Sonntag, 30. April 2017

Ein feiner Sonntag in Berlin

350 Galerien öffnen ihre Türen für drei Tage, ein langes Wochenende lang, in Mitte, in Kreuzberg, in Charlottenburg und auf der Potsdamer Straße - ich war nur in zehn davon und nur in Mitte. Ich bin Lokalpatriot. Der Tag war kühl und sonnig, das was Berliner Kniestrumpfwetter nennen. Im Gropiusbau zeigt Jürgen Teller sehr viele Teller und Menschen mit Tellern und Bilder seiner Mutter und gekritzelte Notizen und ein tolles dreidimensional wirkendes Waldbild. Enjoy your life! Ich bleibe kühl wie das Wetter und nicht so sonnig.
Daniel Richter bietet politische Plakate, die er an John Heartfield anlehnt, die sich mir aber nur partiell erschließen und er kuratiert im Erdgeschoß eine Ausstellung von Jack Bilbo, aka Hugo Cyrill Kulp Baruch; geboren am 13. April 1907 in Berlin; gestorben am 19. Dezember 1967 ebenda. Kneipier, Antifaschist, Maler, Reisender, Fliehender und Lebemann.

TAZ-Artikel zu Jack Bilbo 

Anekdotisches zum Liebermann Haus am Pariser Platz:
Der nach seinen eigenen Worten "eingefleischte Jude", aufrechte Liberale und Berliner Großbürger Max Liebermann war ein selbstbewusster Hausherr. Zwei Mal musste er seinen Besitz gegen die allerhöchste Stelle verteidigen - gegen Kaiser Wilhelm II. Gleich nach dem Einzug gab Liebermann beim Berliner Architekten Hans Grisebach den Entwurf eines Ateliers im Dachgeschoss in Auftrag. Der Maler wollte am Pariser Platz nicht nur mit seiner Frau Martha und seiner Tochter Käthe leben, sondern dort auch arbeiteten. Aber der Kaiser fand den gläsernen Aufbau, den Grisebach als Oberlicht für das Dachatelier entwarf, "scheußlich". Erst nach einem vierjährigen Behördenmarathon konnte Liebermann das Atelier beziehen. Tagesspiegel 29.03.2000

 Jack Bilbo

Danach einmal die Linienstrasse herauf und die Auguststrasse herunter, in jedem Kellerloch, einst sicher die Werkstatt eines ostjüdischen Schusters oder Flickschneiders, hängt Kunst, oder was sich dafür ausgibt. Viele junge Leute, uniform individuell bekleidet und dazwischen reiche ältere Sammler, deren chauffeurbetriebenen Automobile mit laufenden Motoren auf ihre nach frischer Beute suchenden Besitzer warten.
In der Gallerie Rasche Ripken in der Linienstrasse 148 Rik de Bo und Hein Spellmann, der eine malt, immer im gleichen Format, Fenster, hypnotisierend, der andere photographiert Häuserfronten und klebt die Photos auf konvexe Formen. Sehr viel traurige Orte von außen. In einer anderen Gallerie Polixeni Papapetrou, eine australische Griechin, die erleidende Figuren in Camouflage in Landschaften stellt. Was für ein Name.


Und dann noch Luca Lanzi, gequälte, böse Kinder und verwischte Spielzeuge.



Dazwischen Kunsthandwerk und pretentiöser Quatsch, aber auch die Islandbilder von Michael Najjar.  
Michael Najjar verfolgt Naturphänomene wie den Klimawandel und führt uns dessen Brisanz in großformatigen Fotokompositionen vor Augen. Neue Aufnahmen von Spalten und Eishöhlen des Breidamerkurjökull-Gletschers in Island, der sich jährlich bis zu 100 Meter zurückzieht, kombiniert er mit Satellitenbildern desselben Gletschers und verdeutlicht so seine Vergänglichkeit. Zugleich nimmt er Bezug auf das Werk Alfred Ehrhardts, der genau am selben Ort bereits 1938 die Gletscherlandschaft dokumentierte. 
art das kunstmagazin

 
Ein feiner Sonntag, der durch meine kluge Freundin und einen Eisbecher mit Sahne und Würstchen mit Senf vervollkommnet wurde.
Danach zurück an den Computer und in die Bibel. Mein Leben ist wahrhaft voller Kontraste. Schön.

Freitag, 28. April 2017

Glückliche Tage - Manzel spricht

       (C) Arno Declair

WINNIE (zum Himmel blickend:)
Wieder ein himmlischer Tag.

(Pause. Kopf wieder gerade.
Blick nach vorn gerichtet.
Faltet Hände vor der Brust.
Schließt Augen. Lippen bewegen
sich zu unhörbarem Gebet, etwa
drei Sekunden, dann unbewegt.
Hände bleiben gefaltet. Leise)
Um Jesu Christi willen Amen.
(Augen öffnen sich, Hände lösen
sich und legen sich wieder auf
den Hügel. Pause. Sie faltet
abermals Hände vor der Brust,
schließt Augen, Lippen bewegen
sich zu unhörbarem Nachsatz,
etwa drei Sekunden. Leise) In
alle Ewigkeit Amen. (Augen
öffnen sich, Hände lösen sich
und legen sich wieder auf den
Hügel. Pause.) Beginne, Winnie.
(Pause.)Beginne deinen Tag, Winnie.


Oder ohne Regieanweisungen:
 
WINNIE Wieder ein himmlischer Tag.
Um Jesu Christi willen Amen. In
alle Ewigkeit Amen. Beginne, Winnie.

Beginne deinen Tag, Winnie.

Sein Bild hängt seit 30 Jahren an meiner Wand. Samuel Barclay Beckett, Ire, Poet, schönster mir bekannter Gesichtsfaltenträger.

