Freitag, 15. Dezember 2017

Das Gute

Wir alle meckern. Gern und ausschweifend und oft und meist mit Recht. Wie sollten wir auch nicht, wenn die Leute, die wir schweren Herzens gewählt haben, miteinander hadern, wie die Mitglieder eines chaotisch organisierten Swingerclubs, wenn der Flughafen, den keiner wirklich will, circa 7 Milliarden Euro kosten und dann doch nicht funktionieren wird, wenn der neue Chef der Volksbühne, seine zu weiße Föhnfrisur schüttelt und mißbilligend den Bezirk Mitte als unerträglich tituliert, usw., usw..

ABER. Aber ich hatte heute wieder einen Plausch mit dem nettesten lebenden Postboten, im Edeka sitzt ein etwas fülliger junger Mann an der Kasse, dessen gute Laune auch durch zweihundert norwegische Jugendliche, die nur ein Bier kaufen, nicht zu verderben ist, der Zigarettenverkäufer sortiert für mich zuvorkommend alle Gauloise-Packungen mit ekligen Geschwüren und schwarzen Zähnen aus, und verkauft mir dann nur die mit den schlecht inszenierten Leidenstableaus. Der reizende hagere Klempner ist dreimal wiedergekommen, weil die Badezimmerheizung immer noch gesponnen hat. Meine Freundin hat mir Senf und weiße Tulpen geschenkt. Ich habe einem Freund heute ein gutes Geschenk machen können. Und eine andere Freundin freut sich wie Bolle, weil sie bald in Albanien Kindern und Lehrern die Finessen der deutschen Sprache schmackhaft machen wird.

Gestern hat ein mir nicht bekannter junge Mann auf Facebook im Zusammenhang mit einer Brechtinszenierung locker "Bei Brecht hoff ich echt. Dass Erben sterben." formuliert, und also mir und einigen meiner Verwandten den Tod an den Hals gewünscht. Er hat keinen blassen Schimmer, was wir tun. Er weiß auch nicht, was meine Mutter, das mythische böse Brecht-Gespenst getan hat. Aber ein Kollege hat mir heute eine schöne Anekdote erzählt. Er, sehr jung, spielt den Flieger im "Guten Menschen von Sezuan" an einem süddeutschen Stadttheater. Der Regisseur inszeniert wild, Musik aus sämtlichen Stücken, neu arrangiert, überhaupt alles anders. Zu einem Durchlauf kommt meine Mutter, unterbricht zur Hälfte aufgeregt mit "So geht das nicht". Der Regisseur fragt "Warum?". Sie antwortet: "Weil, weil, ... Es ist nicht gut."
Sklavische Stücktreue ist öde, aber Dekonstruktion garantiert leider auch keinen guten Abend. 


DAS GUTE

Es ist gut zu wissen, dass es auch
die andern gibt; die, die
dir den Arsch abwischen, ohne zu murren.
Die dir ein Lächeln schenken
mitten im Feiertagsgewühl, die ihren Wagen
abbremsen, damit du die Spur wechaseln
kannst.

Es ist gut zu wissen, dass
es Menschen gibt, die sichdem
Schlechten widersetzen,
ohne an den Preis zu denken; 
einfach so, ganz selbstverständlich.

Und es ist gut, hier oben zu 
sitzen. Allein. Ohne Frau und ohne
Streit. Und meinen Gedanken 
nachzuhängen. während es draußen schneit
und der junge Vietnamese seinen
Laden wie immer pünktlich
auf die Minute öffnet und auf Kundschaft
wartet, während er auf seinen kleinen
Farbfernseher 
blickt.

Und es ist gut zu wissen, dass es
nicht sehr lange dauern wird, bis der
erste bei ihm eintritt. Ein
Feuerzeug erwirbt, Kaffee oder ein Heft
mit Kreuzworträtseln, und dass er
ihn bedienen wird, wie jeden andern auch,
und ohne einen Unterschied zu machen;
Scherz auf den Lippen. Während die Kasse
klingelnd aufspringt und ein Taxi auf der andern
Strassenseite hält.

Florian Günther 
AUS DER TRAUM 
Moloko Print 
Fotografien von Michael Dressel


Samstag, 9. Dezember 2017

Kinky Boots

Nach dem auf einer wahren Begebenheit beruhenden Film "Kinky Boots" von Geoff Deane and Tim Firth über einen Schuhfabrikanten aus Northhampton, der seine vor dem Bankrott stehende Fabrik, durch Spezialisation auf hochhackige Stiefel für Transvestiten zu retten versuchte, haben Harvey Fierstein und Cyndi Lauper ein Musical geschrieben. 
Mann erbt hochverschuldete Schufabrik vom Vater. Er lernt eines Nachts durch Zufall eine Dragqueen kennen. Die beiden beginnen, Freunde zu werden. Dragqueen entwirft Schuhe, Mann produziert sie. Beide haben Vaterprobleme. Konflikt, noch mehr Konflikt und ... Happy End, bei dem alle Mitglieder des Ensembles in geilen Stiefeln tanzen. 
https://de.wikipedia.org/wiki/Kinky_Boots_(Musical) 

