Mittwoch, 27. April 2016

Albert Camus - Die Krise des Menschen - 1946

Ende März 1946 hielt Albert Camus einen Vortrag an der Columbia University in New York: Unter dem Titel »The Human Crisis« erschien die englische Übersetzung des Vortrags im selben Jahr in der New Yorker Zeitschrift Twice A Year. Das französische Original gilt als verschollen, so dass die Pariser Nouvelle Revue Française 1996 eine Rückübersetzung veröffentlichen musste, die Faust-Kultur hier erneut veröffentlicht.
100. Geburtstag von Albert Camus am 7. november 2013

Die Krise des Menschen

Von Albert Camus
Lassen Sie mich zuerst den Standort meiner Generation bestimmen. Die Menschen meines Alters wurden kurz vorm oder im Ersten Weltkrieg geboren, durch­leb­ten ihre Jugend in der Welt­wirt­schaftskrise und waren etwa zwanzig, als Hitler an die Macht kam. In Europa und Frank­reich erhielten sie zur Abrundung ihrer Bildung den Spanischen Bürgerkrieg, München, den Kriegs­aus­bruch 1939, die Nie­der­lage und vier Jahre Besatzung und Widerstand. Das dürfte gemeint sein, wenn man diese Generation als interessant bezeichnet. Deshalb dachte ich, dass nicht ich nur in meinem Namen zu Ihnen sprechen sollte, sondern im Namen von Franzosen, die heute dreißig Jahre alt sind und deren Hirne und Herzen sich in jenen furchtbaren Jahren gebildet haben, als sie und ihr Land sich von Schande nährten und lernten, nicht mehr mitzumachen.
Ja, eine interessante Generation ist es, vor allem deshalb, weil sie angesichts der absur­den Welt, die ihnen hinterlassen worden war, an nichts glaubte und in der Revolte lebte. Die Li­te­ratur ihrer Zeit revoltierte gegen Klarheit, Erzählung und sogar gegen den Satz. Die Malerei verwarf den Gegenstand, die Wirklichkeitstreue und sogar die Proportion. Die Musik schaffte die Me­lo­die ab. Die Philosophie schließlich lehrte, dass es keine Wahrheit gebe, son­dern nur Phänomene: dass es Mister Smith, Monsieur Durand und Herrn Vo­gel geben mochte, aber nichts diesen drei Ein­zel­phä­no­me­nen Gemeinsames. Die moralischen Vorstellungen dieser Ge­ne­ration gingen sogar noch weiter: Nationalismus hielt sie für über­leb­t, Religion für Flucht; die fünfundzwanzig Jahre politi­sches Weltgeschehen ­hatten sie gelehrt, jede echte Über­zeu­gung in Zweifel zu ziehen und zu mei­nen, dass nie­mand Unrecht habe, da jeder Recht haben könne­. Was die traditionelle Moral unserer Gesellschaft anbelangte, so war sie, was sie noch immer ist: eine mon­strö­se Heuchelei.
So verneinte diese Generation alles. Das war an und für sich nichts Neues. Andere Gene­ra­tio­nen in anderen Ländern hatten dieselbe Erfahrung in anderen Epochen gemacht. Neu war nur, dass Menschen, die allen Wertsetzungen entfremdet waren, sich zu einer Welt verhalten mussten, in der Mord und Terror herrschten. Die Widersprüche, in die sie dabei gerieten, waren so grau­sam, dass sie auf eine Krise des Menschen überhaupt schlossen. Sie traten in den Krieg ein, wie man in die Hölle eintritt, wenn es denn wahr ist, dass die Hölle die Verneinung von allem ist. Sie, die weder Krieg noch Gewalt suchten, mussten den Krieg mitmachen und Gewalt ausü­ben; sie, die nichts hassten als den Hass, mussten dessen strenge Disziplin lernen. In offenem Ge­gen­satz zu sich selbst, ohne jede Anleitung durch überlieferte Werte, hatten sie die schwersten menschli­chen Konflikte auszuhalten. So ist da auf der einen Seite diese besondere Generation, die ich eben beschrieben habe, und auf der anderen eine Krise von weltweiten Ausmaßen, eine Krise des Gewissens, die ich jetzt so klar wie möglich charakterisieren möchte.
