungen, die sich als Kämpfe gegen die eigenen inneren Widerstände und Illusionen erweisen können)
Die Begegnung mit der Göttin: dem Helden (oder der Heldin) wird die gegengeschlechtliche Macht offenbar.
Die Frau als Versucherin: die Alternative zum Weg des Helden kann sich auch als vermeintlich sehr angenehme Zeit an der Seite einer (verführerischen) Frau offenbaren

Versöhnung mit dem Vater: die Erkenntnis steht dem Helden bevor, dass er Teil einer genealogischen Kette ist. Er trägt das Erbe seiner Vorfahren in sich, bzw. sein Gegner ist in Wahrheit er selbst.
Apotheose: In der Verwirklichung der Reise des Helden wird ihm offenbar, dass er göttliches Potenzial in sich trägt (in Märchen oft symbolisiert durch die Erkenntnis, dass er königliches Blut in sich trägt).
Die endgültige Segnung: Empfang oder Raub eines Elixiers oder Schatzes, der die Welt des Alltags, aus der der Held aufgebrochen ist, retten könnte. Dieser Schatz kann auch aus einer inneren Erfahrung bestehen, die durch einen äußerlichen Gegenstand symbolisiert wird.
Verweigerung der Rückkehr: Der Held zögert in die Welt des Alltags zurückzukehren.
Die magische Flucht: Der Held wird durch innere Beweggründe oder äußeren Zwang zur Rückkehr bewegt, die sich in einem magischen Flug oder durch Flucht vor negativen Kräften vollzieht.
Rettung von außen: Eine Tat oder ein Gedanke des Helden auf dem Hinweg wird nun zu seiner Rettung auf dem Rückweg. Oftmals handelt es sich um eine empathische Tat einem vermeintlich "niederen Wesen" gegenüber, die sich nun auszahlt.
Rückkehr über die Schwelle: Der Held überschreitet die Schwelle zur Alltagswelt, aus der er ursprünglich aufgebrochen war. Er trifft auf Unglauben oder Unverständnis, und muss das auf der Heldenreise Gefundene oder Errungene in das Alltagsleben integrieren. (Im Märchen: Das Gold, das plötzlich zur Asche wird)
Herr der zwei Welten: Der Held vereint Alltagsleben mit seinem neugefundenen Wissen und damit die Welt seines Inneren mit den äußeren Anforderungen.
Freiheit zum Leben: Das Elixier des Helden hat die "normale Welt" verändert; indem er sie an seinen Erfahrungen teilhaben lässt, hat er sie zu einer neuen Freiheit des Lebens geführt.

Mittwoch, 11. Mai 2016

Das soll ich sein?

Ein kleiner Albtraum. Heute nacht nach einem heftigen Probentag weisen mich Facebookfreunde darauf hin , dass auf MDR ein alter DEFA-Film mit mir läuft. "Vernehmung der Zeugen" von Gunther Scholz. Ein junger Mann tötet seinen Mitschüler, die Zeugen werden befragt. Ich spiele eine Lehrerin namens Frau Schulenburg. In meinem Hirn herrscht nahezu völlige Amnesie. 
Ich erinnere mich an einen heißen Sommer, ich weiß, ich war sehr verliebt in einem Haus im Brandenburgischen, ein Tatra holte mich jeden Morgen zum Dreh ab. Das Kind war klein und erfand täglich exotische Gerichte aus frischen Blaubeeren, Gartensand und Schlagsahne. Die Knutschflecke am Hals mußten überschminkt werden. Das Gelächter der sehr jungen Kollegen am Set. Heute sind viele davon "gestandene" Spieler, aber einige sind aus dem Beruf verschwunden. Da war Hoffnung und dann war keine mehr.
Meine große Szene habe ich leider verpasst und hänge vor dem Fernseher und blicke fremd und verstört in eine längst vergangene Zeit. 
Diese verflixte kleine pissige DDR mit ihrer deprimierenden beigen Farblosigkeit. Der Film ist beklemmend hölzern und doch irgendwie rührend in seiner bemühten Ernsthaftigkeit. Alle versuchen so sehr ehrlich, so sehr wahrhaftig zu sein, hier und da ein gewagter Satz, gewagt nach den Regeln der Zensur, an die wir alle gewöhnt waren. 
Jeder berlinert was das Zeug hält, denn berlinern ist authentisch.
Zwischendurch tolle Schauspieler, Christine Schorn, Henry Hübchen, die unfaßbar wunderbare Gudrun Okras.
Und inmitten dieses Kuddelmuddels ich, im Jahr 1987. 29 Jahre alt. und ich erkenne mich nicht. Ich spiele das ganz gut. Nicht peinlich. Aber ich weiß ums Verrecken nicht mehr, wer die Frau war, die da agiert. 
Sicher im Theater verschwindest Du, wenn Du nicht mehr spielst, oder wie Schiller es besser formuliert, uns Mimen flicht die Nachwelt keinerlei Kränze, aber Dir selbst so zuzuschauen, wie Du ohne Deine jetzt gemachten Erfahrungen mit einem Gesicht frischer, doch fremder, Sätze, an die Du Dich nicht erinnerst, sprichst ist surreal. Wer war ich?


Montag, 9. Mai 2016

Monet & Manet

MONET & MANET

Claude Oscar Monet (* 14. November 1840 in Paris; † 5. Dezember 1926 in Giverny, geboren Oscar-Claude Monet) war ein französischer Maler, dessen mittlere Schaffensperiode der Stilrichtung des Impressionismus zugeordnet wird. Er starb mit mit 86 Jahren.

Édouard Manet (* 23. Januar 1832 in Paris; † 30. April 1883 ebenda) war ein französischer Maler. Er war eine der wichtigsten Wegbereiter des Übergangs von der realistischen zur impressionistischen Malerei. Er wurde nur 51 Jahre alt.


Auf dem ersten großen Filmplakat meines Lebens, außen am Kino International, stand in großen Lettern Johanna Schell. Auch eine interessante Familie, aber nicht meine.

Monet & Manet, wer ist wer? Helfen Eselsbrücken?

Monet ist der mit den Mohnfeldern.

1873

Aber Monet ist auch der mit den Wasserlillien. Oh.


Manet hat Olympia gemalt.

 1863

 Aber auch von Manet ist das Frühstück im Grünen. Verdammter Müst!
1863

Eselsbrücken helfen nicht wirklich. Hat jemand einen besseren Vorschlag?