Die Besetzung ist ungewöhnlich durchmischt für ein Musical. Dünne, dicke, junge, alte, schwarze und weiße Menschen beiderlei Geschlechts spielen sich die Seele aus dem Leib, und das sieben Mal die Woche! Warum klingen die eigentlich nicht so gekünstelt wie viele deutsche Musicaldarsteller, sondern wie richtig gute Sänger? 
https://www.youtube.com/watch?v=aV-PlANg7Xs

Ein Spaß, ein Gaudi - toll gesungen, gespielt und getanzt, von allen. Aber getoppt von einer supercoolen Sechsmann-Gang von langbeinigen, charmant-aggressiven Drag-Prinzessinnen mit rauen Gesichtern. Die Drag-Kostüme sind fabelhaft und die anderen stimmen genau. Und die Stiefel!!!
Klar ist es auch kitschig, aber wenn man der harschen Realität einen Traum abgewinnen kann, ist das, wenn es so gut gemacht ist, höchst ehrenwert. Ich denke Harvey Fierstein hat mit Torchsong-Trilogy (Das Kuckucksei),
La Cage aux Folles und Kinky Boots vielleicht mehr für die LGBTQ... Gemeinschaft erreicht, als mancher Verfasser, manche Verfasserin von Genderstudien. Heute Abend hat der Saal gestanden!


What does "lgbtqia+" stand for exactly?

If you're just learning about sexuality, gender, and all these other things, they can be a little hard to remember. This acronym not only serves as a symbol of our movement for rights, but even as a memory tool for those who need a little help.
L - Lesbian. Lesbian is a term used to refer to homosexual females.
G - Gay. Gay is a term used to refer to homosexuality, a homosexual person, or a homosexual male.
B - Bisexual. Bisexual is when a person is attracted to two sexes/genders.
T - Trans. Trans is an umbrella term for transgender and transsexual people.
Q - Queer/Questioning. Queer is an umbrella term for all of those who are not heterosexual and/or cisgender. Questioning is when a person isn't 100% sure of their sexual orientation and/or gender, and are trying to find their true identity.
I - Intersex. Intersex is when a person has an indeterminate mix of primary and secondary sex characteristics.
A - Asexuality. Asexuality is when a person experiences no (or little, if referring to demisexuality or grey-asexuality) sexual attraction to people.
+ - The "+" symbol simply stands for all of the other sexualities, sexes, and genders that aren't included in these few letters.


https://lgbtqiainfo.weebly.com/acronym-letters-explained.html


Donnerstag, 7. Dezember 2017

Camus im Stil von Kruse

Der verlorene Sohn: 
"Ich bin zurückgekehrt..." 
 

"Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn man jetzt die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will."
Franz Kafka 

Der für den bei Lukas das Kalb geschlachtet wird ist einer, Kafka hat über sich als einen  solchen geschrieben, Isaak und Orest sind es, der verlorene Sohn hat einen eigenen Wikipediaeintrag. In gewisser Weise ist auch Jesus einer von ihnen. 
Für die religiösen Bedürfnisse scheint mir die Ableitung von der infantilen Hilflosigkeit und der durch sie geweckten Vatersehnsucht unabweisbar, zumal sich dies Gefühl nicht einfach aus dem kindlichen Leben fortsetzt, sondern durch die Angst vor der Übermacht des Schicksals dauernd erhalten wird. Ein ähnlich starkes Bedürfnis
aus der Kindheit wie das nach dem Vaterschutz wüßte ich nicht anzugeben."  
Siegmund Freud

Im "Mißverständnis" von Albert Camus, kehrt ein verlorener Sohn, im Ausland wohlhabend geworden, nach Jahren der Abwesenheit heim, gibt sich aber, nicht zu erkennen. Seine Mutter und Schwester führen eine schlecht laufende Herberge und töten ihre wenigen Gäste, um mit deren Geld einst ans ersehnte Meer ziehen zu können. Auch der unerkannte Fremde wird vergiftet. Als die Mutter erfährt, wen sie gemordet haben, begeht sie Selbstmord, die Schwester lebt und wird nie das Meer sehen. 
Melodrama und philosophischer Diskurs, sicher kein großes Stück, aber was Jürgen Kruse und seine Schauspieler darin und darum gefunden haben, ist betörend. Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt ist ein Begriff den Camus im "Fremden" verwendet und er beschreibt diesen Abend gut. Die Bühne ist geheimnisvoll zugemüllt und nur spärlich beleuchtet, der Soundtrack eine eigenartige Mischung von Biermann, französischen Schlagern und Rockmusik der 70er. Die Figuren zitieren ihre Worte spielerisch und flirrend. Wortverwechsler & -witze, Liedzitate, grammatikalischen Verkürzungen spitzen den etwas zu deutlichen Text zu. Jedi-Speak mit nachgesetztem "nicht", gibt Sätzen an ihrem Ende eine überraschende Wende. Feind-selig. Einzel-haft-heiten. Manuel Harder ist ein cooler Wortjongleur! Starke Frauen geben ihm Widerstand, nahezu schweigende Figuren fixieren den Rhytmus.
Es ist sehr viel los auf dieser Bühne und ich bin in Freiheit zu schauen, zu hören. Nicht das autistische Getue a la Kennedy, dass mich durch Langeweile in Trance versetzen will und es mangels Schönheit nicht schafft, sondern hochartifizielles, gedachtes, witziges Spiel der Darsteller miteinander und mit mir. Es wird von mir erwartet, dass ich mitdenke. Da habe ich, unerwartet, etwas mir Neues gesehen, dass ich nicht wirklich verstehe, aber das mich zutiefst sinnlich vergnügt hat.
 Foto: Arno Declair
Das folgende Lied wird über den Abend immer wiedermal angesungen:
Fahrende Musikanten
von Nina & Mike 
Wir zwei, wir haben lang allein getingelt
Hejo, hejo, ho
Und oftmals hat die Kasse nicht geklingelt
Hejo, hejo-ho
Dann eines Tages lernten wir uns kennen
Hejo, hejo, ho
Und seither woll'n wir uns nie wieder trennen (Nie wieder!)
Hejo, hejo-ho
Oh oh oh
Fahrende Musikanten
das sind wir
Immer auf Achse
das sind wir
mit unser'm Lied
das nur von Liebe und Leid erzählt
 