Statt sie allgemein zu beschreiben, möchte ich sie durch vier kurze Geschichten illustrieren, Geschichten aus einer Zeit, die die Welt zu vergessen anfängt und die doch noch in unseren Herzen brennt.
1) In einer europäischen Hauptstadt findet die Hausmeisterin in einer von der Gestapo gemieteten Wohnung morgens zwei in der Nacht Verhörte vor, noch blutend und gefesselt; sorg­fäl­tig richtet sie den Raum wieder her – guter Dinge, sicher kommt sie gerade vom Früh­stück. Als einer der gefolterten Männer ihr Vorhaltungen macht, empört sie sich: “Ich mische mich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten meiner Mieter ein.”
2) In Lyon wird einer meiner Genossen zum dritten Verhör aus der Zelle geholt. Bei einem der beiden ersten Verhöre sind ihm die Ohren zerfetzt worden, und er trägt einen Verband um den Kopf. Der deutsche Offizier, der ihn hereinführt, derselbe, der an dem früheren Verhör teilgenommen hatte, fragt ihn wie mit besorgter Anteilnahme: “Was machen Ihre Ohren?”
3) In Griechenland hat ein deutscher Offizier nach einem Partisanenüberfall drei Brüder als Geiseln genommen und trifft Anstalten, sie erschießen zu lassen. Die alte Mutter der drei bit­tet um Gnade, und er erklärt sich bereit, einen der Söhne zu verschonen, aber unter der Bedin­gung, dass sie selber bestimme, welchen. Als sie sich dazu nicht entscheiden kann, machen sich die Soldaten schussbereit. Schließlich zeigt sie auf den Ältesten, weil der eine Familie zu ernähren hat, und verurteilt damit zugleich die beiden anderen Söhne – wie es der deutsche Offi­zier beabsichtigt.
4) Eine Gruppe deportierter Frauen, darunter eine Genossin, wird über die Schweiz nach Frankreich repatriiert. Kaum auf Schweizer Boden, sehen sie eine Beerdigung. Der bloße An­blick versetzt sie in hysterisches Lachen: ”So also geht man hier mit den Toten um”, sagen sie.
Ich habe diese Geschichten nicht wegen ihres Sensationsgehalts ausgewählt. Ich weiß, wie zartbesaitet die Welt ist und dass man lieber die Augen verschließt, als sich stören zu lassen. Diese Geschichten habe ich auswählt, weil ich nun anders als mit einem konventionellen ja auf die Frage ant­worten kann: “Ist der Mensch in einer Krise?” Nun kann ich so antworten, wie es diejenigen, von denen ich sprach, getan haben: Ja, der Mensch ist in einer Krise, weil Tod oder Folter eines Menschen in unserer Welt mit Gleichgültigkeit, mit wissenschaft­li­cher Neugier oder auch ganz ohne Reaktion mit­an­ge­­se­hen werden. Ja, der Mensch ist in einer Krise, weil die Tötung eines Menschen anders als mit Abscheu und Scham, die sie hervorrufen sollte, betrachtet werden kann. W­eil Trauer wie eine leidige Verpflichtung empfunden wird, etwas ­wie der Um­stand, um Lebensmittel anstehen zu müssen ­– deshalb ist der Mensch in einer Krise.