 
Eine Frau auf einem Stuhl. Ein Mann, den man nur von hinten sieht. Alles was darüber hinaus auf der Bühne ist, könnte auch nicht da sein. Der Mann spricht wenig, genauer gesagt, 45 Worte. Rudolf Fernau ließ sich in der deutschen Uraufführung nach 6 Tagen umbesetzen. 

WINNIE versetze dich in die
Zeit, etwas sagt mir, versetze
dich in die Zeit, Winnie, da die
Worte fehlen werden 
 
Die Frau spricht viel, verliert den Faden, schnattert, murmelt, verstummt gelegentlich, die Augen bleiben hoffnungsfroh, der Mund kämpft gegen ein riesiges Weinen, sie schwatzt weiter, nähert sich einer Wahrheit, doch sie zerfällt ihr irgendwo zwischen Rachen und Lippe.

WINNIE
keine Verschlimmerung - 
keine Besserung, keine Verschlimmerung - 
keine Veränderung -
keine Schmerzen - 
fast keine -
das ist die Hauptsache -
da geht nichts drüber


Einundeinehalbe Stunde Dagmar Manzel als Winnie. Ganz zart, schamhaft darum bemüht den eigenen Untergang wegzureden. 
Immer wieder glaubt sie einen Haltepunkt gefunden zu haben, 
fällt tief ins Schweigen, haspelt, hackert, stottert, löst sich mehr und mehr auf
Nicht mehr, aber auch keine kostbare Silbe weniger.
 

Donnerstag, 27. April 2017

Absurd, absurder, am absurdesten

Ein Bundeswehr-Soldat bewirbt sich, behauptend er sei ein syrischer Flüchtling, um Asyl im Deutschland des Jahres 2017. Er spricht kein einziges Wort arabisch. Wird dennoch von der zuständigen Behörde anerkannt, erhält die gesetzlich zugesicherte finanzielle Unterstützung, nimmt sie in Empfang und plant gleichzeitig einen terroristischen Anschlag, den er dann echten Flüchtlingen unterschieben will. Zum Beweis ihrer terroristischen Grundtendenz.
Wer diese Geschichte glaubt, wird selig. Bin ich selig? Selig sind doch bekanntermaßen, die, die reinen Herzens sind?
Ist es Durchtriebenheit? Oder Wahnsinn mit Methode? Oder ist Hass  einfach ein irrwitziger Ratgeber?
Hat der Mann sich amüsiert, als alle auf seine Scharade reinzufallen schienen. Fühlte er sich allmächtig, als er den Gutmenschen und Fremdlingen eins auszuschwischen schien? Ist er grenzdebil oder sind es unsere Ämter?
Jeder Mensch hat die gleichen Rechte. Und die gleichen Pflichten.
Jeder Mensch in Not, bedroht durch Krieg, Tyrannei oder Hunger, hat ein Recht auf unsere Hilfe. Jeder Mensch muß dies aber auch anderen Menschen zugestehen. Jeder. 
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. 
Schutz gegen jeden Angriff, ob von rechts, links, mitte außen, nord, süd oder durch religiös begründete Intoleranz. 
Jeder Mensch hat das Recht auf diesen Schutz. Aber kann es einer dieser Menschen nicht ertragen, dass ein anderer Mensch anders leben will, als es ihm richtig erscheint, und will er dieses Recht des Anderen deshalb verletzen oder einschränken, dann muß er bestraft werden. Hart. Mit der ganzen Kraft unseres Gesetzes.
Genausowenig man ein bisschen schwanger sein kann, genausowenig kann mann ein bisschen demokratisch sein. Entweder, Oder. Wir müssen die NPD aushalten, solange sie sich in den Grenzen des Grundgesetzes bewegt. Wir müssen, schweren Herzens, kopftuchtragende Mädchen akzeptieren und die Beschneidung kleiner jüdischer Jungs. Bei der Beschneidung kleiner Mädchen sieht es anders aus, denn die nimmt ihnen das Recht auf zukünftige sexuelle Lust. Kopftuchverhüllte Mädchen müssen aber halt auch den Anblick von Aktbildern ertragen und winzig kleine Bikinis im deutschen Bade-Sommer. 
Wir wiederum müssen Sarrazin aushalten und die wiederwärtigen, verlogenen Leugner des Holocaust. Aber, sobald jemand unser mühsames Aushalten nicht aushält, muß er die Strenge unserer Gesetze spüren. 
Jeder wie er will. Aber, dass heißt auch Akzeptanz des Willens des anderen.
Wäre ich Diktator, was ich, Gott sei Dank, nie sein werde, würde ich alles mögliche verbieten. "Wenn ich König von Deutschland wäre". Bin ich aber nicht. Und das ist gut so. Meine Meinung ist eine von vielen. Ihr müßt sie aushalten. Und ich die eure. 
Demokratie heißt für mich auch, die Dummheit der anderen zu ertragen. Solange die Mehrzahl meiner Mitbewohner dumm ist, wird auch unsere Politik dümmlich sein. 
Selbst Trump, der Drecksack, ist demokratisch gewählt worden. Wobei viele eigensüchtige Billonäre diese "freie" Entscheidung gefördert haben. Trump hat aber Teile des Senats und Teile der Presse als Widersacher. Widerspruch, ein zutiefst demokratisches Konzept. Erdogan zum Beispiel verhaftet einfach alle, die ihm widersprechen. Orban in Ungarn und Jaroslaw Kaczynski in Polen planen dasselbe. 
Was können wir tun, um die Demokratie, schwach und korrumpiert, aber doch immer noch besser, als alle anderen Regierungsformen, zu schützen?


Türkische Soldaten und ein Flüchtlingskind an der Grenze zu Syrien nahe der Stadt Akcakale im Südosten der Türkei ©Osman Orsal/Reuters

Fluggast 2017

Eine beliebige Flugreise mit einer beliebigen Fluggesellschaft im Jahr 2017, dem Jahr 16 nach 9/11 und dem zigsten Jahr im scheinbar ewigen Wettkampf der Fluggesellschaften um hohe Gewinnspannen.

Das Abenteuer beginnt, außer in Tegel, bei weiten Reisen, heutzutage zwei Stunden vor Abflug, mit Warten. In Israel waren es drei.
Entweder hat man, wie ich, online eingecheckt und wandert halbwegs flüssig durch die Gepäckaufgabe, oder lungert ergeben in der langen, langsamen Schlange vor einem der zu wenigen Eincheckschalter.

Passkontrolle, hier verliere ich einen Mitreisenden, der die notwendigen,  neuerfundenen Papiere nicht vorweisen kann und betäubt zurückbleiben muß. ETA, SETA - Länder, gerade noch visafrei besuchbar, tricksen ein Halbvisum herbei, online auszufüllen, ein paar Euro bezahlt und das Versprechen gegeben, dass man kein Terrorist sei. Wenn man allerdings die Info verpaßt hat - aus der Traum.

Sicherheitskontrolle, mein Cremedöschen wird als mögliches Sprengstoffbehälterchen konfisziert, meine schwitzige Fußsohlen mißtrauisch untersucht, das iPad aufgeklappt und angestarrt. Verkrampfte Körper werden zentimeterweise abgefühlt oder in Röntgen-Fix Kabinen durchleuchtet, die Füße gespreizt aufgestellt auf den auf dem Boden gemalten Sohlen, die Hände in Ergebungsgeste erhoben. Anmerkung: Schuhe sollten leicht an- und ausziehbar sein, die Dame vor mir, hat eine halbe Stunde die Senkel ihrer oberschenkelhohen Schnürstiefel bearbeitet. 

Tegel rund, praktisch und ältlich, kurze Wege und wenig Glamour, Frankfurt geeignet für Marathontrainingseinheiten, München mit schickem Shuttleservice, Genf mit Raucherlaubnis unter Dunstabzugshauben, Charles-De-Gaulle ohne Wegweiser, Heathrow mit psychedelischen Teppichmustern, aber letztendlich gleichen alle großen Flughäfen mehr und mehr anonymen Einkaufszentren mit angeschlossenem Flugbetrieb. Das Essen ist schlecht und überteuert, Sushi, nur entfernt mit der japanischen Speise verwandt, immer noch die sicherste Wahl, reichlich Wasabi deckt auch den ödesten Fisch mit Schärfe zu.

Ich beobachte, wie in umgekehrter Proportionalität zum immer geringeren erlaubten Gewicht des abzugebenden Gepäcks, die ins Flugzeug mitgenommenen Taschen an Masse zunehmen. Dass heißt, dass ich in den engen Gängen des Luftgefährts erst anderen mein Zeugs um die Ohren schlage, und dann sitzend, selbst mehreren fetten Taschen nur um Haaresbreite ausweichen kann. Wir drängeln uns also, zugehängt mit Handgepäck; Rollkoffer, Computertasche, Nackenkissen etc. auf die Sitze, Fenster bevorzugt, Mitte gehaßt, Gang geht noch, mit dem Nachteil, dass man den Arm oder den Arsch der überlasteten Flugbegleiter gelegentlich mitten im Gesicht hat. 
Flugbegleiter, Steward oder -ess, einstmals ein Beruf mit der schicken Aura der Weltläufigkeit, ist heute, zumindest auf Kurzstreckenflügen, wohl eher die Pflicht in häßlicher Uniform Wagen mit vielerlei Getränken im Sausetempo durch schmalste Gänge zu schubsen. Je schmaler der Gang, desto mehr Sitze passen rein, na klar. Aus wissenschaftlich nachweisbaren, mir nicht erinnerlichen Gründen, ist Tomatensaft und sein alkoholischer Verwandter, die Bloody Mary, in Flugzeugen besonders beliebt.

Economy - Premium Economy - Business Class - First Class. 
Glasklare Klassenunterschiede auf engstem Raum, ohne die übliche verschwiemelnde Tünche, extra Einstieg, besseres Essen, freundlicherer Service in Sichtweite, denn für Start und Landung müssen die verhüllenden Vorhänge weggezogen werden. Entweder sitzt du, die Ohren im direkten Kontakt mit deinen Knien und die Ellbogen im Dauerstreit um die schmale Armlehne mit Deinem Nachbarn. Oder du entspannst in Eigenentscheidung über den Grad deines Lümmelns.

Detail: Ich muß pullern, als gerade Essen verteilt wird, der Wagen versperrt den Gang links und rechts, die Toiletten in die andere Richtung sind den Gästen der ersten Klasse vorbehalten, Gott sei Dank habe ich eine geduldige Blase. 

Mein letzter Flug, gestern, acht Stunden in Economy plus, was nicht zu unterschätzende 20 Zentimeter mehr Beinfreiheit bedeutet und metallenes Besteck, anstatt Plastemessern. Auf einem Bildschirm 20x30 schaue ich Star Trek XVII. und diverse andere uninteressante Filme. Essen habe ich mitgebracht. Es geht nach Hause, ich bin voller Vorfreude. Nur einhundertfünfzig Jahre früher hätte ich sechs Tage benötigt, um von Amerika nach Hause zu fahren, per Schiff.

So sagt es Wiki: Die Dauer der Überfahrt von Europa nach Amerika hat sich im Laufe eines Jahrhunderts folgendermaßen verringert: Im Jahre 1801 stellte der einer Hamburger Reederei gehörige Dreimaster „Hoffnung“ mit der Reisedauer von 30 Tagen einen Rekord auf. Bis dahin hatten Segelschiffe im Durchschnitt 33 Tage zum Kreuzen des Ozeans gebraucht. Bereits 18 Jahre später, 1819, brauchte als erster Ozeandampfer die „Savannah“ zur Überfahrt nur noch 25 Tage, obgleich das Fahrzeug äußerst plump konstruiert war und wegen Raummangels nicht genügend Kohlen für die ganze Reise mitnehmen konnte. 1830 wurde dann von dem Engländer Cunard, nach dem die berühmte Reederei noch heute ihren Namen führt, die erste regelmäßige Dampferverbindung zwischen den beiden Kontinenten eingerichtet. Die Cunardschiffe, ebenfalls Raddampfer, legten die Strecke bereits in 18 Tagen zurück. 1848 wurde der bisherige Rekord dann durch die „Britannia“ gedrückt, die nur 14 Tage bis New York gebrauchte. Bereits 8 Jahre später, 1856, brachte es die mit Maschinen von 3600 Pferdestärken ausgestattete „Persia“ auf 9 Tage. Mit der Einführung der Schiffschraube für die Ozeandampfer und des Stahles als Baumaterial gelang dann eine weitere Verkürzung der Reisedauer. 1860 sehen wir den ersten Schraubendampfer, den „Excelsior“, den Ozean in 8 Tagen kreuzen. 1862 brauchte der Hamburger Dampfer „Prussia“ nur noch 7 Tage. 1887 erreichte die in Deutschland erbaute „Lahn“ ihr Ziel in 6 Tagen.

Das Fliegen in den Sechzigern: https://www.youtube.com/watch?v=QaXZ8Nisyjo 
https://www.youtube.com/watch?v=2sgVW484UW0 
https://www.youtube.com/watch?v=sHELzkz6Z_8 

Die Fliege im Flugzeug
Ich war der einzige Passagier
Und hatte - nur zum Spasse -
Eine lebende Fliege bei mir
In einem Einmachglase.

Ich öffnete das Einmachglas.
Die Fliege schwirrte aus und sass
Plötzlich auf meiner Nase
Und rieb sich die Vorderpfoten.
Das verletzte mich.
Ich pustete. Sie setzte sich
Auf das Schildchen "Rauchen verboten".

Ich sah: der Höhenzeiger wies
Auf tausend Meter. Ha! Ich stiess
Das Fenster auf und dachte
An Noahs Archentaube.
Die Fliege aber - ich glaube,
Sie lachte.
Und hängte sich an das Verdeck
Und klebte sehr viel Fliegendreck
Um sich herum, im Kreise,
Unmenschlicherweise.

Und als es dann zur Landung ging,
Unser Propeller verstummte,
Da plusterte das Fliegending
Sich fröhlich auf und summte.

Gott gewiss, was in mir vorging,
Als solches mir durchs Ohr ging.
Ich weiss nur noch, ich brummte
Was vor mich hin. So ungefähr:
Ach, dass ich eine Fliege wär.

Joachim Ringelnatz

Dienstag, 25. April 2017

Hieronymos Bosch getanzt - Verwirrende Träume

DER GARTEN DER IRDISCHEN LÜSTE

Das Dreitafelbild "Der Garten der Lüste" ist ein Triptychon des niederländischen Malers Hieronymus Bosch. Die Forschung geht davon aus, dass das Werk um 1500 gemalt wurde, so schreibt Wiki.

220 × 390 cm, riesengroß, Ölfarben auf Eiche - die Augen gehen mir über

Der Maler, der Mann "mit dem heiligen Namen", was die Übersetzung seines Vornamens wäre, hat nahezu sein gesamtes Leben in einer mittelgroßen Stadt in Brabant, damals ein Teil der Niederlande, zugebracht, in 's-Hertogenbosch, er war fest eingebunden in die städtischen und religiösen Bindungen seiner Zeit und blieb unauffällig in den uns bekannten historischen Annalen. Welche furchterregenden, erotischen Phantasmen bevölkerten seinen Kopf? Waren es ausschließlich die biblisch gespeisten Bilder der ihm zugeordneten Zeit oder besaß er wahrhaft das dritte Auge, das unsere Urängste sehen kann, das was nach Mitternacht in unseren Träumen tanzt? Haben ihm "die Parzen bei der Geburt die Augenlider weggeschnitten", wie es Heiner Müller über Georg Büchner formulierte?
Die Redewendung "die Augen gehen einem über" hat zwei Bedeutungen; zum einen in der Umgangssprache: »Jemand ist durch einen Anblick überwältigt«, und zum andern in gehobener Sprache: »Jemand beginnt zu weinen«. Die zweite Verwendung findet sich bereits im Johannesevangelium (11, 35), wo es von Jesus beim Anblick des toten Lazarus heißt: »Und Jesu gingen die Augen über.« Goethe benutzt den Ausdruck in der in Faust I eingegangenen Ballade »Der König von Thule« (1774): »Die Augen gingen ihm über,/Sooft er trank daraus«

http://universal_lexikon.deacademic.com 
Im Englischen wird das Bild "The garden of earthly delights" genannt, "Der Garten der irdischen Vergnügungen". Höllisches Grausen rechts,  neutestamentarische Verharmlosung links, aber was ist das bitte in der Mitte? "A place filled with the intoxicating air of perfect liberty", "ein Ort erfüllt von der berauschenden Luft der perfekten Freiheit", wie es der amerikanische Autor P. S. Beagle nannte?
Was ist mit uns passiert in dem Raum zwischen Unschuld und dem Wissen um Gut und Böse? Ein gutsituierter Provinzler malt unsere Albträume? Es gibt in der Malerei ein Davor und ein Danach, aber nichts dergleichen. Was wußte er, das wir nicht wissen wollen?


Bei Marie Chouinard entsteht daraus ein Kampf zwschen den hypnotischen Bildern Boschs und den darauf reagierenden Tänzern ihrer Compagnie. Zwei seitlich positionerte Videoschirme zeigen Details der Bilder und ich erwische mich mehrmals dabei, dass ich auf diese starre und den im selben Moment stattfindenden Tanz verpasse. 
Zehn Tänzerinnen und Tänzer tollen zunächst in fast naiver Unschuld mit- und umeinander, werfen sich dann in den wüsten Tumult des Fegefeuers, um schließlich in Stille und Frieden des Paradiesgartens die biblischen Bildwelten zu hinterfragen. 
tanzschrift.at Wien August 2016 








Sonntag, 16. April 2017

Das Wundertheater des Robert Lepage

Ein nicht mehr ganz junger Mann betritt die schwarze Bühne, bittet uns darum unsere Telephone auszuschalten, zeigt sein eigenes, dass er gern & viel benutzt, gerät ins Schwatzen, und schon sind wir, wie Alice durch den Kaninchenbau, ins Wunderland gefallen.
Lepage erzählt fragmentiert, mit weiten Kurven und abrupten Sprüngen über seine Kindheit im Quebec der sechziger Jahre, genauer in der Murraystreet 887, so der Titel des Abends. 
Der sich erinnernde Mann. So könnte der Abend auch heißen.

Wir hören, dass er vor einigen Jahren eingeladen war bei einer Poesienacht ein Gedicht vorzutragen, auswendig, wie er beim Lernen scheiterte, wie er versuchte sich mit Hilfe einer mnemonischen Technik, dem Gedächtnispalast, zu helfen. Der Moment war sein Kaninchenloch, das Gedicht: Sprich Weiß!

Speak White (dt. „Sprich weiß“) ist eine rassistische Beleidigung, die anglophone Kanadier gegen jene benutzten, die in der Öffentlichkeit eine andere Sprache gebrauchten. Die Verunglimpfung inspirierte die Québecer Schriftstellerin Michèle Lalonde 1968 zu einem Gedicht in französischer Sprache. (Wiki)

Er dreht den Mittelteil der schwarzen Hinterwand, ein Kubus wird sichtbar und nun steht er vor einem etwas mehr als mannshohen Haus, eben jenem in der Murraystreet 87. Hinter den Fenstern beginnen sich Leute zu bewegen, ein Mann auf Krücken tritt langsam und ungelenk ans Fenster, er hat den Gebrauch seiner Beine und seine Verlobte bei einem Unfall verloren, eine betrunkene Frau stolpert die Treppe herauf, ihr Mann wartet ungeduldig tigernd in der rechten Wohnung im ersten Stock, im dritten links putzt eine Frau unmäßig intensiv das Fenster. Später wird sie nun nicht mehr als Miniaturvideo, sondern als sich durch Miniaturtechnologie bewegende Puppe, dasselbe Fenster von außen putzen.


Trailer zu 887


Er dreht den Kubus weiter, wir sehen die Seiten ansicht des Hauses, ein Taxi fährt von rechts auf die Bühne, hält, ein winziger roter Punkt glü auf. Sein Vater, ein Taxifahrer, sitzt in dem Auto und raucht eine Zigarette, er hat Dienstschluß, es ist sehr spät, auf dem Balkon der Wohnung Lepage, steht das Kind Robert und wartet auf das Heimkmmen des Vaters, über Funk kommt eine Meldung, das Taxi fährt nach links ab, der Erzähler schaut hinterher, sein Kind-Puppen-Ich legt er vorsichtig auf dem Balkon zum schlafen. 

© NY Times

Und eine weitere Drehung, der Kubus wird aufgeklappt, das Zimmer des Autors wird sichtbar, in dem er versucht das verflixte Gedicht auswendig zu lernen. 
Es wird noch einige Drehungen und Verwandlungen des "Gedächtnispalastes" geben, noch viele zauberische Details, magische Technologie, und alles im Dienst dieser verschlungenen Erinnerungsreise. Sehr persönlich, aber nicht privat, sehr mutig, sehr klug. 


Ich muß an Robert Wilson denken, einen anderen großen nordamerikanischen Theaterregisseur, der sich panzert durch immer perfektioniertere Technik, Lepage, scheint mir, eröffnet uns durch das Nutzen moderner Technologie im Dienst des alten geliebten Theaters die Welt.  Eine Freundin sagt:" Er humanisiert die Technik."

Und dann spricht, brüllt, wütet er gegen Ende, das nunmehr memorierte Gedicht in den Saal, einen Text über Klassenunterschiede, Ungerechtigkeit und Widerstand. Hui! Das würde sich in Deutschland, denke ich, momentan keiner trauen, vor lauter Angst veraltet und unmodern zu wirken. 
Jetzt hätte ich fast vergessen, dass beim Applaus sich auch die 8 Techniker verbeugen, die diesen manchmal scheinbar fast improvisiert erscheinenden, aber minutiös geprobten Abend, miterschaffen. 

https://de.wikipedia.org/wiki/Stille_Revolution

Exzerpt aus dem Gedicht "Speak White":

...
Ah!
Speak white
Big deal

But to tell you about
The eternity of a day on strike
To tell the story of
How a race of servants live
But for us to come home at night
At the time that the sun snuffs itself out over the backstreets
But to tell you yes that the sun is setting yes
Every day of our lives to the east of your empires
There's nothing to match a language of swearwords
Our none-too-clean parlure
Greasy and oil-stained.

Donnerstag, 13. April 2017

Vielleicht, vielleicht auch nicht

Vielleicht ist ein komisches Wort. Vieles leicht, vieles in der Möglichkeit oder nur eines von vielen. Was meint es?
Der Duden schreibt: spätmittelhochdeutsch villīhte, zusammengerückt aus mittelhochdeutsch vil līhte = sehr leicht, vermutlich, möglicherweise, eventuell.

Das ist ein krummer Weg von 'sehr leicht' nach 'nicht sicher'. Und 'vermutlich' ist sich schon um einiges sicherer als das nichts wissende 'vielleicht, oder? Könnte sein, muß aber nicht - meint das eine. Wahrscheinlich schon - das andere. 

VIELLEICHT

Peter 
Meine Lieben und Getreuen, ich wollte euch hiermit kund und zu wissen thun, kund und zu wissen thun – denn entweder verheirathet sich mein Sohn, oder nicht, entweder, oder – ihr versteht mich doch? Ein Drittes gibt es nicht. Der Mensch muß denken. Wenn ich so laut rede, so weiß ich nicht wer es eigentlich ist, ich oder ein Anderer, das ängstigt mich. Ich bin ich. Was halten Sie davon, Präsident?
Präsident 
Eure Majestät, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.
Der ganze Staatsrath im Chor 
Ja, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.
Peter
O meine Weisen! 
Leonce und Lena Georg Büchner

Du bist vielleicht gut! Du bist mir vielleicht einer! Du machst vielleicht Sachen! Du machst mir vielleicht Spaß!  


DAS VIELLEICHT-LIED

Vielleicht vergeht uns so der Rest der Jahre,
Vielleicht vergehn die Schatten, die uns störten,
Und die Gerüchte, die wir kürzlich hörten,
Die finster waren, waren nicht das Wahre?


Vielleicht, dass sie uns noch einmal vergessen,
So wie wir gern auch sie vergessen hätten?
Wir setzen uns vielleicht noch oft zum Essen.
Vielleicht sterben wir noch in unseren Betten?


Vielleicht, dass sie uns nicht verdammen, sondern loben?
Vielleicht gibt uns die Nacht sogar das Licht her,
Vielleicht bleibt dieser Mond einst voll und wechselt nicht mehr?
Vielleicht fällt Regen doch von unten nach oben?


Vielleicht fällt Regen doch von unten nach oben?

Bertolt Brecht 

Und noch eins:
Eventuell bekommst du Eis
Heißt, dass man es noch nicht weiß,
Eventuell ist überall,
Besser als auf keinen Fall.
  

Dienstag, 11. April 2017

Die andere Seite der Hoffnung - Aki Kaurismäki

Die andere Seite der Hoffnung, Aki Kaurismäki hat einen Film gedreht, einen Film über einen Syrer aus Aleppo, der sich eher zufällig, nach langer schwieriger Reise, in Finnland wiederfindet, dort Asyl beantragt, abgelehnt wird, wieder flieht und dann so Einiges erlebt. Das Ambiente stammt aus den häßlichn Siebzigern.
Was soll ich sagen? 
Ein großer Regisseur hat einen nicht guten Film gemacht, ja, gewisse Ähnlichkeiten mit einem öffentlich-rechtlichen gutgemeinten Fernsehfilm zur "Flüchtlingsproblematik" sind zu finden. Wenig filmisch-erzählende Bilder, viel Erklärtexte zwischen den langen bedeutungsvollen schweigenden Einstellungen, Gute sind gut, Schlechte sind schlecht. Die Typen sind eigenartiger, der Humor dunkler. Aber sonst? Ich bin viel lieber begeistert.

Merkwürdiges Interview mit dem Regisseur (zu einem anderen Film) 

Finnland. Ein Land über das ich nahezu nichts weiß und das mir sehr exotisch erscheint. Vor Jahren saß ich in Paris in einem Cafe und verfolgte fasziniert einen in äußerst aggressiv klingendem Finnisch geführten Ehekrach, bei dem die beiden beteiligten sehr blonden Finnen die ganze Zeit über, circa eine Stunde lang, ihre Nokia-Telefone nicht aus den Augen ließen. 
Was weiß ich über Finnland? Karusmäki, die Leningrad Cowboys, finnischer Tango, Apocalyptica, Männer-Schreichöre(supergeil!), finnische Schüler schneiden bei der Pisa-Studie exzellent ab, die Winter sind sehr dunkel, es wird heftigst getrunken, die Hauptstadt heißt Helsinki, der finnisch-russische Winterkrieg 1939, aber auch: über den zugefrorenen Ladogasee wurde Nahrung für das hungernde Leningrad transportiert, Nokia, die finnugrische Sprache völlig, gänzlich fremd klingend, Samen und Lappen wohnen dort und Rentiere, Brechts "Puntila" (ursprünglicher Titel: „Der Gutsherr Iso-Heikkilä und sein Knecht Kalle" Kritik der Uraufführung) wurde dort geschrieben und meine Mutter hat dort ein Jahr auf ihrer Flucht vor den Nazis überleben können, dank Hella Wuolijoki. Und sie konnte noch mit 80 auf Finnisch bis drei zählen. Iksi, kaksi, kolme.

Überraschende Fakten über Finnland




Zu dem finnischen Schreichor: Mieskuoro Huutajat (Männerchor Die Rufer) ist ein finnischer Männerchor, mit der Besonderheit, dass die Mitglieder nicht im klassischen Sinne singen, sondern überwiegend rufen, schreien, brüllen oder laut sprechen. 1987 in der nordfinnischen Industriestadt Oulu von etwa 20 Männern, die „offensichtlich nichts Besseres zu tun hatten“, gegründet, hat es der Chor mittlerweile zu internationaler Berühmtheit und Auftritten in aller Welt gebracht. Charakteristisch für die Huutajat sind Krawatten aus schwarzem Gummi zu schwarzen Anzügen und weißen Hemden. Geleitet wird der mittlerweile auf 30 Mitglieder gewachsene Chor von dem Dirigenten und Komponisten Petri Sirviö.

Kalinka - geschrien

Montag, 10. April 2017

der die mann

Die Lebenschancen eines so schmalen, so verstreuten, so provisorischen, so etüdenhaften Werkes sind gering. Die es kennen, werden es nicht so bald vergessen. Aber das hilft ihm (dem Autor) wenig.
E. Zimmer in Der ZEIT über Konrad Bayer

Werner Fritsch hilft ihm (Konrad Bayer) viel.

Meine Trauer über das Ende der Volksbühne, wie ich sie liebe, können wir als gegeben nehmen, darum heute hier nur über den Theaterabend. Nur. Haha. 

Sieben Schauspieler, vier Musiker, eine gelbe Riesentröte, eine rote Treppe, ein spiegelnder Bühnenboden, ein weiter weißer Gipshorizont, ein Bungee-Seil (grün), drei verbiegbare Mikrophone (rot, blau, gelb), ein nichtbiegbares (silber mit rotem Spuckschutz), eine riesige, elegante Drehbühne, gefühlte 100 unterschiedliche präzise Lichtstimmungen, Texte des österreichischen Nachkriegs-Dadaisten Konrad Bayer (nach dem zweiten, der beiden europäischen Großmetzeleien des zwanzigsten Jahrhunderts) und Handwerk, Timing, Denken, Musikalität, Furchtlosigkeit, Schwitzen, Kraft und Artistik. 
Der unbedingte Wille zu unterhalten auf höchstem Niveau, wobei überhalten, gäbe es das Wort, genauer beschreiben würde, was hier stattfindet.

Zwischendurch ein Meckerabsatz: Glätte passiert hier und da, zu genaues Wissen um Wirkung winkt aus der Zukunft, der Applaus war, für meinen Geschmack zu militant-zirzensisch organisiert. Der sehr verehrte Herr Fritsch könnte irgendwann einmal too cool for school werden. Too cool for school, a state in which a person thinks him or herself superior to everyone else in a given group or in general, sagt der Urban Ditionary. Hier am passendsten übersetzt, er könnte schlauer werden, als gut für ihn ist.

Aber, aber, aber, mannomann, können die gut, was sie tun. Sie können es, weil sie es geübt haben. Sprechen, singen, sich bewegen, nicht alle können alles gleich gut, aber jeder etwas sehr gut und jeder/jede bekommt den Raum, um sein/ihr Talent, ihren höchstpersönlichen Irrsinn, uns, zu unserem Vergnügen, anzubieten. 

Bedenkend, dass Komik, meines Erachtens, zu den verachteten Künsten des heutigen deutschen Theaters gezählt wird, könnte man Herbert Fritsch, wenn er nicht dennoch so erfolgreich wäre, zu den durch Harakiri gefährdeten Regisseuren unserer Zeit rechnen. Wäre er nicht so unverschämt, würde man ihn töten oder tiefmitleidig zur Selbsttötung überreden. Ich bin froh, dass Überdruß nicht sein Hauptthema ist. Und auch nicht der Mangel an Dramatik in unserer Zeit. Denn ich glaube, jede Zeit kann ihre Tragödien nur für sich selbst definieren. Postdramatik gibt es ausschließlich für angstgeschüttelte und gleichzeitig zutiefst gelangweilte Dramaturgen. Postdramatisch wird es erst dann werden, wenn wir alle verschwunden sind. Drama ist eine den Menschen eigene Sicht auf ihre Erlebnisse, die demnach erst mit den Menschen verschwinden wird. Das Hauptkennzeichen des Dramas nach Aristoteles ist die Darstellung der Handlung durch Dialoge, sagt Wiki. Und solange wir Menschen existieren reden wir miteinander, versuchen wir, uns zu verständigen, allen ungeheuren Widerständen zum Trotz. Mich macht dieses Gefasel über das Ende des Dramas, der Unmöglichkeit der Tragödie ganz kirre, was erlauben sich übersättigte Theaterwissenschaftler, wenn sie ihnen unbekannten Menschen, die Fähigkeit zum Leiden absprechen?

Wenn Annika Meier, nachdem sie noch am Gummiseil kopfüber hängend Poesie stotternd, wieder Boden unter den Füßen hat, macht sie noch die Entfesselung aus dem Seil zum Vorgang voll Witz und Würde. Florian Anderer, Jan Bluthardt, Werner Eng, Ruth Rosenfeld, Axel Wandtke, Hubert Wild - Hut ab, Augen auf, Danke sagen. Die Pilzkopfperücken saßen auch am Ende noch fest, aber die grauen Anzüge waren an einigen Körpern nur noch schweißdurchtränkte Lappen.
Dada. DADA. Konrad Bayer, geboren 1932 in Wien, sechs Jahre vor dem Anschluß, gestorben, durch Selbsttötung im Jahr 1964, im Alter von zweiunddreissig Jahren. Er konnte nicht mehr an die Möglichkeit der Verständigung glauben. Er befand sich im Zustand der Post-Dramatik.


http://www.deutschlandfunk.de/zum-50-todestag-von-konrad-bayer-die-qual-der-sinnlosigkeit.871.de.html?dram:article_id=299891

http://www.zeit.de/1964/43/erinnerung-an-konrad-bayer

https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=13845:grimmige-maerchen-herbert-fritsch-blaettert-am-schauspielhaus-zuerich-durch-vergessene-seiten-von-grimms-maerchen&catid=38&Itemid=40

Samstag, 8. April 2017

Charles III. an der bremer shakespeare company

Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen - abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.
Churchill, Rede vor dem Unterhaus am 11. November 1947, Sitzungsprotokoll

Was geschieht, wenn unsere demokratiefreie Vergangenheit, die gar nicht weit zurückliegt und noch heute Realtität in vielen Teilen unserer Welt ist, auf unsere verunsicherte mitteleuropäische Gegenwart trifft - es kommt es zu erschreckenden Verwerfungen. 
Demokratie ist anstrengend, verlangt Informiertheit, Interesse und ein Mindestmaß von Intelligenz und, UND ich muß aushalten, dass meine Überzeugungen mit vielen anderen koexistieren müssen.
Monarchie, Diktatur, da wo einer entscheidet und ich muß, will ihm vertrauen, kann dann wie eine Erleichterung erscheinen, Verantwortung wird mir abgenommen, ich kann mich jemandem anvertrauen, mich ihm faul und verantwortungslos überlassen. 
Das beschäftigt mich gerade sehr, weil ich an mir selbst unwillig, garstige, wütende , nur noch reagierende Züge bemerke. Es grämt mich.
Teile meiner Mitbevölkerung, irgendwann einmal aus der Türkei stammend, ich stamme ja auch irgendwann aus Vorderasien, laufen herum und bejubeln einen Diktator in spe, der die Türkei, in der sie selbst nie gelebt haben,  in eine Autokratie umwandeln möchte. Er weiß, was gut ist für sein Land und seine Bürger. Und sie jubeln. Warum? Warum? Sie wollen nicht zurück in das Land ihrer Eltern, Großeltern, nach Anatolien, aber aus der Ferne wünschen sie sich dort ein nur äußerlich modernisiertes Mittelalter und verachten gleichzeitig die ungelenke, fehlerhafte Neuzeit in der sie doch leben. Ja, wir haben es nicht geschafft, die Bedingungen für eine gute Integration zu schaffen, Aber, ja, auch sie haben sie nicht gewollt. Ich lerne die Sprache meines neuen Landes nicht, ich mißtraue ihren Gebräuchen, ich nehme, was mir geboten wird und nehme übel, was mir verwehrt wird. Auf der anderen Seite, der der sogenannten Schon-Immer-Deutschen ist es allerdings auch nicht besser.

Es gibt ein englisches Sprichwort, das besagt, das man seinen Kuchen nicht gleichzeitig behalten und essen kann. Das trifft es. Beide Seiten müssen Kompromisse eingehen. 

CHARLES III.

Queen Elisabeth stirbt, ihr Sohn Charles folgt ihr auf dem Thron.
Dies die Ausgangssituation des Stückes von Mike Bartlett, das 2014 in London Premiere hatte. Die Figuren sind mit wenigen Ausnahmen und auf eigenartige Weise bekannte Bewohner der Regenbogenpresse, die Worte aber in Blankversen. Die Rainer Iversen großartig, mit Melodie und Witz und wachem Ohr für modernen Slang, ins Deutsche hinübergetragen hat.

Die Realität: 1948 wurde Charles geboren, seit 1952 ist seine Mutter Königin von England,
Elisabeth die Zweite, von Gottes Gnaden Königin des Vereinigten Königreiches Großbritannien und Nordirland und ihrer anderen Königreiche und Territorien, als da wären:
Antigua und Barbuda, Australien, die Bahamas, Barbados, Belize, Grenada, Jamaika, Kanada, Neuseeland, Papua-Neuguinea, St. Kitts und Nevis, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, die Salomonen und Tuvalu; Oberhaupt des Commonwealth, Verteidigerin des Glaubens. 
Charles ist also seit 65 Jahren Kronprinz, länger als ich lebe, und ich bin schon ziemlich alt. 

 
Das Stück: Warten, warten, warten. Die Königin ist tot, es lebe der König. Jetzt.

His Royal Highness The Prince Charles Philip Arthur George, Prince of Wales, Duke of Cornwall, Duke of Rothesay, Earl of Carrick, Earl of Chester, Baron of Renfrew, Lord of the Isles, Prince and Great Steward of Scotland, Royal Knight Companion of the Most Noble Order of the Garter, Extra Knight of the Most Ancient and Most Noble Order of the Thistle, Grand Master and Principal Knight Grand Cross of the Most Honourable Order of the Bath, Member of the Order of Merit, Knight of the Order of Australia, Companion of the Queen's Service Order, Member of Her Majesty's Most Honourable Privy Council, Aide-de-Camp to Her Majesty, noch nicht gekrönt, aber schon mit königlichen Aufgaben betraut, hat ein Problem. Ein Gesetz zum Schutz der Privatsphäre vor dem Zugriff der Presse ist vom Parlament verabschiedet worden und muß nun, ein rein formaler Akt, vom König unterzeichnet werden. Aber Charles kann nicht unterschreiben. Die Freiheit der Presse ist ihm ein so hohes Gut, dass er trotz schrecklicher eigener Erfahrungen, Diana, oder besser drei gespenstische Dianas erscheinen im Hintergrund, sich einfach nicht dazu bringen kann. Eine Lappalie, die sich zur Staatskrise auswächst, und zur privaten Sinnkrise des so sehr spät in das Amt gelangten Prinzen, auf das er sein ganzes Leben hin ausgebildet, ausgerichtet worden ist. Nicht mehr Erwartung, sondern Entscheidung.

Shakespearsche Konstellationen treffen auf demokratische Bürokratie und die Macht der Medien. Ein Zusammenstoß.



Das Bühnenbild ist gbestens geeignet für eine präzise, sezierende Versuchsanordnung, die Spieler, ungübt in Boulevardtheatercharme, aber zuhause bei Shakespeare, verweigern leichfertige Imitationen, spielen Theater. Das Publikum, gekommen, um die Bildzeitung oder Gala auf der Bühne zu sehen, bemerkt, erstaunt und erfreut, dass hier mehr verhandelt wird.
Ein paar Striche hätten gut getan, aber ich bin ungeduldig.
Der Applaus war heftig. Das Haus voll. So wie es sein soll.

Auch sehr zu empfehlen: THE QUEEN ein Film (2006) von Stephen Frears mit Helen Mirren in der Titelrolle.