Fahrende Musikanten für immer
selten zu Hause für immer
Wir und unser Lied gehör'n der ganzen Welt.

Tagaus
tagein
so zieh'n wir durch die Lande
Hejo hejo ho
Wie früher mal so manche Räuberbande
Hejo hejo ho
Wir haben beide nie den Mut verloren
Hejo hejo ho
Wir sind nun mal für die Musik geboren
Hejo hejo ho

Oh oh oh
Fahrende Musikanten
das sind wir
Immer auf Achse
das sind wir
mit unser'm Lied
das nur von Liebe und Leid erzählt
 
Fahrende Musikanten für immer
selten zu Hause für immer
Wir und unser Lied gehör'n der ganzen Welt.

Uns lockt jeden Tag der Applaus
drum zieht es uns ein Leben lang hinaus.

Oh oh oh
Fahrende Musikanten
das sind wir
Immer auf Achse
das sind wir
mit unser'm Lied
das nur von Liebe und Leid erzählt
 
Fahrende Musikanten für immer
selten zu Hause für immer
Wir und unser Lied gehör'n der ganzen Welt.

Sonntag, 3. Dezember 2017

Toller Tanz

Im Foyer stehen auffällig viele Menschen lässig und übergerade in der dritten Position. Sie schwatzen beschwingt. Sie erwarten einen Genuß und werden ihn bekommen. Tänzer, die fast nichts verdienen, kaufen sich sehr teure Karten, um noch bessere Tänzern beim Arbeiten zuzusehen.

Das Nederlands Dans Theater gastiert mit vier sehr unterschiedlichen Choreographien im Haus der Berliner Festspiele. 

Es stimmt, die Karten sind teuer, aber hier "bekommt man was geboten für sein Geld".

Ein Ensemble von Künstlern, die unfassbar hart arbeiten und es unanstrengend erscheinen lassen. Sie tanzen, als wollten sie die Zeit überholen. Und fast gelingt es ihnen. 

Mein Respekt vor Tänzern ist enorm. Sie müssen sich quälen, um großartig zu sein, mit Schmerzen, und zwar täglich. Und dann, wenn sie richtig begreifen, was sie tun und was ihnen möglich ist, beginnt ihr Körper schon, zu revoltieren. Und für dieses harte Leben und ihre tiefe Liebe zum Tanz werden sie auch noch beschissen bezahlt. Ein Schauspieler kann sich notfalls auch mal durchschummeln. Nicht gut, aber möglich. Ein Tänzer kann das nie. Er muß blankziehen, jeden Abend.

N°1 Marco Goecke "Woke up blind" zu zwei Songs von Jeff Buckley. Menschentiere in unvorhersehbarem abrupten Wechsel zwischen Wahnsinnstempo und Ruhe, synkopiert von Fauchern. Manche Bewegungen so schnell, dass das Auge nicht folgen kann und ein Arm plötzlich wie ein Fächer scheint. Dann, dazwischen gesetzt, sieben Tänzer in vollkommener Synchronität.

Jeff Buckley "The way young lovers do" - ein tolles Lied
https://www.youtube.com/watch?v=rEv1dzbSYxg  

N°2 Crystal Pite & Jonathon Young "The Statement"
Ein kafkaesker Dialog an, auf, unter einem Verhandlungstisch zwischen unterer und oberer Etage über Krieg, Geschäfte und Verantwortung. Der Text läuft über Band und wird getanzt. Die Haltungen, Floskeln, Ausreden, Befehle, die Untertexte, die Machtkämpfe - der Text und viel mehr als der Text, all das, was ich bei Frau Kennedy vermißt habe, das Mehr. Grandios!!!!! 