Es ist zu leicht, einfach Hitler die Schuld daran zu geben und zu sagen, da die Schlange zertreten sei, sei auch das Gift aus der Welt. Denn wir wissen ganz genau, dass dieses Gift nicht aus der Welt ist, dass wir alle es in unseren eigenen Herzen tragen, wie sich an dem Argwohn zeigt, mit dem Nationen, Parteien und Individuen sich unverändert begegnen. Ich war immer der Auffassung, dass eine Nation für ihre Verräter ebenso verantwortlich sei wie für ihre Helden. Aber das gilt auch für eine Zivilisation, und die Zivilisation des weißen Mannes insbesondere ist für ihre Perversionen genauso verantwortlich wie für ihre Ruhmes­taten. So gesehen ­sind wir alle für den Hitlerismus verantwortlich und verpflichtet, den tieferen Ursachen dieser Pest nachzufor­schen, die das Gesicht Europas entstellt hat.
Versuchen wir nun, anhand der vier Geschichten, die ich erzählt habe, die deut­lich­sten Symptome der Krise aufzuzählen. Es sind die folgenden:
1) Gewaltherrschaft als Folge einer derartigen Pervertierung von Werten, ­dass ein ein­zel­ner oder eine historische Kraft heute nicht nach ihrer Menschenwürde, son­dern nach ihrem Er­folg beurteilt werden. Die Krise der Moderne ist deutlich daran abzulesen, dass im Westen keiner sei­ner unmittelbaren Zukunft mehr sicher ist, während jeder mit der Gewissheit zurecht­kom­men muss­, so oder so unter die Räder der Geschichte zu geraten. Soll der Hiob unserer Zeit nicht an seinen Wunden auf dem Misthaufen verenden, muss erst einmal die Hypothek von Furcht und Angst getilgt werden, damit er die geistige Freiheit wiederfindet kann, ohne die keins der Probleme, vor denen unsere Gewissen heute steht, zu lösen ist;
2) das Unvermögen, zu überzeugen. Menschen leben ­– und können nur leben – in dem Glau­ben an etwas allen Gemeinsames, etwas, auf das sie sich immer zurückbeziehen können. Wenn man zu einem Menschen menschlich spricht, erwartet man Reaktionen, die ebenfalls mensch­lich sind. Stattdessen haben wir erlebt, dass es Menschen gibt, die man nicht überzeugen kann. Ein KZ-Häftling konnte unmöglich die SS-Männer, die ihn schlugen, vom Unrecht ihres Tuns überzeu­gen. Die griechische Mutter, von der ich sprach, konnte unmöglich den deutschen Offizier davon überzeugen, dass er ihr mit seiner Grausamkeit das Herz brach. Denn SS-Leute und deutsche Offiziere waren keine Menschen mehr, keine Vertreter der Spezies Mensch, sondern zur Idee oder Theorie erhobener Instinkt. Lei­den­schaft, selbst mörderische, wäre weni­ger teuf­lisch gewesen, denn Leidenschaft erschöpft sich irgendwann. Hingegen ein Mensch, der imstande ist, nach dem Zustand der Ohren zu fragen, die er vorher selber zerfetzt hat, der ist nicht von Leidenschaft getrieben, der ist wie ein mathe­ma­­ti­­sches Theorem, das durch nichts aufgehalten oder umgelenkt werden kann;
3) die Ersetzung der natürlichen Sache durch bedrucktes Papier, womit ich das Über­hand­­neh­­men der Bürokratie meine. Der moderne Mensch schiebt zwischen sich und die Na­tur eine immer ab­straktere und kompliziertere Maschinerie, die ihn in die Einsamkeit stößt. Aus Papier, Büros und Beamten ist eine Welt entstanden, aus der alle menschliche Wärme geschwun­den ist und wo der Kontakt von einem zum andern nur noch durch ein Labyrinth von Formali­tä­ten führt. Der deutsche Offizier, der meinem Genossen besänftigend in die geschun­de­nen Ohren sprach, glaubte so handeln zu dürfen, weil der Schmerz, den er ihm zugefügt hatte, zu seinen Dienstaufgaben gehörte, folglich eigentlich nichts Böses geschehen war. Kurz, wir sterben, lieben oder töten nur noch im Auftrag;
4) die Ersetzung des Menschlichen durch das Politische. Individuelle Leidenschaften gibt es nicht mehr, nur noch kollektive, also abstrakte Leidenschaften. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen politisch sein. Was heute zählt, ist nicht, ob man eine Mutter achtet und ihr Leid erspart – was heute zählt, ist nur noch, ob man einer Doktrin zum Triumph verholfen hat oder nicht. Menschliches Leiden ist kein Skandal mehr, sondern nur noch ein Posten auf einer Rechnung, deren Schreckenssumme erst noch gezogen werden muss;
5) der all diesen Symptomen gemeinsame Nenner, den wir als den Kult von Effizienz und Abstraktion beschreiben können. Das ist der Grund, warum der europäische Mensch heute nichts als Einsamkeit und Schweigen erfährt. Er kann sich anderen Menschen nicht mitteilen, weil es keine Werte mehr gibt, die alle teilten. Deshalb kann er nicht mehr der Achtung durch andere sicher sein, und ihm bleibt nur noch die Wahl, Opfer oder Henker zu werden;

II.

Das ist die Erfahrung meiner Generation, und das ist die Krise, in der sie sich befand und immer noch befindet. Ihr mussten wir uns stellen und dabei Orientierungshilfe suchen, wo wir sie fan­den, also nirgends, außer im Bewusstsein von der Absurdität unserer Situation. So mussten wir in den Krieg und dem Grauen ins Auge sehen, ohne den Trost letzter Gewissheiten zu haben. Wir wussten nur, ­dass wir den Bestien, die in Europa die Macht an sich gerissen hatten, nicht nach­geben durf­ten, aber nicht, wie wir, was wir für unsere Pflicht hielten, in der Lage, in der wir uns be­fan­den, rechtfertigen sollten. Selbst die Nachdenklichsten unter uns wussten nicht, im Na­men was für eines Prinzips sie sich dem Terror widersetzen und Mord als Mittel zum Zweck ablehnen sollten.
Denn wenn man an nichts glaubt, wenn nichts Sinn hat und es keine Werte mehr gibt, dann ist alles erlaubt und nichts hat Bedeutung. Dann gibt es weder Gut noch Böse, und Hitler hatte weder Unrecht noch Recht. Man kann Millionen Unschuldiger ins Krematorium schicken oder sich für die Krankenpflege aufopfern. Man kann einem Mann mit der einen Hand die Ohren zerfetzen, um sie mit der andern zu streicheln. Man kann in der Gegenwart von Folteropfern die Wohnung aufräumen. Man kann die Toten ehren oder sie beseitigen wie Müll. Das eine ist so gut wie das andere. Und weil alles sinnlos zu sein schien, mussten wir schließen, dass der Erfolg allein zähle. Solche Skeptiker gibt es ja noch heute, die Ihnen erzählen, dass, wenn Hitler diesen Krieg zufällig gewonnen hätte, die Geschichte das, was er verkörperte, gutgeheißen und dem widerli­chen Postament, auf dem er dann thronte, ihre Reverenz erweisen würde. In der Tat hät­te die Geschichte, so wie sie sich heute darstellt, Hitler dann heiliggesprochen und Mord und Terror gerechtfertigt, so wie wir alle Mord und Terror rechtfertigen, wenn wir dem Gedanken nachge­ben, alles sei sinn­los.
Gewiss, einige von uns ließen sich davon überzeugen, dass man in Erman­ge­lung höherer Werte immer noch an einen Sinn der Geschichte glauben könne, jedenfalls handelten sie immer so, als sei das ihre Über­zeugung. Sie erklärten den Krieg für notwendig, weil er die Epo­che der Na­tionalismen beenden und ein Zeitalter herbeiführen würde, in dem die Imperien un­frei­willig oder freiwillig einer Weltgesellschaft und dem Paradies auf Erden Platz machen würden.
Aber damit kamen sie zu Schlussfolgerungen, zu denen sie auch ge­kom­men wären, wenn sie wie wir anderen alles für sinnlos gehalten hätten. Denn wenn die Ge­schich­te überhaupt Sinn hat, dann muss dieser alles umfassen, oder es wäre keiner. Diese Menschen dachten und han­del­ten, als gehorche die Geschichte irgendeiner transzendentalen Dialektik und als bewegten wir uns alle auf irgendein bestimmtes Ziel zu. Sie dachten und handelten nach dem schrecklichen Grund­satz He­gels, der Mensch sei für die Geschichte gemacht, nicht die Geschichte für den Menschen. Tatsa­che ist, dass der ganze politische und moralische Pragmatismus, der heute in der Welt herrscht, oft durchaus ungewollt jener deutschen Geschichtsphilosophie entstammt, nach der die ganze Mensch­heit mit rationalen Schritten auf einen harmonischen Endzustand zumarschiert. Der Nihilismus ist einer Art von absolutem Rationalismus gewichen, aber beide führen zu denselben Ergebnissen. Denn wenn es wahr ist, dass die Geschichte durch eine unfehlbare und fatale Logik bestimmt ist, wenn es wahr ist, wie diese deutsche Philosophie behauptet, dass auf die Anarchie der Feudalstaat, auf den Feu­dalstaat der Nationalstaat und auf die Nationen Imperien mit dem Endziel einer Welt­gesellschaft folgen, dann ist alles, was diesem vorbestimm­ten Endziel dient, gut, und die Er­folge der Geschichte sind unabweisbare Wahrheiten. Und da diese Erfolge nur in üblicher Weise ­durch Kriege und Intrigen, durch die Ermordung Einzelner und ganzer Völker ­erreicht werden können, so können Handlungen nicht nach gut oder schlecht beurteilt werden, sondern nur nach zweck­dienlich oder zwecklos.
Die Versuchung der Menschen meiner Generation war eine doppelte: entweder nichts für wahr zu halten oder die Wahrheit allein in der Unterwerfung unter eine historische Vorbe­stim­­mung zu sehen. Weil viele einer dieser beiden Versuchungen erlegen sind, konnte die Welt Usurpatoren in die Hände fallen und schließlich von Terror regiert werden. Denn wenn nichts wahr oder falsch ist, gut oder böse, wenn Effizienz der einzige Wert ist, dann ist die einzige Regel, an die man sich halten kann, die, der Effizienteste zu sein, und das heißt: der Mächtigste. Dann ist die Welt nicht mehr in Gerechte und Ungerechte eingeteilt, son­dern in Herren und Sklaven. Recht hat, wer die Macht hat. Die Hausmeisterin hat Recht, die Gefolterten ­Unrecht. Der deutsche Offizier, der die Folter anordnet, und derjenige, der sie ausführt – die zu Totengrä­bern gewordenen SS-Leute –, das sind die Vernünftigen dieser neuen Welt. Sehen Sie nur einmal um sich, ob es nicht noch immer so ist. Immer noch stecken wir mit dem Kopf in der Schlinge der Gewalt und werden erdrosselt. Im Innern jeder Nation wie in der ganzen Welt sind Miss­trau­en, Rachsucht, Habgier und Machtwille dabei, ein Reich der Finsternis und Verzweiflung zu errichten, wo jeder in den Grenzen des Jetzt zu leben gezwungen ist – das bloße Wort “Zukunft” macht ihm schon Angst –, abstrakten Mächten ausgeliefert, hilflos und durch die Hast des Daseins abgestumpft, ohne selbstverständliche Wahr­heiten, reflektierte Muße und einfache Freu­den.

III.