NAME IST SCHALL UND RAUCH

Die Gretchenfrage 

Nun sag. Wie hast Du’s mit der Religion? 
Du bist ein herzlich guter Mann. Allein, 
ich glaub, du hältst nicht viel davon? 
Die Faustantwort

Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen:
Ich glaub’ ihn.
Wer empfinden
Und sich unterwinden
Zu sagen: Ich glaub ihn nicht?

...
Nenn es dann, wie du willst,
Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsglut.“

Freitag, 6. Mai 2016

e.e. cummings - ich werde weit waten - i will wade out

waten - auf nachgebendem Untergrund gehen, wobei man einsinkt und deshalb die Beine beim Weitergehen anheben muss, 
so definiert es Wiki
waten - im Wasser oder auf nachgebendem Untergrund langsam gehen, wobei die Beine bei jedem Schritt nacheinander angehoben werden, #
so beschreibt es Wiktionary
MYSTERIÖS - GEHEIMNISVOLL
ich werde weit hinaus waten
 bis meine hüften von brennenden blumen bedeckt sind
ich werde die sonne in meinen mund nehmen
und in die fette luft springen
Lebendig
mit geschlossenen augen
um gegen dunkelheit zu rasen
in den schlafenden kurven meines körpers
Werde finger verwenden von geschmeidiger Meisterschaft
mit keuschheit von meermädchen
Werde ich das rätsel
meines fleisches vollenden
ich werde auferstehen
blumen
küssend
und meine zähne in das silber des mondes versenken
 

 

i will wade out
till my thighs are steeped in burning flowers
I will take the sun in my mouth
and leap into the ripe air
Alive
with closed eyes
to dash against darkness
in the sleeping curves of my body
Shall enter fingers of smooth mastery
with chasteness of sea-girls
Will i complete the mystery
of my flesh
I will rise
After a thousand years
lipping
flowers
And set my teeth in the silver of the moon
e.e. cummings

brennende rose
© StainXY
 

Sonntag, 1. Mai 2016

Berlin im Frühling - Das Gallery Weekend

20 Grad, Berlin blüht, Berliner benehmen sich südländisch, Touristen benehmen sich noch touristischer als sonst, und die, die so tun, als sein sie Berliner - würde ich anderswo vielleicht auch versuchen  -  fallen noch mehr auf, weil sie nicht augenblicklich in berlinisch überbordende Sommerlaune verfallen. 
Und dann auch noch das durch und durch künstliche und doch funktionierende "Event" - das Gallery Weekend. Total English. Die Kreativszene bzw., hunderte Leute jeden Alters drängeln sich durch die engen Straßen, an denen sich Kunstgalerien gemeinhin ansiedeln, die Augen und das Hirn überfüllt mit einer Mischung aus Kunst, Kitsch, Angestrengtheit und den verzweifelten Versuchen von hoffnungsvollen Künstlern, sich auf dem völlig unübersichtlichen Markt zu positionieren. Yves Klein in weiß umd grau, Olafur Eliasson in Designerschick, aber eben auch unbekannter Otto Dix. 
In einer Ateliergalerie im ersten Stock des Seitenflügels erster Hinterhof die Zeichnung eines alten Mannes mit einer Gouache der zartesten Frühlingsblumen als Kranz ums Haupt, ein kleiner gelber König hockt auf einem zu großen Thron und ein weintrinkender Maler erkärt: Das Porträt brauchte 40 Minuten, die Gouache zwei ganze Tage. Der Maler war schmal, schön und nicht wohlhabend. Ein Maler. Sein "Manager" trank auch Weißwein und war noch schmaler.
In anderen Galerien gab es an der Rezeption gutaussehende Mädchen um die 20 und ihre männlichen Equvivalent, Praktikanten, unterbezahlt und professionell stilsicher und  unterkühlt.
Selbst die Ausstattung der Kunsteifrigen ist bemerkenswert. Bedachtes stilsicheres Ganzkörperkostüm neben hoffnungslos schlechtsitzendem H&M - Gemisch.
Mein Job ist schon recht erfolgs- und ergebnisorientiert. Aber die armen bildenden Künstler, allein in ihren mehr oder weniger komfortablen Ateliers, die haben es wirklich schwer.

Otto Dix "Soldat" mit Stahlhelm nach rechts blickend; Gouache 1917


 Otto Dix Selbstportät
 Otto Dix Frau

Einmal im Jahr, zum Gallery Weekend Berlin, schließen sich einige der renommiertesten Galerien Berlins zusammen, öffnen ihre Türen und laden nationale und internationale Sammler, Kuratoren und Kunstinteressierte in ihre Räumlichkeiten, um aktuelle Arbeiten ihrer Künstler zu präsentieren. 
... Mit seinem Zusammenspiel aus Ausstellungsbesuchen, Berlinerlebnis und gesellschaftlichem Ereignis zieht das Gallery Weekend Berlin für drei Tage Sammlern, Kuratoren und Kunstliebhabern aus aller Welt in die Stadt. Rund 1.200 geladene nationale und internationale Sammler, Kuratoren und Vertreter von Museen und Institutionen und um die 20.000 Kunstinteressierte besuchen die Ausstellungen des Gallery Weekends jedes Jahr.

Peter Puklus Einundeinhalb Meter

Die ehemalige Max-Planck-Oberschule, jetzt ein Galerienhaus

Freitag, 29. April 2016

Schädliche, schlechte Scheißgedichte

Die Lieblingsnichte besucht nunmehr die 6. Klasse und erlernt dort, unter anderem, auch den guten Gebrauch der deutschen Sprache. Ja. Tut sie. Dachte ich. Rechtschreibung, Grammatik, leider völlig unsystematisch und unspielerisch, und eben auch Lyrik.
Wenn die Lieblingsnichte mir ihre teils erlebten, teils aus der Luft gegriffenen Abenteuer erzählt,  zaubert sie die verblüffendsten Wörter aus ihrem Hirn, wie aus einer Wundertüte, aufgeschnappt, halbgehört, ausprobiert, gekostet. Und wenn ich ihr ein neues Wort vorschlage, freut sie sich geradezu diebisch. "Angsteinflößend" hat sie erst dreimal gesungen und dann als Pantomime dargestellt - ein großes Glas Angst die Kehle runter, die dabei krampfhaft schluckt.
Nun steht eine Gedichtsinterpretation an. Sowas habe ich schon immer gehaßt. Man nimmt ein wehrloses Gedicht, greift es an der Kehle, quetscht ihm seinen behaupteten eineindeutigen Sinn aus dem Maul und läßt es keuchend, poesieentleert und halbtot zurück. 
Und jetzt kommt der traurige Clou. Das zu interpretierende Gedicht selbst, hier zwei seiner scheußlichen drei oder vier Strophen, ist ein Scheißgedicht. Fremd reimt sich auf benennt, der Rhythmus ist marschmusikartig und der Inhalt... der Inhalt, die Aussage ist simpel, blöd und gutgemeint. Es gibt nix Schlimmeres als gutgemeint, weil man wegen der guten Absicht auch noch ein schlechtes Gewissen haben soll, wenn man Schund Schund nennt.
...