Wie zählt man so etwas. Mit bloßem 1 bis 8 kommt man hier nicht weit. Die Musik muß den Körper durchdringen und auch die Gedanken der Choreographie. Denken und Tanzen.



https://www.youtube.com/watch?v=rragD1P34NA 

Nach der Pause wird es etwas konventioneller, aber die Qualität der Ausführung bleibt erstklassig.

...
auf dem Tanzboden wuchs das Gras
und der rote Mond schien durch das Dach,
'ne Musik gab's da,
da wurde was geboten für sein Geld!
Joe, mach die Musik von damals nach!

Bilbao Song b.b.

Donnerstag, 30. November 2017

Women in trouble - Frauen in Schwierigkeiten

Ich hab mich so doll gelangweilt.
Ich hab mich so doll gelangweilt.
Ich hab mich so doll gelangweilt. 

Wie bestellt und nicht abgeholt lungern diese in Puppenstubenbühnenbilder herum, als hätte ein Kind seine gestörte Elternbeziehung nachgebaut.

So sehr sie Castorf und Pollesch schätze, stünden beide auch sprachlich für ein „Nach-außen-Theater, eine Explosion, ein Baff! ins Publikum. Was ich mache, gleicht einer Implosion, der Zuschauer wird in die Bühne reingesogen. Eine Art positiver Autismus. Mich interessiert die Trance, in der man sich durch den Rosenkranz betet.“  
Eva Biringer Die Welt
https://www.welt.de/kultur/article163258705/Mich-interessiert-die-Trance-beim-Rosenkranz.html

Ich hab mich so doll gelangweilt.
Ich hab mich so doll gelangweilt.
Ich hab mich so doll gelangweilt. 

Ihre Figuren tragen Masken aus Wachs, benehmen sich im Bühnenraum wie ferngesteuert und bewegen nur automatenhaft die Lippen. Sie sprechen nicht, die Stimmen kommen vom Band. Es sind keine Schauspieler, die in eine Rolle schlüpfen, sondern Avatare in einer künstlichen Plastikwelt, die den Blick des Publikums zurückspielen.
Xaver von Cranach Spex
http://www.spex.de/susanne-kennedy-stueck-ohne-spieler/ 

Ich hab mich so doll gelangweilt.
Ich hab mich so doll gelangweilt.
Ich hab mich so doll gelangweilt. 

Woman in trouble - Die Vermessung der Volksbühne - Video
https://www.youtube.com/watch?v=vgmVdSVJmhY 

Nach einer Stunde und zwanzig Minuten bin ich gänzlich erschöpft aus dem Theater heraus.
Alles an diesem Abend war eins mit sich. Wo beim "Fegefeuer von Ingolstadt" Fleißers Zorn noch Gegenwucht in die Konstruktion schob, waren hier auch die Worte nurmehr Konversationshülsen. 
In meiner Gegend in Mitte, gibt es solch merkwürdige Designläden, halbleer, eine anstrengende Leuchte, unbequeme Sitzgelegenheiten, vielleicht eine Sofadecke in greige, zwei Kissen aus Kunstpelz, auch das Personal ist hochgradig perfekt. Mir ist, als hätte ich heute Abend in einem solchen Geschäft meine Zeit verbracht, obwohl diese Bezeichnung wahrscheinlich viel zu prollig für solch ein Gesamtkunstwerk ist. Junge Menschen mit latexverhüllten Gesichtern playbacken steif und eigenartig unterspannt die über Lautsprecher eingespielten Dialogfetzen, versetzt mit Erklärungstexten und Bibelzitaten. 
Gleichbleibende Geschwindigkeit bei der sich konstant drehenden Bühne, den sich langsam bewegenden Personen, der unterliegenden Musikfläche (mit leichten Variationen), den Videos von Meteoren, Zellen, Wasserbewegung.

Es geht um Krebs, Tod, Geburt, Verlust, vermute ich. In luxuriöser Draufschau. Selbst als eine der "Angelinas" sich blutige Teile aus der Votze zog, Verzeihung, aber ein ätzendes Wort muß sein, sah das eher nach "Künstlerin strickt mit Hilfe ihrer Vagina" aus, als dass sich irgendeine Vorstellung von Blut, Verletzung oder Schmerz einstellte.




Nach ihrem Kunst-Auftritt Ende 2013, bei dem sie einen Schal mit Wolle aus ihrer Vagina strickte, erhielt Casey Jenkins eine Flut beleidigender Kommentare. Nun schlägt sie zurück und strickt all die Hasskommentare auf Poster. Natürlich wieder mit Vagina-Wolle.

Ich hab mich so doll gelangweilt.
Ich hab mich so doll gelangweilt.
Ich hab mich so doll gelangweilt. 

Nein, hier wird nicht Vereisung des Schmerzes, nicht artifizielle Fremdmachung der universellen Angst vorm Tod zelebriert. Solches habe ich gerade in 4000 Jahre alten Gräbern in Ägypten gesehen. Hier entschuldigt sich der Wohlstand, denn "uns" geht es auch nicht gut. Stimmt. Mein Beileid.

Ich hab mich so doll gelangweilt.
Ich hab mich so doll gelangweilt.
Ich hab mich so doll gelangweilt. 