Wenn die Symptome der Krise wirklich Machtgier, Terror, Verdrängung des wirklichen Men­schen durch den politischen und historischen Menschen, Herrschaft von Abstraktion und Fatum, Einsamkeit ohne Zukunft sind und wir diese Krise überwinden wollen, so müssen wir bei den Symptomen ansetzen. Das ist die ungeheure Aufgabe, vor der unsere Generation steht, ohne sich dabei an irgendetwas halten zu können. Ja, gerade aus der Verneinung muss sie die Kraft für diese Aufgabe schöpfen. Man brauchte uns gar nicht erst zu sagen: du musst an Gott, an Plato oder an Marx glauben, denn das Problem war, dass wir zu keinerlei Glauben imstande waren. Unsere Frage war einzig und allein, ob wir uns auf eine Welt, in der man nur Op­fer oder Henker sein konnte, einlassen sollten oder nicht. Dabei versteht sich von selbst, dass wir weder Opfer noch Henker sein wollten, weil wir tief in unseren Herzen wussten, dass selbst diese Unterscheidung nur eine scheinbare war und wir im Grunde genommen alle Opfer waren und dass Mörder und Ermordete schließlich in derselben Niederlage vereint sein würden. Insofern ging es also gar nicht mehr da­rum, ob wir uns auf diese Situation und diese Welt einlassen sollten oder nicht, sondern darum, festzustellen, mit was für ­Gründen wir uns dagegen widersetzen könnten.
Darum haben wir unsere Gründe in unserer Revolte selbst gesucht, die uns unwillkürlich ­­dazu getrieben hatte, den Kampf gegen das Unrecht zu wählen. Uns wurde klar, dass wir nicht nur um unser selbst willen revoltiert hatten, sondern für etwas allen Menschen Gemein­sames.
Aber was bedeutete in einer Welt ohne Werte, die unsere Herzen verwüstet hatte, eigent­lich unsere Revolte? Sie hat Menschen aus uns gemacht, die nein sagten. Gleichzeitig aber waren wir auch Jasager. Wir sagten nein zu dieser Welt, zu ihrer Absurdität, zu den Abstraktio­nen, die uns bedrohten, zu der Zivilisation des Todes, die uns da angerichtet wurde. Indem wir nein sag­ten, erklärten wir, dass es so nicht mehr weitergehen konnte, dass es eine Grenze des Hinnehmba­ren gab. Damit bejahten wir alles, was diesseits jener Grenze lag, bejahten, dass da etwas in uns war, das die Zumutung zurückwies und das nicht für immer unterdrückt werden konnte. Natür­lich lag da ein Widerspruch, der uns zum Nachdenken bringen musste. Wir hatten geglaubt, dass die Welt eigentlich für nichts lebte und kämpfte, und da kamen wir und kämpften trotzdem gegen Deutschland. Die Franzosen, de­nen ich in der Widerstandsbewegung begegnet bin, bewiesen, indem sie in den Zügen, mit denen sie ihr Propagandamaterial transportierten, Montaigne lasen, dass man für die Skeptiker Verständnis und doch einen Ehrbegriff haben konnte. Irgendetwas bejahten wir schließlich alle, schon dadurch, dass wir lebten, hofften und kämpften.
War aber dieses Irgendetwas von allgemeiner Bedeutung, ging es über die persönliche Stellungnahme hinaus, konnte es anderen zum Maßstab ihres Verhaltens werden? Die Antwort ist ganz einfach. Die Menschen, von denen ich spreche, waren bereit, ihre Revolte mit dem Leben zu bezahlen. Ihr Tod würde bewei­sen, dass sie sich für eine Wahrheit geopfert hatten, die ihre eigene Existenz, ihr Einzel­schick­sal überstieg. Was sie in ihrer Revolte gegen ein feind­se­liges Schicksal ver­tei­digten, das war ein universeller Wert. Wo Menschen in der Anwesenheit der Haus­mei­ste­rin gefoltert wurden, wo Menschenohren mit Methode zerfetzt wurden, wo Müt­­ter gezwungen wurden, ihre Kinder zum Tode zu verurteilen, wo die Gerechten verscharrt wurden wie ver­reck­te Tiere, da haben sie in ihrer Revolte gezeigt, dass etwas in ihnen verneint wurde, das nicht ihnen allein gehörte, sondern allen Menschen, die zur Solidarität bereit sind.
Als das einmal feststand, wussten wir, wie wir zu handeln hatten, und wir machten die Erfahrung, wie der Mensch noch in der allergrößten moralischen Verarmung Werte wieder­fin­den kann, um sein Han­­deln danach auszurichten. Denn wenn die Wahrheit in der Solidarität zwischen den Men­schen lag, in der wechselseitigen Anerkennung ihrer Menschenwürde, dann war die Solidarität selbst der Wert, den es zu behaupten galt.
Und damit diese Solidarität Bestand hat, müssen die Menschen frei sein, denn Herr und Sklave können nicht miteinander reden. Ja, Sklaverei ist ein Schweigen, und zwar das schreck­lich­­ste überhaupt.
Und um diese Solidarität dauerhaft zu machen, müssen wir die Ungerechtigkeit beseiti­gen, denn zwischen dem Unterdrückten und dem, der aus der Unterdrückung Profit zieht, gibt es kein Gespräch ­– auch der Neid wohnt im Reich des Schweigens.
Um diese Solidarität zu einer bleibenden zu machen, müssen wir Gewalt und Lüge äch­ten, denn wer lügt, verschließt sich vor den anderen, und wer foltert und Gewalt antut, bewirkt ein Schweigen, das sich nie wieder brechen lässt. Ja, auf der Verneinung, die unsere Revolte war, müssen wir eine Moral der Freiheit und Aufrichtigkeit gründen.
Soviel wissen wir jetzt: dass wir dem Morden mit Solidarität entgegentreten müssen, dass wir gegen Ungerechtigkeit, Sklaverei und Gewaltherrschaft kämpfen müssen, denn das sind die drei Plagen, die die Menschen zum Schweigen bringen, Barrieren zwischen ihnen errichten, sie namenlos machen und sie hindern, den einen Wert zu erkennen, der sie in dieser verzweifelnden Welt retten kann: Brüderlichkeit im Kampf gegen das Fatum. Am Ende dieser langen Nacht, jetzt und in Zukunft, wissen wir, was wir in dieser von krisengeschüttelten Welt zu tun haben.
1) Wir müssen die Dinge bei ihrem Namen nennen und uns klarmachen, dass wir jedesmal Millionen von Menschen um­brin­gen, wenn wir bestimmten Gedanken freien Lauf lassen. Nicht der Mörder macht Denkfehler, sondern Denkfehler machen Mörder. So kann man Mörder sein, ohne jemand wirklich umgebracht zu haben. Und in diesem Sinne sind wir alle mehr oder minder Mörder. Deshalb ist als erstes ­­jede Art von Pragmatismus und Fatalismus in Tun und Denken unumwunden zu verwerfen.
2) Wir müssen die Welt von der Gewalt reinigen, von der sie befallen ist, einer Gewalt, die alles beherrscht und den Verstand außer Kraft setzt.
3) Die Politik muss wieder in ihre Schranken gewiesen werden. Ihr Ziel sollte nicht sein dürfen, die Welt mit einem Evangelium oder einem Katechismus zu versorgen, weder einem po­li­ti­schen noch einem moralischen. Das große Unglück unserer Zeit ist gerade, dass die Politik sich anmaßt, uns mit einer ganzen Weltanschauung und manchmal sogar mit Vorschriften für unser Liebesleben zu beglücken. Die Aufgabe der Politik ist es, unser Haus in Ordnung zu bringen, nicht, sich mit unseren persönlichen Problemen zu beschäftigen. Ich für mein Teil weiß nicht, ob es ein Absolutes gibt oder nicht, aber ich weiß genau, dass das die Politik nichts angeht. Das Ab­so­lute ist nichts, das alle angeht ­ es geht jeden einzelnen an, und jedem muss von der Gemein­schaft die innere Muße gelassen werden, sich nach dem Absoluten zu fragen. Wenn unser Leben auch anderen gehört und wir es notfalls für andere hingeben müssen – unser Tod gehört nur uns allein. Das ist meine Definition von Freiheit.
4) Ausgehend von einer Position der Verneinung müssen wir als viertes positive Werte su­chen und schaffen, die verneinendes Denken mit der Möglichkeit bejahender Tat versöhnen kön­nen. Hierin liegt eine Aufgabe für Philosophen, die ich nur andeuten kann.
5) Dazu muss die Einsicht in die Notwendigkeit eines Universalismus kommen, durch den alle Men­schen guten Willens sich solidarisch fühlen können. Um aus seiner Vereinzelung heraus­zu­kommen, muss man sprechen, aufrichtig, nie lügen, aus welchem Grund auch immer, und die ganze Wahrheit sagen, die man kennt. Aber die Wahrheit kann man nur in einer Welt sagen, in der sie definiert und auf Werte gegründet ist, die allen Menschen gemeinsam sind. Kein Hitler kann bestimmen, was wahr und was falsch ist. Kein Sterblicher darf, weder heute noch morgen, seine Wahrheit für allgemeingültig erklären, um sie anderen aufzuzwingen; solche Allgemeingül­tig­keit könnte allein das menschliche Gewissen beanspruchen, und sie zu begründen, müssen erst die Werte wiedergefunden werden. Die Freiheit, die wir schließlich gewinnen müssen, ist die Freiheit, nie zu lügen. Nur so können wir zur Erkenntnis unserer Gründe gelan­gen, warum wir leben und warum wir sterben.
An diesem Punkt sind wir immerhin angekommen, und vielleicht war er des langen Wegs nicht wert. Aber die Geschichte der Menschen ist ja die Geschichte ihrer Irrtümer und nicht die ihrer Wahrheiten. Die Wahrheit ist vermutlich wie das Glück: ganz einfach und ohne Ge­schich­te.
Heißt das nun, dass all unsere Probleme auf dem Weg zur Lösung sind? Kein­es­wegs. Die Welt ist weder besser noch vernünftiger geworden, und wir sind aus der Absurdität nicht heraus. Aber wir haben wenigstens einen Grund, unser Verhalten zu ändern, und ein solcher Grund hat uns bisher gefehlt. Gäbe es den Menschen nicht, könnte die Welt nur ver­zwei­feln; aber der Mensch mit seinen Leidenschaften, seinen Träumen, seinen Beziehungen zu anderen existiert. So haben einige von uns in Europa ein pessimistisches Weltbild mit einem zu­tiefst optimistischen Menschenbild zu versöhnen versucht. Was wir vorschlagen, ist nicht, aus der Geschichte zu fliehen, denn wir sind Teil der Geschichte.
Unser Vorschlag ist nur, innerhalb der Geschichte zu kämpfen, um den Teil des Men­schen vor ihr zu bewahren, der ihr nicht gehört. Wir möchten nur unseren Weg zu der Art von Zivilisation finden, in der der Mensch weder der Geschichte den Rücken kehrt noch länger ihr Sklave ist; in der der Dienst, den jeder den anderen schuldet, durch das Nachdenken, die Muße und die Teilhabe am Glück aufgewogen wird, die ihm selber zustehen.
So lebt heute in Frankreich und Europa eine Generation, die jeden, der auf die condi­tio humana ver­traut, für verrückt erklärt, und jeden, der an den Verhältnissen verzweifelt, für einen Feig­ling. Sie verwirft absolute Erklärungen und die Herrschaft politischer Ideologien, aber den lebendigen Men­schen in seinem Streben nach Freiheit bejaht sie. Zwar glaubt sie nicht an die Verwirklichung allgemeiner Glückseligkeit, wohl aber an die Möglichkeit, das Leid der Mensch­heit zu lindern. Gerade weil die Welt eigentlich unglücklich ist, glaubt diese Generation, dass wir ein bisschen Glück auf ihr schaffen müssen: Gerade weil die Welt ungerecht ist, müssen wir für Ge­rech­tigkeit wirken; gerade weil sie letzten Endes absurd ist, müssen wir ihr Sinn geben.

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