Das Fremde bleibt so lange fremd
bis es begrüßt berührt bekennt:
Du bist nicht fremd, du bist vertraut
Gefühle werden aufgetaut.

Das Fremde bleibt so lange fremd
bis es begrüßt berührt bekennt:
Das Anderssein ist interessant
Probieren wir`s, nimm meine Hand!

Erwin Grosche
Die armen, armen Kinder. 
Als ich meine kanadischen Schauspielstudenten im dritten Jahr nach ihrem Lieblingsgedicht fragte, antwortete mir ein gigantisches langes Schweigen. Gerade ein paar mittelgute Liedtexte konnte ich ihnen mühsam abringen. 
Ich liebe Gedichte, ich liebe gute Gedichte. Lange, kurze, klare, mysteriöse, gereimte, und solche freier Art. Traurige, absurde, spirituelle, kabarettistische, wortverspielte, strenge und alberne. Eingekochte Sprache, Dichte, Musik, Bilder, Wendungen, Melodie.
Aber manchmal fühle ich mich wie ein abgewrackter Handlungsreisender, der bettelnd und unterwürfig durch die Gegend rennt und Leuten eine Ware anbietet, die sie ums Verrecken nicht wollen.
Und dann muß ich auch noch erleben, wie man meiner süßen kleinen Sprachabenteurerin abgedroschene Klischees als Poesie verkauft und ihr möglicherweise ihre Spracheroberungslust zerstört. O weh. O weh.
 Das Bild einer Schlange, die einen Elefanten verdaut, einer Schlange mit äußerst dickem Bauch, erscheint Menschen, denen man die Poesie ausgetrieben hat, wie die Darstellung eines schiefen Hutes.
"Der Kleine Prinz" Antoine de Saint-Exupéry

DER MENSCH

Der Mensch Empfangen und genähret
Vom Weibe wunderbar
Kömmt er und sieht und höret
Und nimmt des Trugs nicht wahr,

Gelüstet und begehret
Und bringt sein Tränlein dar,
Verachtet und verehret,
Hat Freude und Gefahr,

Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
Hält nichts und alles wahr,
Erbauet und zerstöret
Und quält sich immerdar,

Schläft, wachet, wächst und zehret
Trägt braun und graues Haar.
Und alles dieses währet,
Wenn's hoch kommt, achtzig Jahr.

Denn legt er sich zu seinen Vätern nieder,
Und er kömmt nimmer wieder.
 Matthias Claudius

Mittwoch, 27. April 2016

Alles rennet, rettet, flüchtet.

Heute im Radio ist mir das erste Mal aufgefallen, dass "wir" jetzt Geflüchtete anstatt Flüchtlinge sagen. Warum?

Als Kind begenete ich dem Wort Flucht zuerst durch Richard Kimble, dem Mann im Westfernsehen auf seiner nicht enden wollenden Flucht vor der Polizei, seinerseits einen fliehenden Einarmigen verfolgend. Meine Mutter war 1933 mit ihren Eltern aus Deutschland geflohen, 6 Länder in 6 Jahren. Sie sprach selten darüber. Emigrieren klingt so ganz anders als fliehen, irgendwie elegant, auch harmloser. Dann waren da Vertriebene, Deutsche, die in Schlesien gelebt hatten, Verwandte meiner Nenntante. Sie waren Kleinbauern, trauerten um ihre Felder und Häuser, die vertrauten Landschaften. Dann geflüsterte Gerüchte über Fluchtversuche aus der DDR in den Westen, die Spree durchschwimmend mit Pappschwänen auf dem Kopf. Rübermachen, abhauen. Den grauenerregenden Ernst dieser Geschehnisse begriff ich nicht sofort. Und als ich ihn verstand, wurde das Land in dem ich lebte mir vollends fremd.

Flucht, Zuflucht, Flüchtling, Fliehender, Geflüchteter, Asylant, Emigrant, Immigrant, Einwanderer, Vertriebener, Verjagter, 
flüchtig, verflucht   

 Berühmter Flüchtling: Volkspolizist Conrad Schumann 1961.
© Peter Leibing
 
Wiki sagt: Flucht ist eine Reaktion auf Gefahren, Bedrohungen oder als unzumutbar empfundene Situationen. Meist ist die Flucht ein plötzliches und eiliges, manchmal auch heimliches Verlassen eines Aufenthaltsortes oder Landes. Die eilige Bewegung weg von der Bedrohung ist oft ziellos und ungeordnet, eine Flucht kann aber auch das gezielte Aufsuchen eines Zufluchtsortes sein. Fluchtverhalten gehört zum natürlichen Verhaltensrepertoire von Tieren.

Was hat es also mit dem Wort Flüchtling auf sich? Beim Nachlesen habe ich gelernt, dass es keine weibliche Form hat, dass die Endsilbe "-ling" einen abwertenden Beigeschmack erzeugt, wie bei Schönling oder Hämpfling. Geflüchteter klingt auch aktiver. Trotzdem wäre ich eher für Verjagter oder, weiblich, Verjagte. Verjagt aus ihrer Heimat durch Krieg, Gewalt, Hass, Armut und Not, die eigentlichen Reiter der Apokalypse. 

Kritik am Begriff "Flüchtling"

Der Begriff „Flüchtling“ wird von einigen Initiativen kritisiert. Hinter der Versächlichung, die durch das Suffix „-ling“ entsteht, verschwinden persönliche Hintergründe von Personen, Bildungs- und Berufsgeschichten, persönliche Interessen und politische Meinungen. Daher ist es angebrachter, von „geflüchteten oder geflohenen Menschen“ zu sprechen.
Sächsischer Flüchtlingsrat

Hier endet das Gendern

Klingt das Wort „Flüchtling“ für sprachsensible Ohren abschätzig? Eine weibliche Form jedenfalls kann mit ihm nicht gebildet werden. Doch was gäbe es für Alternativen?
 

Wider den Begriff Flüchtling

 
Der Titel ist ein Zitat aus "Der Glocke" von F. Schiller

Albert Camus - Die Krise des Menschen - 1946

Ende März 1946 hielt Albert Camus einen Vortrag an der Columbia University in New York: Unter dem Titel »The Human Crisis« erschien die englische Übersetzung des Vortrags im selben Jahr in der New Yorker Zeitschrift Twice A Year. Das französische Original gilt als verschollen, so dass die Pariser Nouvelle Revue Française 1996 eine Rückübersetzung veröffentlichen musste, die Faust-Kultur hier erneut veröffentlicht.
100. Geburtstag von Albert Camus am 7. november 2013