Dienstag, 28. November 2017

Jeder Mensch war einmal jung

Auf irgendwie ungute Weise ist gerade ein Bild des Malers Rudolf Schlichter auf den deutschen Kunstmarkt gelangt, das meine höchstpersönliche Großmutter in jungen Jahren zeigt.1928. Sie ist 28 Jahre alt. Schön, konzentriert, ernst.
Waren ihre Hände wirklich so groß? Ich erinnere mich nicht. Aber Buster Keaton auf dem Poster, das in meinem Kinderzimmer hing, und das jetzt zu meiner Stieftochter umgezogen ist, hatte auch solche Hände. Groß, zupackend, doch überaus zärtlich. Oma im blauen Kleid mit Hosenträgern?

https://magazin.spiegel.de/SP/2017/48/154432522/index.html?utm_source=spon&utm_campaign=centerpage



Als ich geboren wurde, war sie 58, meine ersten visuellen Erinnerungen beginnen sechs Jahre später. Für mich war sie Großmutter, schön und geliebt, aber für andere und zu anderen Zeiten war sie anderes. Eine sinnliche junge Frau, eine aufstrebende Schauspielerin, eine Österreicherin in Berlin, eine säkuläre Jüdin in Deutschland. Ein politisch denkender Kopf. Eine Liebende. Eine mit wenig Geld.


Als würden wir nur die Kapitel von Menschenbiographien wirklich annehmen, an denen wir selbst beteiligt waren. Das Davor ist in ihnen, ein Teil ihres Puzzles, aber wir sehen nur den Jetzt-Zustand. Meine älteste Freundin kenne ich seitdem sie vierzehn war, und egal wie sehr sie sich auch verändert, in meinen Augen, meinem Hirn, schwingt immer der freche, kantige, schlaue Teenager mit. Aber meine Oma, war immer meine Oma, ohne Vorleben, auch wenn ich, wäre ich aufmerksamer gewesen, die wilde junge Frau hier und da hätte aufblitzen sehen können.


Und so erscheine ich Menschen, die mich jetzt kennenlernen, als wäre ich schon immer alt gewesen. Den ganzen Menschen sehen, kann jeder wohl nur im eigenen Kopf. Und selbst da, treiben Selbstzensur und Unschärfe durch Abstand und Wunschdenken ihr Unwesen.



Am letzen Samstag habe ich mich 30 Jahre jünger auf der Leinwand gesehen. Eine schöne, fremde Frau.

Sonntag, 26. November 2017

Bilder aufhängen, eine heikle Angelegenheit

Bis zu meinem 50. Lebensjahr hatte ich nur die Jugendzimmer-Variante von Postern und Zufälligkeiten an meinen immer weißen Rauhfaser-Wohnwänden hängen. Ein Elbenspruch aus dem Herrn der Ringe, A Gelbereth Gilthoniel, ein Jahrzehnte altes Buster-Keaton-Plakat mit dem traurig schönen Mann mit den Schaufelhänden und eine Picasso - Reproduktion des Jungen mit der Pfeife.
Dann begann ich, mit Hilfe der Augen einer Freundin und der Passion eines Freundes, mir Bilder, Installationen und Photographien genauer anzuschauen. Und ich hatte Spaß dabei. Und Freude. Manchmal war ich überrascht und begeistert, manchesmal irritiert. Aber Vieles-Gucken hilft, man beginnt den seichten Betrug zu riechen und sich am Geschmack des wahren Könnens zu erfreuen. Und der Rest ist höchst persönlicher, letztendlich unerklärbarer  Geschmack.

Geschmack ist ein kulturelles und ästhetisches Ideal, insofern damit differenzierte Urteilsfähigkeit gemeint ist, nach der jedermann streben soll, sagt Wiki.


Und doch führe ich jetzt ein ziemlich unbeschwertes Leben zwischen Trash und Kitsch und Kunst. Und fühle mich frei genug, Unbekanntem offen zu begegnen und von hoher Warte aus Verachtetes, manchmal trotzdem zu genießen.
Meine geliebten Bilder, Photographien, Kopien, Mementos lagen tagelang in verschiedensten Anordungen auf dem Zimmerboden, bevor ich es wagte den ersten Nagel einzuschlagen.

 Walter Eisler

Unerwartete und sehr unterscheidbare Genüsse: Cate Blanchetts "Manifesto" im Hamburger Bahnhof und Jeanne Mammens Bilder in der Berlinischen Galerie und ein Gemälde das Charles Mellin zugeschrieben wird, im Jahr 1645, das Porträt eines dicken Herrn, des sogenannten Feldhauptmanns Alessandro del Borro. Und Photographien von Arbus und und und Bilder aus der Renaissance und das Pergamon Museum im Halbdunkel und immer wieder Herr Bosch, der Spießer mit den wunden Augen in den Niederlanden.

Heute habe ich einem Freund geholfen, seine Bilder um sich herum zu platzieren, Bilder, die er über Jahre liebevoll gesammelt hat. Wo stimmen die Farben, das Thema, die Blicke der Gemalten, die Architektur des ihnen zugewiesenen Raumes. Bauchgefühl und Ordnungsliebe widerstreiten gelegentlich. Das Bauchgefühl siegt immer.

Nach 30 Jahren - Lohndrücker von Heiner Müller

In der Imanuelkirchstrasse 6 im Prenzlauer Berg gibt es ein Cafe namens Kaffe, das von Uwe Noske geführt wird. Er sagt selbst über seinen Arbeitsort: Seit Oktober 2010 zeigen wir im KAFFE jeden Donnerstag einen DEFA - Film. Seit 2015 präsentieren wir einmal im Monat an einem Sonnabend in der Reihe "Theater an die Wand gespielt" eine Aufzeichnung eines Theaterstücks für das Fernsehen. Zusätzlich suchen wir nach spannenden Fernsehfilmen, Dokumentarfilmen oder laden zu Lesungen ein.Einen Eindruck vom Ort und vom Programm bekommt man unter unten stehender Website.
www.kaffe-kaffe.de

Ein tolles Angebot, dass regelmäßig zur Überfüllung des nicht allzu großen Gastraumes führt. An den Wänden: Rolf Hoppe und ein Bühnenbildentwurf von Volker Pfüller, die Sitzgelegenheiten sind wild zusammengesammelt, das Licht wird von Hand ausgeschaltet, die Atmosphäre ist warm und konzentriert und man trifft interessante Leute, manche hatte ich seit zwanzig Jahre nicht gesehen.


Heute: "Der Lohndrücker". 
Geschrieben 1956/57 in Zusammenarbeit mit seiner Frau Inge Müller, uraufgeführt 1958. 1959 erhalten die beiden dann den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste für die Werke "Der Lohndrücker" und "Die Korrektur". Es folgen Jahre der Verbote und Restriktionen, erst der Erfolg im verabscheuten Westen ermöglicht Heiner die zähneknirschende öffentliche Anerkennung des panisch auf Auslandswirkung bedachten verkrampften Blockstaates.
1988 inszenierte Heiner Müller dann sein Stück am Deutschen Theater in Berlin, und ich hatte Schwein und war dabei. 72 Vorstellungen. Wir waren damit als einziges DDR-Theater beim West-Berliner Theatertreffen und wir haben es auch in Paris gespielt. Ein Fest. Ich dachte heut beim Gucken, was waren wir für ein großartiges Ensemble damals! Heiner hat mich das Versesprechen gelehrt und er hat uns alle, Technik und Spieler, dazu gebracht mit Freude kluge Arbeit zu leisten für diesen Abend. Kein kleines Stück über längst vergangene Vorgänge in einem winzigen Land, sondern eine Tragödie von historischem Ausmaß ereignete sich auf dieser Bühne.

Was ist ein Lohndrücker? 
Echtes Vorbild des Müllerschen "Lohndrückers" ist der Ostberliner Arbeiter Hans Garbe. Aktivist Garbe war als Maurer in dem verstaatlichten Ostberliner Siemens-Plania-Betrieb beschäftigt, einer Fabrikationsstätte für Tonbehälter, Röhren und feuerfeste Steine. Zu seinen Obliegenheiten gehörte die Pflege der Ofen, in denen dieses Material gebrannt wurde. Angeregt von den SED-Parolen zur Steigerung der Produktion, und getragen von dem Bewußtsein, "daß ich jetzt für uns arbeite, daß wir eine neue Welt aufbaun", entwickelte Maurer Garbe einen derartigen Arbeitseifer, daß er ständig sein Maurer-Soll in bedeutend kürzerer Zeit erfüllte als es die Arbeitsnorm vorsah. 
Einer arbeitet schneller, die Norm erhöht sich für alle. 

Ich bin froh, damals dabei gewesen zu sein und es heute nochmals gesehen zu haben. In einem Ein-Kamera-Mitschnitt, wackelig, unscharf und zu dunkel. Egal. Das war etwas Großes, richtig zu seiner Zeit und voll Wahrheit. 

AUS "DER HORATIER" 

Wie soll der Horatier genannt werden der Nachwelt?
Und das Volk antwortete mit einer Stimme:
Er soll genannt werden der Sieger über Alba
Er soll genannt werden der Mörder seiner Schwester
Mit einem Atem sein Verdienst und seine Schuld.
Und wer seine Schuld nennt und nennt sein Verdienst nicht
Der soll mit den Hunden wohnen als ein Hund
Und wer sein Verdienst nennt und nennt seine Schuld nicht
Der soll auch mit den Hunden wohnen.
Wer aber seine Schuld nennt zu einer Zeit
Und nennt sein Verdienst zu anderer Zeit
Redend aus einem Mund zu verschiedner Zeit anders
Oder für verschiedne Ohren anders
Dem soll die Zunge ausgerissen werden.
Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn
Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann
Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte
Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar
Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich.
Tödlich dem Menschen ist das Unkenntliche.
So stellten sie auf, nicht fürchtend die unreine Wahrheit
In Erwartung des Feinds ein vorläufiges Beispiel
Reinlicher Scheidung, nicht verbergend den Rest
Der nicht aufging im unaufhaltbaren Wandel
Und gingen jeder an seine Arbeit wieder, im Griff
Neben Pflug, Hammer, Ahle, Schreibgriffel das Schwert.
 