Die Krise des Menschen

Von Albert Camus
Lassen Sie mich zuerst den Standort meiner Generation bestimmen. Die Menschen meines Alters wurden kurz vorm oder im Ersten Weltkrieg geboren, durch­leb­ten ihre Jugend in der Welt­wirt­schaftskrise und waren etwa zwanzig, als Hitler an die Macht kam. In Europa und Frank­reich erhielten sie zur Abrundung ihrer Bildung den Spanischen Bürgerkrieg, München, den Kriegs­aus­bruch 1939, die Nie­der­lage und vier Jahre Besatzung und Widerstand. Das dürfte gemeint sein, wenn man diese Generation als interessant bezeichnet. Deshalb dachte ich, dass nicht ich nur in meinem Namen zu Ihnen sprechen sollte, sondern im Namen von Franzosen, die heute dreißig Jahre alt sind und deren Hirne und Herzen sich in jenen furchtbaren Jahren gebildet haben, als sie und ihr Land sich von Schande nährten und lernten, nicht mehr mitzumachen.
Ja, eine interessante Generation ist es, vor allem deshalb, weil sie angesichts der absur­den Welt, die ihnen hinterlassen worden war, an nichts glaubte und in der Revolte lebte. Die Li­te­ratur ihrer Zeit revoltierte gegen Klarheit, Erzählung und sogar gegen den Satz. Die Malerei verwarf den Gegenstand, die Wirklichkeitstreue und sogar die Proportion. Die Musik schaffte die Me­lo­die ab. Die Philosophie schließlich lehrte, dass es keine Wahrheit gebe, son­dern nur Phänomene: dass es Mister Smith, Monsieur Durand und Herrn Vo­gel geben mochte, aber nichts diesen drei Ein­zel­phä­no­me­nen Gemeinsames. Die moralischen Vorstellungen dieser Ge­ne­ration gingen sogar noch weiter: Nationalismus hielt sie für über­leb­t, Religion für Flucht; die fünfundzwanzig Jahre politi­sches Weltgeschehen ­hatten sie gelehrt, jede echte Über­zeu­gung in Zweifel zu ziehen und zu mei­nen, dass nie­mand Unrecht habe, da jeder Recht haben könne­. Was die traditionelle Moral unserer Gesellschaft anbelangte, so war sie, was sie noch immer ist: eine mon­strö­se Heuchelei.
So verneinte diese Generation alles. Das war an und für sich nichts Neues. Andere Gene­ra­tio­nen in anderen Ländern hatten dieselbe Erfahrung in anderen Epochen gemacht. Neu war nur, dass Menschen, die allen Wertsetzungen entfremdet waren, sich zu einer Welt verhalten mussten, in der Mord und Terror herrschten. Die Widersprüche, in die sie dabei gerieten, waren so grau­sam, dass sie auf eine Krise des Menschen überhaupt schlossen. Sie traten in den Krieg ein, wie man in die Hölle eintritt, wenn es denn wahr ist, dass die Hölle die Verneinung von allem ist. Sie, die weder Krieg noch Gewalt suchten, mussten den Krieg mitmachen und Gewalt ausü­ben; sie, die nichts hassten als den Hass, mussten dessen strenge Disziplin lernen. In offenem Ge­gen­satz zu sich selbst, ohne jede Anleitung durch überlieferte Werte, hatten sie die schwersten menschli­chen Konflikte auszuhalten. So ist da auf der einen Seite diese besondere Generation, die ich eben beschrieben habe, und auf der anderen eine Krise von weltweiten Ausmaßen, eine Krise des Gewissens, die ich jetzt so klar wie möglich charakterisieren möchte.
Statt sie allgemein zu beschreiben, möchte ich sie durch vier kurze Geschichten illustrieren, Geschichten aus einer Zeit, die die Welt zu vergessen anfängt und die doch noch in unseren Herzen brennt.
1) In einer europäischen Hauptstadt findet die Hausmeisterin in einer von der Gestapo gemieteten Wohnung morgens zwei in der Nacht Verhörte vor, noch blutend und gefesselt; sorg­fäl­tig richtet sie den Raum wieder her – guter Dinge, sicher kommt sie gerade vom Früh­stück. Als einer der gefolterten Männer ihr Vorhaltungen macht, empört sie sich: “Ich mische mich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten meiner Mieter ein.”
2) In Lyon wird einer meiner Genossen zum dritten Verhör aus der Zelle geholt. Bei einem der beiden ersten Verhöre sind ihm die Ohren zerfetzt worden, und er trägt einen Verband um den Kopf. Der deutsche Offizier, der ihn hereinführt, derselbe, der an dem früheren Verhör teilgenommen hatte, fragt ihn wie mit besorgter Anteilnahme: “Was machen Ihre Ohren?”
3) In Griechenland hat ein deutscher Offizier nach einem Partisanenüberfall drei Brüder als Geiseln genommen und trifft Anstalten, sie erschießen zu lassen. Die alte Mutter der drei bit­tet um Gnade, und er erklärt sich bereit, einen der Söhne zu verschonen, aber unter der Bedin­gung, dass sie selber bestimme, welchen. Als sie sich dazu nicht entscheiden kann, machen sich die Soldaten schussbereit. Schließlich zeigt sie auf den Ältesten, weil der eine Familie zu ernähren hat, und verurteilt damit zugleich die beiden anderen Söhne – wie es der deutsche Offi­zier beabsichtigt.
4) Eine Gruppe deportierter Frauen, darunter eine Genossin, wird über die Schweiz nach Frankreich repatriiert. Kaum auf Schweizer Boden, sehen sie eine Beerdigung. Der bloße An­blick versetzt sie in hysterisches Lachen: ”So also geht man hier mit den Toten um”, sagen sie.
Ich habe diese Geschichten nicht wegen ihres Sensationsgehalts ausgewählt. Ich weiß, wie zartbesaitet die Welt ist und dass man lieber die Augen verschließt, als sich stören zu lassen. Diese Geschichten habe ich auswählt, weil ich nun anders als mit einem konventionellen ja auf die Frage ant­worten kann: “Ist der Mensch in einer Krise?” Nun kann ich so antworten, wie es diejenigen, von denen ich sprach, getan haben: Ja, der Mensch ist in einer Krise, weil Tod oder Folter eines Menschen in unserer Welt mit Gleichgültigkeit, mit wissenschaft­li­cher Neugier oder auch ganz ohne Reaktion mit­an­ge­­se­hen werden. Ja, der Mensch ist in einer Krise, weil die Tötung eines Menschen anders als mit Abscheu und Scham, die sie hervorrufen sollte, betrachtet werden kann. W­eil Trauer wie eine leidige Verpflichtung empfunden wird, etwas ­wie der Um­stand, um Lebensmittel anstehen zu müssen ­– deshalb ist der Mensch in einer Krise.
Es ist zu leicht, einfach Hitler die Schuld daran zu geben und zu sagen, da die Schlange zertreten sei, sei auch das Gift aus der Welt. Denn wir wissen ganz genau, dass dieses Gift nicht aus der Welt ist, dass wir alle es in unseren eigenen Herzen tragen, wie sich an dem Argwohn zeigt, mit dem Nationen, Parteien und Individuen sich unverändert begegnen. Ich war immer der Auffassung, dass eine Nation für ihre Verräter ebenso verantwortlich sei wie für ihre Helden. Aber das gilt auch für eine Zivilisation, und die Zivilisation des weißen Mannes insbesondere ist für ihre Perversionen genauso verantwortlich wie für ihre Ruhmes­taten. So gesehen ­sind wir alle für den Hitlerismus verantwortlich und verpflichtet, den tieferen Ursachen dieser Pest nachzufor­schen, die das Gesicht Europas entstellt hat.
Versuchen wir nun, anhand der vier Geschichten, die ich erzählt habe, die deut­lich­sten Symptome der Krise aufzuzählen. Es sind die folgenden:
1) Gewaltherrschaft als Folge einer derartigen Pervertierung von Werten, ­dass ein ein­zel­ner oder eine historische Kraft heute nicht nach ihrer Menschenwürde, son­dern nach ihrem Er­folg beurteilt werden. Die Krise der Moderne ist deutlich daran abzulesen, dass im Westen keiner sei­ner unmittelbaren Zukunft mehr sicher ist, während jeder mit der Gewissheit zurecht­kom­men muss­, so oder so unter die Räder der Geschichte zu geraten. Soll der Hiob unserer Zeit nicht an seinen Wunden auf dem Misthaufen verenden, muss erst einmal die Hypothek von Furcht und Angst getilgt werden, damit er die geistige Freiheit wiederfindet kann, ohne die keins der Probleme, vor denen unsere Gewissen heute steht, zu lösen ist;
2) das Unvermögen, zu überzeugen. Menschen leben ­– und können nur leben – in dem Glau­ben an etwas allen Gemeinsames, etwas, auf das sie sich immer zurückbeziehen können. Wenn man zu einem Menschen menschlich spricht, erwartet man Reaktionen, die ebenfalls mensch­lich sind. Stattdessen haben wir erlebt, dass es Menschen gibt, die man nicht überzeugen kann. Ein KZ-Häftling konnte unmöglich die SS-Männer, die ihn schlugen, vom Unrecht ihres Tuns überzeu­gen. Die griechische Mutter, von der ich sprach, konnte unmöglich den deutschen Offizier davon überzeugen, dass er ihr mit seiner Grausamkeit das Herz brach. Denn SS-Leute und deutsche Offiziere waren keine Menschen mehr, keine Vertreter der Spezies Mensch, sondern zur Idee oder Theorie erhobener Instinkt. Lei­den­schaft, selbst mörderische, wäre weni­ger teuf­lisch gewesen, denn Leidenschaft erschöpft sich irgendwann. Hingegen ein Mensch, der imstande ist, nach dem Zustand der Ohren zu fragen, die er vorher selber zerfetzt hat, der ist nicht von Leidenschaft getrieben, der ist wie ein mathe­ma­­ti­­sches Theorem, das durch nichts aufgehalten oder umgelenkt werden kann;
3) die Ersetzung der natürlichen Sache durch bedrucktes Papier, womit ich das Über­hand­­neh­­men der Bürokratie meine. Der moderne Mensch schiebt zwischen sich und die Na­tur eine immer ab­straktere und kompliziertere Maschinerie, die ihn in die Einsamkeit stößt. Aus Papier, Büros und Beamten ist eine Welt entstanden, aus der alle menschliche Wärme geschwun­den ist und wo der Kontakt von einem zum andern nur noch durch ein Labyrinth von Formali­tä­ten führt. Der deutsche Offizier, der meinem Genossen besänftigend in die geschun­de­nen Ohren sprach, glaubte so handeln zu dürfen, weil der Schmerz, den er ihm zugefügt hatte, zu seinen Dienstaufgaben gehörte, folglich eigentlich nichts Böses geschehen war. Kurz, wir sterben, lieben oder töten nur noch im Auftrag;
4) die Ersetzung des Menschlichen durch das Politische. Individuelle Leidenschaften gibt es nicht mehr, nur noch kollektive, also abstrakte Leidenschaften. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen politisch sein. Was heute zählt, ist nicht, ob man eine Mutter achtet und ihr Leid erspart – was heute zählt, ist nur noch, ob man einer Doktrin zum Triumph verholfen hat oder nicht. Menschliches Leiden ist kein Skandal mehr, sondern nur noch ein Posten auf einer Rechnung, deren Schreckenssumme erst noch gezogen werden muss;
5) der all diesen Symptomen gemeinsame Nenner, den wir als den Kult von Effizienz und Abstraktion beschreiben können. Das ist der Grund, warum der europäische Mensch heute nichts als Einsamkeit und Schweigen erfährt. Er kann sich anderen Menschen nicht mitteilen, weil es keine Werte mehr gibt, die alle teilten. Deshalb kann er nicht mehr der Achtung durch andere sicher sein, und ihm bleibt nur noch die Wahl, Opfer oder Henker zu werden;

II.

Das ist die Erfahrung meiner Generation, und das ist die Krise, in der sie sich befand und immer noch befindet. Ihr mussten wir uns stellen und dabei Orientierungshilfe suchen, wo wir sie fan­den, also nirgends, außer im Bewusstsein von der Absurdität unserer Situation. So mussten wir in den Krieg und dem Grauen ins Auge sehen, ohne den Trost letzter Gewissheiten zu haben. Wir wussten nur, ­dass wir den Bestien, die in Europa die Macht an sich gerissen hatten, nicht nach­geben durf­ten, aber nicht, wie wir, was wir für unsere Pflicht hielten, in der Lage, in der wir uns be­fan­den, rechtfertigen sollten. Selbst die Nachdenklichsten unter uns wussten nicht, im Na­men was für eines Prinzips sie sich dem Terror widersetzen und Mord als Mittel zum Zweck ablehnen sollten.
Denn wenn man an nichts glaubt, wenn nichts Sinn hat und es keine Werte mehr gibt, dann ist alles erlaubt und nichts hat Bedeutung. Dann gibt es weder Gut noch Böse, und Hitler hatte weder Unrecht noch Recht. Man kann Millionen Unschuldiger ins Krematorium schicken oder sich für die Krankenpflege aufopfern. Man kann einem Mann mit der einen Hand die Ohren zerfetzen, um sie mit der andern zu streicheln. Man kann in der Gegenwart von Folteropfern die Wohnung aufräumen. Man kann die Toten ehren oder sie beseitigen wie Müll. Das eine ist so gut wie das andere. Und weil alles sinnlos zu sein schien, mussten wir schließen, dass der Erfolg allein zähle. Solche Skeptiker gibt es ja noch heute, die Ihnen erzählen, dass, wenn Hitler diesen Krieg zufällig gewonnen hätte, die Geschichte das, was er verkörperte, gutgeheißen und dem widerli­chen Postament, auf dem er dann thronte, ihre Reverenz erweisen würde. In der Tat hät­te die Geschichte, so wie sie sich heute darstellt, Hitler dann heiliggesprochen und Mord und Terror gerechtfertigt, so wie wir alle Mord und Terror rechtfertigen, wenn wir dem Gedanken nachge­ben, alles sei sinn­los.
Gewiss, einige von uns ließen sich davon überzeugen, dass man in Erman­ge­lung höherer Werte immer noch an einen Sinn der Geschichte glauben könne, jedenfalls handelten sie immer so, als sei das ihre Über­zeugung. Sie erklärten den Krieg für notwendig, weil er die Epo­che der Na­tionalismen beenden und ein Zeitalter herbeiführen würde, in dem die Imperien un­frei­willig oder freiwillig einer Weltgesellschaft und dem Paradies auf Erden Platz machen würden.
Aber damit kamen sie zu Schlussfolgerungen, zu denen sie auch ge­kom­men wären, wenn sie wie wir anderen alles für sinnlos gehalten hätten. Denn wenn die Ge­schich­te überhaupt Sinn hat, dann muss dieser alles umfassen, oder es wäre keiner. Diese Menschen dachten und han­del­ten, als gehorche die Geschichte irgendeiner transzendentalen Dialektik und als bewegten wir uns alle auf irgendein bestimmtes Ziel zu. Sie dachten und handelten nach dem schrecklichen Grund­satz He­gels, der Mensch sei für die Geschichte gemacht, nicht die Geschichte für den Menschen. Tatsa­che ist, dass der ganze politische und moralische Pragmatismus, der heute in der Welt herrscht, oft durchaus ungewollt jener deutschen Geschichtsphilosophie entstammt, nach der die ganze Mensch­heit mit rationalen Schritten auf einen harmonischen Endzustand zumarschiert. Der Nihilismus ist einer Art von absolutem Rationalismus gewichen, aber beide führen zu denselben Ergebnissen. Denn wenn es wahr ist, dass die Geschichte durch eine unfehlbare und fatale Logik bestimmt ist, wenn es wahr ist, wie diese deutsche Philosophie behauptet, dass auf die Anarchie der Feudalstaat, auf den Feu­dalstaat der Nationalstaat und auf die Nationen Imperien mit dem Endziel einer Welt­gesellschaft folgen, dann ist alles, was diesem vorbestimm­ten Endziel dient, gut, und die Er­folge der Geschichte sind unabweisbare Wahrheiten. Und da diese Erfolge nur in üblicher Weise ­durch Kriege und Intrigen, durch die Ermordung Einzelner und ganzer Völker ­erreicht werden können, so können Handlungen nicht nach gut oder schlecht beurteilt werden, sondern nur nach zweck­dienlich oder zwecklos.
Die Versuchung der Menschen meiner Generation war eine doppelte: entweder nichts für wahr zu halten oder die Wahrheit allein in der Unterwerfung unter eine historische Vorbe­stim­­mung zu sehen. Weil viele einer dieser beiden Versuchungen erlegen sind, konnte die Welt Usurpatoren in die Hände fallen und schließlich von Terror regiert werden. Denn wenn nichts wahr oder falsch ist, gut oder böse, wenn Effizienz der einzige Wert ist, dann ist die einzige Regel, an die man sich halten kann, die, der Effizienteste zu sein, und das heißt: der Mächtigste. Dann ist die Welt nicht mehr in Gerechte und Ungerechte eingeteilt, son­dern in Herren und Sklaven. Recht hat, wer die Macht hat. Die Hausmeisterin hat Recht, die Gefolterten ­Unrecht. Der deutsche Offizier, der die Folter anordnet, und derjenige, der sie ausführt – die zu Totengrä­bern gewordenen SS-Leute –, das sind die Vernünftigen dieser neuen Welt. Sehen Sie nur einmal um sich, ob es nicht noch immer so ist. Immer noch stecken wir mit dem Kopf in der Schlinge der Gewalt und werden erdrosselt. Im Innern jeder Nation wie in der ganzen Welt sind Miss­trau­en, Rachsucht, Habgier und Machtwille dabei, ein Reich der Finsternis und Verzweiflung zu errichten, wo jeder in den Grenzen des Jetzt zu leben gezwungen ist – das bloße Wort “Zukunft” macht ihm schon Angst –, abstrakten Mächten ausgeliefert, hilflos und durch die Hast des Daseins abgestumpft, ohne selbstverständliche Wahr­heiten, reflektierte Muße und einfache Freu­den.

III.

Wenn die Symptome der Krise wirklich Machtgier, Terror, Verdrängung des wirklichen Men­schen durch den politischen und historischen Menschen, Herrschaft von Abstraktion und Fatum, Einsamkeit ohne Zukunft sind und wir diese Krise überwinden wollen, so müssen wir bei den Symptomen ansetzen. Das ist die ungeheure Aufgabe, vor der unsere Generation steht, ohne sich dabei an irgendetwas halten zu können. Ja, gerade aus der Verneinung muss sie die Kraft für diese Aufgabe schöpfen. Man brauchte uns gar nicht erst zu sagen: du musst an Gott, an Plato oder an Marx glauben, denn das Problem war, dass wir zu keinerlei Glauben imstande waren. Unsere Frage war einzig und allein, ob wir uns auf eine Welt, in der man nur Op­fer oder Henker sein konnte, einlassen sollten oder nicht. Dabei versteht sich von selbst, dass wir weder Opfer noch Henker sein wollten, weil wir tief in unseren Herzen wussten, dass selbst diese Unterscheidung nur eine scheinbare war und wir im Grunde genommen alle Opfer waren und dass Mörder und Ermordete schließlich in derselben Niederlage vereint sein würden. Insofern ging es also gar nicht mehr da­rum, ob wir uns auf diese Situation und diese Welt einlassen sollten oder nicht, sondern darum, festzustellen, mit was für ­Gründen wir uns dagegen widersetzen könnten.
Darum haben wir unsere Gründe in unserer Revolte selbst gesucht, die uns unwillkürlich ­­dazu getrieben hatte, den Kampf gegen das Unrecht zu wählen. Uns wurde klar, dass wir nicht nur um unser selbst willen revoltiert hatten, sondern für etwas allen Menschen Gemein­sames.
Aber was bedeutete in einer Welt ohne Werte, die unsere Herzen verwüstet hatte, eigent­lich unsere Revolte? Sie hat Menschen aus uns gemacht, die nein sagten. Gleichzeitig aber waren wir auch Jasager. Wir sagten nein zu dieser Welt, zu ihrer Absurdität, zu den Abstraktio­nen, die uns bedrohten, zu der Zivilisation des Todes, die uns da angerichtet wurde. Indem wir nein sag­ten, erklärten wir, dass es so nicht mehr weitergehen konnte, dass es eine Grenze des Hinnehmba­ren gab. Damit bejahten wir alles, was diesseits jener Grenze lag, bejahten, dass da etwas in uns war, das die Zumutung zurückwies und das nicht für immer unterdrückt werden konnte. Natür­lich lag da ein Widerspruch, der uns zum Nachdenken bringen musste. Wir hatten geglaubt, dass die Welt eigentlich für nichts lebte und kämpfte, und da kamen wir und kämpften trotzdem gegen Deutschland. Die Franzosen, de­nen ich in der Widerstandsbewegung begegnet bin, bewiesen, indem sie in den Zügen, mit denen sie ihr Propagandamaterial transportierten, Montaigne lasen, dass man für die Skeptiker Verständnis und doch einen Ehrbegriff haben konnte. Irgendetwas bejahten wir schließlich alle, schon dadurch, dass wir lebten, hofften und kämpften.
War aber dieses Irgendetwas von allgemeiner Bedeutung, ging es über die persönliche Stellungnahme hinaus, konnte es anderen zum Maßstab ihres Verhaltens werden? Die Antwort ist ganz einfach. Die Menschen, von denen ich spreche, waren bereit, ihre Revolte mit dem Leben zu bezahlen. Ihr Tod würde bewei­sen, dass sie sich für eine Wahrheit geopfert hatten, die ihre eigene Existenz, ihr Einzel­schick­sal überstieg. Was sie in ihrer Revolte gegen ein feind­se­liges Schicksal ver­tei­digten, das war ein universeller Wert. Wo Menschen in der Anwesenheit der Haus­mei­ste­rin gefoltert wurden, wo Menschenohren mit Methode zerfetzt wurden, wo Müt­­ter gezwungen wurden, ihre Kinder zum Tode zu verurteilen, wo die Gerechten verscharrt wurden wie ver­reck­te Tiere, da haben sie in ihrer Revolte gezeigt, dass etwas in ihnen verneint wurde, das nicht ihnen allein gehörte, sondern allen Menschen, die zur Solidarität bereit sind.
Als das einmal feststand, wussten wir, wie wir zu handeln hatten, und wir machten die Erfahrung, wie der Mensch noch in der allergrößten moralischen Verarmung Werte wieder­fin­den kann, um sein Han­­deln danach auszurichten. Denn wenn die Wahrheit in der Solidarität zwischen den Men­schen lag, in der wechselseitigen Anerkennung ihrer Menschenwürde, dann war die Solidarität selbst der Wert, den es zu behaupten galt.
Und damit diese Solidarität Bestand hat, müssen die Menschen frei sein, denn Herr und Sklave können nicht miteinander reden. Ja, Sklaverei ist ein Schweigen, und zwar das schreck­lich­­ste überhaupt.
Und um diese Solidarität dauerhaft zu machen, müssen wir die Ungerechtigkeit beseiti­gen, denn zwischen dem Unterdrückten und dem, der aus der Unterdrückung Profit zieht, gibt es kein Gespräch ­– auch der Neid wohnt im Reich des Schweigens.
Um diese Solidarität zu einer bleibenden zu machen, müssen wir Gewalt und Lüge äch­ten, denn wer lügt, verschließt sich vor den anderen, und wer foltert und Gewalt antut, bewirkt ein Schweigen, das sich nie wieder brechen lässt. Ja, auf der Verneinung, die unsere Revolte war, müssen wir eine Moral der Freiheit und Aufrichtigkeit gründen.
Soviel wissen wir jetzt: dass wir dem Morden mit Solidarität entgegentreten müssen, dass wir gegen Ungerechtigkeit, Sklaverei und Gewaltherrschaft kämpfen müssen, denn das sind die drei Plagen, die die Menschen zum Schweigen bringen, Barrieren zwischen ihnen errichten, sie namenlos machen und sie hindern, den einen Wert zu erkennen, der sie in dieser verzweifelnden Welt retten kann: Brüderlichkeit im Kampf gegen das Fatum. Am Ende dieser langen Nacht, jetzt und in Zukunft, wissen wir, was wir in dieser von krisengeschüttelten Welt zu tun haben.
1) Wir müssen die Dinge bei ihrem Namen nennen und uns klarmachen, dass wir jedesmal Millionen von Menschen um­brin­gen, wenn wir bestimmten Gedanken freien Lauf lassen. Nicht der Mörder macht Denkfehler, sondern Denkfehler machen Mörder. So kann man Mörder sein, ohne jemand wirklich umgebracht zu haben. Und in diesem Sinne sind wir alle mehr oder minder Mörder. Deshalb ist als erstes ­­jede Art von Pragmatismus und Fatalismus in Tun und Denken unumwunden zu verwerfen.
2) Wir müssen die Welt von der Gewalt reinigen, von der sie befallen ist, einer Gewalt, die alles beherrscht und den Verstand außer Kraft setzt.
3) Die Politik muss wieder in ihre Schranken gewiesen werden. Ihr Ziel sollte nicht sein dürfen, die Welt mit einem Evangelium oder einem Katechismus zu versorgen, weder einem po­li­ti­schen noch einem moralischen. Das große Unglück unserer Zeit ist gerade, dass die Politik sich anmaßt, uns mit einer ganzen Weltanschauung und manchmal sogar mit Vorschriften für unser Liebesleben zu beglücken. Die Aufgabe der Politik ist es, unser Haus in Ordnung zu bringen, nicht, sich mit unseren persönlichen Problemen zu beschäftigen. Ich für mein Teil weiß nicht, ob es ein Absolutes gibt oder nicht, aber ich weiß genau, dass das die Politik nichts angeht. Das Ab­so­lute ist nichts, das alle angeht ­ es geht jeden einzelnen an, und jedem muss von der Gemein­schaft die innere Muße gelassen werden, sich nach dem Absoluten zu fragen. Wenn unser Leben auch anderen gehört und wir es notfalls für andere hingeben müssen – unser Tod gehört nur uns allein. Das ist meine Definition von Freiheit.
4) Ausgehend von einer Position der Verneinung müssen wir als viertes positive Werte su­chen und schaffen, die verneinendes Denken mit der Möglichkeit bejahender Tat versöhnen kön­nen. Hierin liegt eine Aufgabe für Philosophen, die ich nur andeuten kann.
5) Dazu muss die Einsicht in die Notwendigkeit eines Universalismus kommen, durch den alle Men­schen guten Willens sich solidarisch fühlen können. Um aus seiner Vereinzelung heraus­zu­kommen, muss man sprechen, aufrichtig, nie lügen, aus welchem Grund auch immer, und die ganze Wahrheit sagen, die man kennt. Aber die Wahrheit kann man nur in einer Welt sagen, in der sie definiert und auf Werte gegründet ist, die allen Menschen gemeinsam sind. Kein Hitler kann bestimmen, was wahr und was falsch ist. Kein Sterblicher darf, weder heute noch morgen, seine Wahrheit für allgemeingültig erklären, um sie anderen aufzuzwingen; solche Allgemeingül­tig­keit könnte allein das menschliche Gewissen beanspruchen, und sie zu begründen, müssen erst die Werte wiedergefunden werden. Die Freiheit, die wir schließlich gewinnen müssen, ist die Freiheit, nie zu lügen. Nur so können wir zur Erkenntnis unserer Gründe gelan­gen, warum wir leben und warum wir sterben.
An diesem Punkt sind wir immerhin angekommen, und vielleicht war er des langen Wegs nicht wert. Aber die Geschichte der Menschen ist ja die Geschichte ihrer Irrtümer und nicht die ihrer Wahrheiten. Die Wahrheit ist vermutlich wie das Glück: ganz einfach und ohne Ge­schich­te.
Heißt das nun, dass all unsere Probleme auf dem Weg zur Lösung sind? Kein­es­wegs. Die Welt ist weder besser noch vernünftiger geworden, und wir sind aus der Absurdität nicht heraus. Aber wir haben wenigstens einen Grund, unser Verhalten zu ändern, und ein solcher Grund hat uns bisher gefehlt. Gäbe es den Menschen nicht, könnte die Welt nur ver­zwei­feln; aber der Mensch mit seinen Leidenschaften, seinen Träumen, seinen Beziehungen zu anderen existiert. So haben einige von uns in Europa ein pessimistisches Weltbild mit einem zu­tiefst optimistischen Menschenbild zu versöhnen versucht. Was wir vorschlagen, ist nicht, aus der Geschichte zu fliehen, denn wir sind Teil der Geschichte.
Unser Vorschlag ist nur, innerhalb der Geschichte zu kämpfen, um den Teil des Men­schen vor ihr zu bewahren, der ihr nicht gehört. Wir möchten nur unseren Weg zu der Art von Zivilisation finden, in der der Mensch weder der Geschichte den Rücken kehrt noch länger ihr Sklave ist; in der der Dienst, den jeder den anderen schuldet, durch das Nachdenken, die Muße und die Teilhabe am Glück aufgewogen wird, die ihm selber zustehen.
So lebt heute in Frankreich und Europa eine Generation, die jeden, der auf die condi­tio humana ver­traut, für verrückt erklärt, und jeden, der an den Verhältnissen verzweifelt, für einen Feig­ling. Sie verwirft absolute Erklärungen und die Herrschaft politischer Ideologien, aber den lebendigen Men­schen in seinem Streben nach Freiheit bejaht sie. Zwar glaubt sie nicht an die Verwirklichung allgemeiner Glückseligkeit, wohl aber an die Möglichkeit, das Leid der Mensch­heit zu lindern. Gerade weil die Welt eigentlich unglücklich ist, glaubt diese Generation, dass wir ein bisschen Glück auf ihr schaffen müssen: Gerade weil die Welt ungerecht ist, müssen wir für Ge­rech­tigkeit wirken; gerade weil sie letzten Endes absurd ist, müssen wir ihr Sinn geben.