Freitag, 24. November 2017

Ägypten 7 - Grabmalereien

Im Tal der Könige und anderen Tälern

In unwirtlicher steiniger Hitze, nur eine kurze Taxifahrt von Luxor entfernt, dem historischen Theben, das aber nicht das griechische ist, dieses hat einhundert Tore, das andere die berüchtigten sieben, also hier liegen die Gräber vieler Pharaonen, das Tal der Königinnen ist nicht weit, und dann gibt es noch das Tal der Noblen und das der Arbeiter. Das letzte ist das schönste. 
In den kahlen Bergen sieht man Löcher, viele. Manchmal geht es dann tief und steil hinunter, manchmal ist ein Raum eingestürzt, der Sandstein zerbröselt leicht. Es ist dunkel, die Lichtquellen schwach und unregelmäßig aufgestellt. Eigentlich ist photographieren verboten, aber für ein paar Pfund, sieht jeder freundlichst woanders hin.



Die Uräusschlange ist ein Symbol der altägyptischen Ikonografie. Der altgriechische Begriff ouraĩos, latinisiert Uraeus, geht vermutlich auf das altägyptische uaret zurück, was im Allgemeinen mit „die sich Aufbäumende“ übersetzt wird. Im Alten Ägypten gilt diese goldene, in Form einer sich aufreckenden, blähenden und Gift sprühenden Kobra dargestellte Stirnschlange Göttern wie Pharaonen als abwehrendes Schutzsymbol, indem Uräus mit dem Gluthauch seines Feueratems die Feinde seines Trägers abwehrt. In gleicher Eigenschaft wird das Symbol mindestens seit der 3. Dynastie auch zum Schutz von Bauwerken an deren Fassaden und über Eingängen angebracht. (Wiki)


 Aus dem Buch der Toten

O Amon, Amon! Vom Himmelsgewölbe
Schaust du zur Erde herab.
Wende dein strahlendes Antlitz zur starren, leblosen Hülle
Deines Sohnes, des vielgeliebten!
Mache ihn kräftig und siegesbewusstIn den Unteren Welten!


Verrückt, aus Angst vor Grabräubern hat man schon in alter Zeit viele Mumien großer Herrscher aus ihren Gräbern geschleppt und in einer Art Sammelgrab untergebracht. Für Prunkgrab bezahlt, im Massengrab gelandet.

Isis schützt. Wer da nicht an Engel denkt.

Die Arbeiter, die in einer Art Reihenhaussiedlung untergebracht waren, gruben sich ebenfalls Gräber, die Bildsprache der Oberen war ihnen verboten, also malten sie eigene Mythen.

Kampfaffen

 Eine Eule

 Im alten Ägypten trugen die Pharaonen und andere Herrscher plissierte Kleidung, sie war ein Symbol von Macht und Reichtum. Dem gewöhnlichen Volk war diese Art der Kleiderverziehrung vorenthalten, da die Herstellung sehr teuer und äußerst zeitintensiv war. Damals wurden Naturstoffe plissiert, dies geschah per Hand. Die Stoffe wurden befeuchtet und gefaltet, anschließend wurden sie zur Plissierung zwischen zwei Steinplatten gelegt. Diese Steine erhitzten sich in der Sonne und fixierten so die Stofffalten.
http://ratgeber.schattendiscount24.de/der-ursprung-des-plissees/

Im ägyptischen Museum in Kairo habe ich altägyptische Perücken gesehen, 
sie waren aus dicken schwarzen Wollfäden gemacht. Müssen die geschwitzt haben.

 Gigantisch

 Wiederbelebungsmaßnahme

 Ein aggressiver Hase? Ein Tiger mit übergroßen Ohren?

Musik

Gedichte eines Lebensmüden

um 1800 v. Chr.
Gespräch eines Mannes mit seinem Ba

Der Ba, auch Exkursionsseele, ist in der Ägyptischen Mythologie eine Bezeichnung für einen bestimmten Aspekt des Seelischen, der sich trotz einer engen Bindung an den Körper von diesem ablösen und entfernen kann. Solche Seelen, die den Körper verlassen und eigenständig agieren, werden in der Ethnologie und Religionswissenschaft „Freiseelen“ genannt. 

Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank von Aasgeiern an Sommertagen, wenn der Himmel glüht.
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, [mehr als der Gestank] beim Fischempfang am Tage des Fischfangs, wenn der Himmel glüht.
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank von Vögeln, als ein Sumpfdickicht mit Wasservögeln.
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank der Fischer und als die Lagunen, in denen sie fischen
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank von Krokodilen, als ein ganzer Wohnplatz von Krokodilen.
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als eine Ehefrau, über die man ]lügen verbreitet wegen eines Mannes.
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als das Kind eines Angesehenen, von dem gesagt wird, es gehöre dem, den er haßt.
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, [mehr als] eine Siedlung des Königs, die auf Empörung sinnt, wenn sein Rücken gesehen wird.
Der Mann klagt über seine Lage:
Zu wem soll ich heute sprechen? Die Angehörigen sind schlecht, die Freunde von heute kann man nicht lieben.
Zu wem soll ich heute sprechen? Habgierig sind die Herzen, ein jeder beraubt seinen Nächsten.
Zu wem soll ich heute sprechen? Die Milde ist zugrunde gegangen, Gewalttätigkeit ergreift Besitz von jedermann.
Zu wem soll ich heute sprechen? Das Antlitz des Schlechten glänzt zufrieden, das Gute ist zu Boden geworfen überall.
Zu wem soll ich heute sprechen? Wer einen Mann wegen seiner schlechten Tat zur Rede stellt, bringt alle Bösewichter zum Lachen.
Zu wem soll ich heute sprechen? Man plündert. Jeder bestiehlt seinen Nächsten.
Zu wem soll ich heute sprechen? Der Verbrecher ist ein Vertrauensmann, der Bruder, mit dem man lebte, ist zum Feind geworden.
Zu wem soll ich heute sprechen? Man erinnert sich nicht an Gestern und vergilt (auch) nicht dem, der jetzt (Gutes) tut.
Zu wem soll ich heute sprechen? Die Angehörigen sind böse, man wendet sich zu Fremden, um Redlichkeit zu finden.
Zu wem soll ich heute sprechen? Die Herzen sind zugrunde gerichtet, jedermann wendet den Blick zu Boden vor seinen Angehörigen.
Zu wem soll ich heute sprechen? Die Herzen sind habgierig, man kann sich auf keines Menschen Herz (mehr) verlassen.
Zu wem soll ich heute sprechen? Es gibt keine Gerechten, die Welt bleibt denen überlassen, die Unrecht tun.
Zu wem soll ich heute sprechen? Es mangelt an Vertrauten, man nimmt Zuflucht zum Unbekannten, um ihm zu klagen.
Zu wem soll ich heute sprechen? Es gibt keinen Glücklichen, und jener, mit dem man (früher) ging, ist nicht mehr.
Zu wem soll ich heute sprechen? Ich bin mit Elend beladen, weil mir ein Vertrauter fehlt.
Zu wem soll ich heute sprechen? Das Übel, welches die Welt schlägt -kein Ende hat es!

Der Mann preist den Tod:
Der Tod steht heute vor mir wie das Genesen eines Kranken, wie wenn man ins Freie tritt nach einem Leiden.
Der Tod steht heute vor mir wie der Duft von Weihrauch, wie Sitzen unter dem Segel am Tag des Windes.
Der Tod steht heute vor mir wie Duft der Lotosblüten, wie Wohnen am Rand der Trunkenheit.
Der Tod steht heute vor mir wie das Aufhören des Regens, wie die Heimkehr eines Mannes vom Feldzug nach Hause.
Der Tod steht heute vor mir wie die Klarheit des Himmels, wie wenn ein Mensch die Lösung eines Rätsels findet.
Der Tod steht heute vor mir wie der Wunsch eines Menschen, sein Heim wiederzusehen, nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbrachte.

Der Mann sehnt sich nach dem Jenseits:
Wahrlich, wer dort ist, ist ein lebendiger Gott, der die Sünde bestraft an dem, der sie tut.
Wahrlich, wer dort ist, der steht im Sonnenschiff, Erlesenes verteilt er daraus für die Tempel.
Wahrlich, wer dort ist, der ist ein Weiser der nicht gehindert werden kann, zum Sonnengott zu gelangen, wenn er spricht.

Dienstag, 21. November 2017

In Traurigkeit für Silvia - Aus: Immanuel Kant Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht


Alle Cultur und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genötigt wird sich zu disciplinieren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln.

 SECHSTER SATZ

Dieses Problem ist zugleich das schwerste und das, welches von der Menschengattung am spätesten aufgelöset wird. Die Schwierigkeit, welche auch die bloße Idee dieser Aufgabe schon vor Augen legt, ist diese: der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nöthig hat. Denn er mißbraucht gewiß seine Freiheit in Ansehung anderer Seinesgleichen; und ob er gleich als vernünftiges Geschöpf ein Gesetz wünscht, welches der Freiheit Aller Schranken setze: so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige thierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche und ihn nötige, einem allgemeingültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen. Wo nimmt er aber diesen Herrn her? Nirgend anders als aus der Menschengattung. Aber dieser ist eben so wohl ein Thier, das einen Herrn nöthig hat. Er mag es also anfangen, wie er will; so ist nicht abzusehen, wie er sich ein Oberhaupt der öffentlichen Gerechtigkeit verschaffen könne, das selbst gerecht sei; er mag dieses nun in einer einzelnen Person, oder in einer Gesellschaft vieler dazu auserlesener Personen suchen. Denn jeder derselben wird immer seine Freiheit mißbrauchen, wenn er keinen über sich hat, der nach den Gesetzen über ihn Gewalt ausübt. Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst und doch ein Mensch sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich; aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt.