Eine beliebige Flugreise mit einer beliebigen Fluggesellschaft im Jahr 2017, dem Jahr 16 nach 9/11 und dem zigsten Jahr im scheinbar ewigen Wettkampf der Fluggesellschaften um hohe Gewinnspannen.
Das Abenteuer beginnt, außer in Tegel, bei weiten Reisen, heutzutage zwei Stunden vor Abflug, mit Warten. In Israel waren es drei.
Entweder hat man, wie ich, online eingecheckt und wandert halbwegs flüssig durch die Gepäckaufgabe, oder lungert ergeben in der langen, langsamen Schlange vor einem der zu wenigen Eincheckschalter.
Passkontrolle, hier verliere ich einen Mitreisenden, der die notwendigen, neuerfundenen Papiere nicht vorweisen kann und betäubt zurückbleiben muß. ETA, SETA - Länder, gerade noch visafrei besuchbar, tricksen ein Halbvisum herbei, online auszufüllen, ein paar Euro bezahlt und das Versprechen gegeben, dass man kein Terrorist sei. Wenn man allerdings die Info verpaßt hat - aus der Traum.
Sicherheitskontrolle, mein Cremedöschen wird als mögliches Sprengstoffbehälterchen konfisziert, meine schwitzige Fußsohlen mißtrauisch untersucht, das iPad aufgeklappt und angestarrt. Verkrampfte Körper werden zentimeterweise abgefühlt oder in Röntgen-Fix Kabinen durchleuchtet, die Füße gespreizt aufgestellt auf den auf dem Boden gemalten Sohlen, die Hände in Ergebungsgeste erhoben. Anmerkung: Schuhe sollten leicht an- und ausziehbar sein, die Dame vor mir, hat eine halbe Stunde die Senkel ihrer oberschenkelhohen Schnürstiefel bearbeitet.
Tegel rund, praktisch und ältlich, kurze Wege und wenig Glamour, Frankfurt geeignet für Marathontrainingseinheiten, München mit schickem Shuttleservice, Genf mit Raucherlaubnis unter Dunstabzugshauben, Charles-De-Gaulle ohne Wegweiser, Heathrow mit psychedelischen Teppichmustern, aber letztendlich gleichen alle großen Flughäfen mehr und mehr anonymen Einkaufszentren mit angeschlossenem Flugbetrieb. Das Essen ist schlecht und überteuert, Sushi, nur entfernt mit der japanischen Speise verwandt, immer noch die sicherste Wahl, reichlich Wasabi deckt auch den ödesten Fisch mit Schärfe zu.
Ich beobachte, wie in umgekehrter Proportionalität zum immer geringeren
erlaubten Gewicht des abzugebenden Gepäcks, die ins Flugzeug
mitgenommenen Taschen an Masse zunehmen. Dass heißt, dass
ich in den engen Gängen des Luftgefährts erst anderen mein Zeugs um die
Ohren schlage, und dann sitzend, selbst mehreren fetten Taschen nur um
Haaresbreite ausweichen kann. Wir drängeln uns also, zugehängt mit Handgepäck; Rollkoffer, Computertasche, Nackenkissen etc. auf die Sitze, Fenster bevorzugt, Mitte gehaßt, Gang geht noch, mit dem Nachteil, dass man den Arm oder den Arsch der überlasteten Flugbegleiter gelegentlich mitten im Gesicht hat.
Flugbegleiter, Steward oder -ess, einstmals ein Beruf mit der schicken Aura der Weltläufigkeit, ist heute, zumindest auf Kurzstreckenflügen, wohl eher die Pflicht in häßlicher Uniform Wagen mit vielerlei Getränken im Sausetempo durch schmalste Gänge zu schubsen. Je schmaler der Gang, desto mehr Sitze passen rein, na klar. Aus wissenschaftlich nachweisbaren, mir nicht erinnerlichen Gründen, ist Tomatensaft und sein alkoholischer Verwandter, die Bloody Mary, in Flugzeugen besonders beliebt.
Economy - Premium Economy - Business Class - First Class.
Glasklare Klassenunterschiede auf engstem Raum, ohne die übliche verschwiemelnde Tünche, extra Einstieg, besseres Essen, freundlicherer Service in Sichtweite, denn für Start und Landung müssen die verhüllenden Vorhänge weggezogen werden. Entweder sitzt du, die Ohren im direkten Kontakt mit deinen Knien und die Ellbogen im Dauerstreit um die schmale Armlehne mit Deinem Nachbarn. Oder du entspannst in Eigenentscheidung über den Grad deines Lümmelns.
Detail: Ich muß pullern, als gerade Essen verteilt wird, der Wagen versperrt den Gang links und rechts, die Toiletten in die andere Richtung sind den Gästen der ersten Klasse vorbehalten, Gott sei Dank habe ich eine geduldige Blase.
Mein letzter Flug, gestern, acht Stunden in Economy plus, was nicht zu unterschätzende 20 Zentimeter mehr Beinfreiheit bedeutet und metallenes Besteck, anstatt Plastemessern. Auf einem Bildschirm 20x30 schaue ich Star Trek XVII. und diverse andere uninteressante Filme. Essen habe ich mitgebracht. Es geht nach Hause, ich bin voller Vorfreude. Nur einhundertfünfzig Jahre früher hätte ich sechs Tage benötigt, um von Amerika nach Hause zu fahren, per Schiff.
So sagt es Wiki: Die Dauer der Überfahrt von Europa nach Amerika hat sich im Laufe eines Jahrhunderts folgendermaßen verringert: Im Jahre 1801 stellte der einer Hamburger Reederei gehörige Dreimaster „Hoffnung“ mit der Reisedauer von 30 Tagen einen Rekord auf. Bis dahin hatten Segelschiffe im Durchschnitt 33 Tage zum Kreuzen des Ozeans gebraucht. Bereits 18 Jahre später, 1819, brauchte als erster Ozeandampfer die „Savannah“ zur Überfahrt nur noch 25 Tage, obgleich das Fahrzeug äußerst plump konstruiert war und wegen Raummangels nicht genügend Kohlen für die ganze Reise mitnehmen konnte. 1830 wurde dann von dem Engländer Cunard, nach dem die berühmte Reederei noch heute ihren Namen führt, die erste regelmäßige Dampferverbindung zwischen den beiden Kontinenten eingerichtet. Die Cunardschiffe, ebenfalls Raddampfer, legten die Strecke bereits in 18 Tagen zurück. 1848 wurde der bisherige Rekord dann durch die „Britannia“ gedrückt, die nur 14 Tage bis New York gebrauchte. Bereits 8 Jahre später, 1856, brachte es die mit Maschinen von 3600 Pferdestärken ausgestattete „Persia“ auf 9 Tage. Mit der Einführung der Schiffschraube für die Ozeandampfer und des Stahles als Baumaterial gelang dann eine weitere Verkürzung der Reisedauer. 1860 sehen wir den ersten Schraubendampfer, den „Excelsior“, den Ozean in 8 Tagen kreuzen. 1862 brauchte der Hamburger Dampfer „Prussia“ nur noch 7 Tage. 1887 erreichte die in Deutschland erbaute „Lahn“ ihr Ziel in 6 Tagen.
Das Fliegen in den Sechzigern:
https://www.youtube.com/watch?v=QaXZ8Nisyjo
https://www.youtube.com/watch?v=2sgVW484UW0
https://www.youtube.com/watch?v=sHELzkz6Z_8
Die Fliege im Flugzeug
Ich war der einzige Passagier
Und hatte - nur zum Spasse -
Eine lebende Fliege bei mir
In einem Einmachglase.
Ich öffnete das Einmachglas.
Die Fliege schwirrte aus und sass
Plötzlich auf meiner Nase
Und rieb sich die Vorderpfoten.
Das verletzte mich.
Ich pustete. Sie setzte sich
Auf das Schildchen "Rauchen verboten".
Ich sah: der Höhenzeiger wies
Auf tausend Meter. Ha! Ich stiess
Das Fenster auf und dachte
An Noahs Archentaube.
Die Fliege aber - ich glaube,
Sie lachte.
Und hängte sich an das Verdeck
Und klebte sehr viel Fliegendreck
Um sich herum, im Kreise,
Unmenschlicherweise.
Und als es dann zur Landung ging,
Unser Propeller verstummte,
Da plusterte das Fliegending
Sich fröhlich auf und summte.
Gott gewiss, was in mir vorging,
Als solches mir durchs Ohr ging.
Ich weiss nur noch, ich brummte
Was vor mich hin. So ungefähr:
Ach, dass ich eine Fliege wär.
Joachim Ringelnatz
Donnerstag, 27. April 2017
Dienstag, 25. April 2017
Hieronymos Bosch getanzt - Verwirrende Träume
DER GARTEN DER IRDISCHEN LÜSTE
Das Dreitafelbild "Der Garten der Lüste" ist ein Triptychon des niederländischen Malers Hieronymus Bosch. Die Forschung geht davon aus, dass das Werk um 1500 gemalt wurde, so schreibt Wiki.
220 × 390 cm, riesengroß, Ölfarben auf Eiche - die Augen gehen mir über.
Der Maler, der Mann "mit dem heiligen Namen", was die Übersetzung seines Vornamens wäre, hat nahezu sein gesamtes Leben in einer mittelgroßen Stadt in Brabant, damals ein Teil der Niederlande, zugebracht, in 's-Hertogenbosch, er war fest eingebunden in die städtischen und religiösen Bindungen seiner Zeit und blieb unauffällig in den uns bekannten historischen Annalen. Welche furchterregenden, erotischen Phantasmen bevölkerten seinen Kopf? Waren es ausschließlich die biblisch gespeisten Bilder der ihm zugeordneten Zeit oder besaß er wahrhaft das dritte Auge, das unsere Urängste sehen kann, das was nach Mitternacht in unseren Träumen tanzt? Haben ihm "die Parzen bei der Geburt die Augenlider weggeschnitten", wie es Heiner Müller über Georg Büchner formulierte?
Die Redewendung "die Augen gehen einem über" hat zwei Bedeutungen; zum einen in der Umgangssprache: »Jemand ist durch einen Anblick überwältigt«, und zum andern in gehobener Sprache: »Jemand beginnt zu weinen«. Die zweite Verwendung findet sich bereits im Johannesevangelium (11, 35), wo es von Jesus beim Anblick des toten Lazarus heißt: »Und Jesu gingen die Augen über.« Goethe benutzt den Ausdruck in der in Faust I eingegangenen Ballade »Der König von Thule« (1774): »Die Augen gingen ihm über,/Sooft er trank daraus«
http://universal_lexikon.deacademic.com
Im Englischen wird das Bild "The garden of earthly delights" genannt, "Der Garten der irdischen Vergnügungen". Höllisches Grausen rechts, neutestamentarische Verharmlosung links, aber was ist das bitte in der Mitte? "A place filled with the intoxicating air of perfect liberty", "ein Ort erfüllt von der berauschenden Luft der perfekten Freiheit", wie es der amerikanische Autor P. S. Beagle nannte?
Was ist mit uns passiert in dem Raum zwischen Unschuld und dem Wissen um Gut und Böse? Ein gutsituierter Provinzler malt unsere Albträume? Es gibt in der Malerei ein Davor und ein Danach, aber nichts dergleichen. Was wußte er, das wir nicht wissen wollen?
Bei Marie Chouinard entsteht daraus ein Kampf zwschen den hypnotischen Bildern Boschs und den darauf reagierenden Tänzern ihrer Compagnie. Zwei seitlich positionerte Videoschirme zeigen Details der Bilder und ich erwische mich mehrmals dabei, dass ich auf diese starre und den im selben Moment stattfindenden Tanz verpasse.
Zehn Tänzerinnen und Tänzer tollen zunächst in fast naiver Unschuld mit- und umeinander, werfen sich dann in den wüsten Tumult des Fegefeuers, um schließlich in Stille und Frieden des Paradiesgartens die biblischen Bildwelten zu hinterfragen.
Zehn Tänzerinnen und Tänzer tollen zunächst in fast naiver Unschuld mit- und umeinander, werfen sich dann in den wüsten Tumult des Fegefeuers, um schließlich in Stille und Frieden des Paradiesgartens die biblischen Bildwelten zu hinterfragen.
tanzschrift.at Wien August 2016
Sonntag, 16. April 2017
Das Wundertheater des Robert Lepage
Ein nicht mehr ganz junger Mann betritt die schwarze Bühne, bittet uns darum unsere Telephone auszuschalten, zeigt sein eigenes, dass er gern & viel benutzt, gerät ins Schwatzen, und schon sind wir, wie Alice durch den Kaninchenbau, ins Wunderland gefallen.
Lepage erzählt fragmentiert, mit weiten Kurven und abrupten Sprüngen über seine Kindheit im Quebec der sechziger Jahre, genauer in der Murraystreet 887, so der Titel des Abends.
Der sich erinnernde Mann. So könnte der Abend auch heißen.
Wir hören, dass er vor einigen Jahren eingeladen war bei einer Poesienacht ein Gedicht vorzutragen, auswendig, wie er beim Lernen scheiterte, wie er versuchte sich mit Hilfe einer mnemonischen Technik, dem Gedächtnispalast, zu helfen. Der Moment war sein Kaninchenloch, das Gedicht: Sprich Weiß!
Speak White (dt. „Sprich weiß“) ist eine rassistische Beleidigung, die anglophone Kanadier gegen jene benutzten, die in der Öffentlichkeit eine andere Sprache gebrauchten. Die Verunglimpfung inspirierte die Québecer Schriftstellerin Michèle Lalonde 1968 zu einem Gedicht in französischer Sprache. (Wiki)
Er dreht den Mittelteil der schwarzen Hinterwand, ein Kubus wird sichtbar und nun steht er vor einem etwas mehr als mannshohen Haus, eben jenem in der Murraystreet 87. Hinter den Fenstern beginnen sich Leute zu bewegen, ein Mann auf Krücken tritt langsam und ungelenk ans Fenster, er hat den Gebrauch seiner Beine und seine Verlobte bei einem Unfall verloren, eine betrunkene Frau stolpert die Treppe herauf, ihr Mann wartet ungeduldig tigernd in der rechten Wohnung im ersten Stock, im dritten links putzt eine Frau unmäßig intensiv das Fenster. Später wird sie nun nicht mehr als Miniaturvideo, sondern als sich durch Miniaturtechnologie bewegende Puppe, dasselbe Fenster von außen putzen.
Trailer zu 887
Er dreht den Kubus weiter, wir sehen die Seiten ansicht des Hauses, ein Taxi fährt von rechts auf die Bühne, hält, ein winziger roter Punkt glü auf. Sein Vater, ein Taxifahrer, sitzt in dem Auto und raucht eine Zigarette, er hat Dienstschluß, es ist sehr spät, auf dem Balkon der Wohnung Lepage, steht das Kind Robert und wartet auf das Heimkmmen des Vaters, über Funk kommt eine Meldung, das Taxi fährt nach links ab, der Erzähler schaut hinterher, sein Kind-Puppen-Ich legt er vorsichtig auf dem Balkon zum schlafen.
Und eine weitere Drehung, der Kubus wird aufgeklappt, das Zimmer des Autors wird sichtbar, in dem er versucht das verflixte Gedicht auswendig zu lernen.
Es wird noch einige Drehungen und Verwandlungen des "Gedächtnispalastes" geben, noch viele zauberische Details, magische Technologie, und alles im Dienst dieser verschlungenen Erinnerungsreise. Sehr persönlich, aber nicht privat, sehr mutig, sehr klug.
Ich muß an Robert Wilson denken, einen anderen großen nordamerikanischen Theaterregisseur, der sich panzert durch immer perfektioniertere Technik, Lepage, scheint mir, eröffnet uns durch das Nutzen moderner Technologie im Dienst des alten geliebten Theaters die Welt. Eine Freundin sagt:" Er humanisiert die Technik."
Und dann spricht, brüllt, wütet er gegen Ende, das nunmehr memorierte Gedicht in den Saal, einen Text über Klassenunterschiede, Ungerechtigkeit und Widerstand. Hui! Das würde sich in Deutschland, denke ich, momentan keiner trauen, vor lauter Angst veraltet und unmodern zu wirken.
Jetzt hätte ich fast vergessen, dass beim Applaus sich auch die 8 Techniker verbeugen, die diesen manchmal scheinbar fast improvisiert erscheinenden, aber minutiös geprobten Abend, miterschaffen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Stille_Revolution
Exzerpt aus dem Gedicht "Speak White":
...
Ah!
Speak white
Big deal
But to tell you about
The eternity of a day on strike
To tell the story of
How a race of servants live
But for us to come home at night
At the time that the sun snuffs itself out over the backstreets
But to tell you yes that the sun is setting yes
Every day of our lives to the east of your empires
There's nothing to match a language of swearwords
Our none-too-clean parlure
Greasy and oil-stained.
Lepage erzählt fragmentiert, mit weiten Kurven und abrupten Sprüngen über seine Kindheit im Quebec der sechziger Jahre, genauer in der Murraystreet 887, so der Titel des Abends.
Der sich erinnernde Mann. So könnte der Abend auch heißen.
Wir hören, dass er vor einigen Jahren eingeladen war bei einer Poesienacht ein Gedicht vorzutragen, auswendig, wie er beim Lernen scheiterte, wie er versuchte sich mit Hilfe einer mnemonischen Technik, dem Gedächtnispalast, zu helfen. Der Moment war sein Kaninchenloch, das Gedicht: Sprich Weiß!
Speak White (dt. „Sprich weiß“) ist eine rassistische Beleidigung, die anglophone Kanadier gegen jene benutzten, die in der Öffentlichkeit eine andere Sprache gebrauchten. Die Verunglimpfung inspirierte die Québecer Schriftstellerin Michèle Lalonde 1968 zu einem Gedicht in französischer Sprache. (Wiki)
Er dreht den Mittelteil der schwarzen Hinterwand, ein Kubus wird sichtbar und nun steht er vor einem etwas mehr als mannshohen Haus, eben jenem in der Murraystreet 87. Hinter den Fenstern beginnen sich Leute zu bewegen, ein Mann auf Krücken tritt langsam und ungelenk ans Fenster, er hat den Gebrauch seiner Beine und seine Verlobte bei einem Unfall verloren, eine betrunkene Frau stolpert die Treppe herauf, ihr Mann wartet ungeduldig tigernd in der rechten Wohnung im ersten Stock, im dritten links putzt eine Frau unmäßig intensiv das Fenster. Später wird sie nun nicht mehr als Miniaturvideo, sondern als sich durch Miniaturtechnologie bewegende Puppe, dasselbe Fenster von außen putzen.
Trailer zu 887
Er dreht den Kubus weiter, wir sehen die Seiten ansicht des Hauses, ein Taxi fährt von rechts auf die Bühne, hält, ein winziger roter Punkt glü auf. Sein Vater, ein Taxifahrer, sitzt in dem Auto und raucht eine Zigarette, er hat Dienstschluß, es ist sehr spät, auf dem Balkon der Wohnung Lepage, steht das Kind Robert und wartet auf das Heimkmmen des Vaters, über Funk kommt eine Meldung, das Taxi fährt nach links ab, der Erzähler schaut hinterher, sein Kind-Puppen-Ich legt er vorsichtig auf dem Balkon zum schlafen.
© NY Times
Und eine weitere Drehung, der Kubus wird aufgeklappt, das Zimmer des Autors wird sichtbar, in dem er versucht das verflixte Gedicht auswendig zu lernen.
Es wird noch einige Drehungen und Verwandlungen des "Gedächtnispalastes" geben, noch viele zauberische Details, magische Technologie, und alles im Dienst dieser verschlungenen Erinnerungsreise. Sehr persönlich, aber nicht privat, sehr mutig, sehr klug.
Ich muß an Robert Wilson denken, einen anderen großen nordamerikanischen Theaterregisseur, der sich panzert durch immer perfektioniertere Technik, Lepage, scheint mir, eröffnet uns durch das Nutzen moderner Technologie im Dienst des alten geliebten Theaters die Welt. Eine Freundin sagt:" Er humanisiert die Technik."
Und dann spricht, brüllt, wütet er gegen Ende, das nunmehr memorierte Gedicht in den Saal, einen Text über Klassenunterschiede, Ungerechtigkeit und Widerstand. Hui! Das würde sich in Deutschland, denke ich, momentan keiner trauen, vor lauter Angst veraltet und unmodern zu wirken.
Jetzt hätte ich fast vergessen, dass beim Applaus sich auch die 8 Techniker verbeugen, die diesen manchmal scheinbar fast improvisiert erscheinenden, aber minutiös geprobten Abend, miterschaffen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Stille_Revolution
Exzerpt aus dem Gedicht "Speak White":
...
Ah!
Speak white
Big deal
But to tell you about
The eternity of a day on strike
To tell the story of
How a race of servants live
But for us to come home at night
At the time that the sun snuffs itself out over the backstreets
But to tell you yes that the sun is setting yes
Every day of our lives to the east of your empires
There's nothing to match a language of swearwords
Our none-too-clean parlure
Greasy and oil-stained.
Donnerstag, 13. April 2017
Vielleicht, vielleicht auch nicht
Vielleicht ist ein komisches Wort. Vieles leicht, vieles in der Möglichkeit oder nur eines von vielen. Was meint es?
Der Duden schreibt: spätmittelhochdeutsch villīhte, zusammengerückt aus mittelhochdeutsch vil līhte = sehr leicht, vermutlich, möglicherweise, eventuell.
Das ist ein krummer Weg von 'sehr leicht' nach 'nicht sicher'. Und 'vermutlich' ist sich schon um einiges sicherer als das nichts wissende 'vielleicht, oder? Könnte sein, muß aber nicht - meint das eine. Wahrscheinlich schon - das andere.
Peter
Meine Lieben und Getreuen, ich wollte euch hiermit kund und zu wissen thun, kund und zu wissen thun – denn entweder verheirathet sich mein Sohn, oder nicht, entweder, oder – ihr versteht mich doch? Ein Drittes gibt es nicht. Der Mensch muß denken. Wenn ich so laut rede, so weiß ich nicht wer es eigentlich ist, ich oder ein Anderer, das ängstigt mich. Ich bin ich. Was halten Sie davon, Präsident?
Präsident
Eure Majestät, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.
Der ganze Staatsrath im Chor
Ja, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.
Peter
O meine Weisen!
Leonce und Lena Georg Büchner
Du bist vielleicht gut! Du bist mir vielleicht einer! Du machst vielleicht Sachen! Du machst mir vielleicht Spaß!
DAS VIELLEICHT-LIED
Vielleicht vergeht uns so der Rest der Jahre,
Vielleicht vergehn die Schatten, die uns störten,
Und die Gerüchte, die wir kürzlich hörten,
Die finster waren, waren nicht das Wahre?
Der Duden schreibt: spätmittelhochdeutsch villīhte, zusammengerückt aus mittelhochdeutsch vil līhte = sehr leicht, vermutlich, möglicherweise, eventuell.
Das ist ein krummer Weg von 'sehr leicht' nach 'nicht sicher'. Und 'vermutlich' ist sich schon um einiges sicherer als das nichts wissende 'vielleicht, oder? Könnte sein, muß aber nicht - meint das eine. Wahrscheinlich schon - das andere.
Peter
Meine Lieben und Getreuen, ich wollte euch hiermit kund und zu wissen thun, kund und zu wissen thun – denn entweder verheirathet sich mein Sohn, oder nicht, entweder, oder – ihr versteht mich doch? Ein Drittes gibt es nicht. Der Mensch muß denken. Wenn ich so laut rede, so weiß ich nicht wer es eigentlich ist, ich oder ein Anderer, das ängstigt mich. Ich bin ich. Was halten Sie davon, Präsident?
Präsident
Eure Majestät, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.
Der ganze Staatsrath im Chor
Ja, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.
Peter
O meine Weisen!
Leonce und Lena Georg Büchner
Du bist vielleicht gut! Du bist mir vielleicht einer! Du machst vielleicht Sachen! Du machst mir vielleicht Spaß!
DAS VIELLEICHT-LIED
Vielleicht vergeht uns so der Rest der Jahre,
Vielleicht vergehn die Schatten, die uns störten,
Und die Gerüchte, die wir kürzlich hörten,
Die finster waren, waren nicht das Wahre?
Vielleicht, dass sie uns noch einmal vergessen,
So wie wir gern auch sie vergessen hätten?
Wir setzen uns vielleicht noch oft zum Essen.
Vielleicht sterben wir noch in unseren Betten?
Vielleicht, dass sie uns nicht verdammen, sondern loben?
Vielleicht gibt uns die Nacht sogar das Licht her,
Vielleicht bleibt dieser Mond einst voll und wechselt nicht mehr?
Vielleicht fällt Regen doch von unten nach oben?
Vielleicht fällt Regen doch von unten nach oben?
Bertolt Brecht
Und noch eins:
Eventuell bekommst du Eis
Heißt, dass man es noch nicht weiß,
Eventuell ist überall,
Besser als auf keinen Fall.
So wie wir gern auch sie vergessen hätten?
Wir setzen uns vielleicht noch oft zum Essen.
Vielleicht sterben wir noch in unseren Betten?
Vielleicht, dass sie uns nicht verdammen, sondern loben?
Vielleicht gibt uns die Nacht sogar das Licht her,
Vielleicht bleibt dieser Mond einst voll und wechselt nicht mehr?
Vielleicht fällt Regen doch von unten nach oben?
Vielleicht fällt Regen doch von unten nach oben?
Bertolt Brecht
Und noch eins:
Eventuell bekommst du Eis
Heißt, dass man es noch nicht weiß,
Eventuell ist überall,
Besser als auf keinen Fall.
Dienstag, 11. April 2017
Die andere Seite der Hoffnung - Aki Kaurismäki
Die andere Seite der Hoffnung, Aki Kaurismäki hat einen Film gedreht, einen Film über einen Syrer aus Aleppo, der sich eher zufällig, nach langer schwieriger Reise, in Finnland wiederfindet, dort Asyl beantragt, abgelehnt wird, wieder flieht und dann so Einiges erlebt. Das Ambiente stammt aus den häßlichn Siebzigern.
Was soll ich sagen?
Ein großer Regisseur hat einen nicht guten Film gemacht, ja, gewisse Ähnlichkeiten mit einem öffentlich-rechtlichen gutgemeinten Fernsehfilm zur "Flüchtlingsproblematik" sind zu finden. Wenig filmisch-erzählende Bilder, viel Erklärtexte zwischen den langen bedeutungsvollen schweigenden Einstellungen, Gute sind gut, Schlechte sind schlecht. Die Typen sind eigenartiger, der Humor dunkler. Aber sonst? Ich bin viel lieber begeistert.
Merkwürdiges Interview mit dem Regisseur (zu einem anderen Film)
Finnland. Ein Land über das ich nahezu nichts weiß und das mir sehr exotisch erscheint. Vor Jahren saß ich in Paris in einem Cafe und verfolgte fasziniert einen in äußerst aggressiv klingendem Finnisch geführten Ehekrach, bei dem die beiden beteiligten sehr blonden Finnen die ganze Zeit über, circa eine Stunde lang, ihre Nokia-Telefone nicht aus den Augen ließen.
Was weiß ich über Finnland? Karusmäki, die Leningrad Cowboys, finnischer Tango, Apocalyptica, Männer-Schreichöre(supergeil!), finnische Schüler schneiden bei der Pisa-Studie exzellent ab, die Winter sind sehr dunkel, es wird heftigst getrunken, die Hauptstadt heißt Helsinki, der finnisch-russische Winterkrieg 1939, aber auch: über den zugefrorenen Ladogasee wurde Nahrung für das hungernde Leningrad transportiert, Nokia, die finnugrische Sprache völlig, gänzlich fremd klingend, Samen und Lappen wohnen dort und Rentiere, Brechts "Puntila" (ursprünglicher Titel: „Der Gutsherr Iso-Heikkilä und sein Knecht Kalle" Kritik der Uraufführung) wurde dort geschrieben und meine Mutter hat dort ein Jahr auf ihrer Flucht vor den Nazis überleben können, dank Hella Wuolijoki. Und sie konnte noch mit 80 auf Finnisch bis drei zählen. Iksi, kaksi, kolme.
Überraschende Fakten über Finnland
Zu dem finnischen Schreichor: Mieskuoro Huutajat (Männerchor Die Rufer) ist ein finnischer Männerchor, mit der Besonderheit, dass die Mitglieder nicht im klassischen Sinne singen, sondern überwiegend rufen, schreien, brüllen oder laut sprechen. 1987 in der nordfinnischen Industriestadt Oulu von etwa 20 Männern, die „offensichtlich nichts Besseres zu tun hatten“, gegründet, hat es der Chor mittlerweile zu internationaler Berühmtheit und Auftritten in aller Welt gebracht. Charakteristisch für die Huutajat sind Krawatten aus schwarzem Gummi zu schwarzen Anzügen und weißen Hemden. Geleitet wird der mittlerweile auf 30 Mitglieder gewachsene Chor von dem Dirigenten und Komponisten Petri Sirviö.
Kalinka - geschrien
Was soll ich sagen?
Ein großer Regisseur hat einen nicht guten Film gemacht, ja, gewisse Ähnlichkeiten mit einem öffentlich-rechtlichen gutgemeinten Fernsehfilm zur "Flüchtlingsproblematik" sind zu finden. Wenig filmisch-erzählende Bilder, viel Erklärtexte zwischen den langen bedeutungsvollen schweigenden Einstellungen, Gute sind gut, Schlechte sind schlecht. Die Typen sind eigenartiger, der Humor dunkler. Aber sonst? Ich bin viel lieber begeistert.
Merkwürdiges Interview mit dem Regisseur (zu einem anderen Film)
Finnland. Ein Land über das ich nahezu nichts weiß und das mir sehr exotisch erscheint. Vor Jahren saß ich in Paris in einem Cafe und verfolgte fasziniert einen in äußerst aggressiv klingendem Finnisch geführten Ehekrach, bei dem die beiden beteiligten sehr blonden Finnen die ganze Zeit über, circa eine Stunde lang, ihre Nokia-Telefone nicht aus den Augen ließen.
Was weiß ich über Finnland? Karusmäki, die Leningrad Cowboys, finnischer Tango, Apocalyptica, Männer-Schreichöre(supergeil!), finnische Schüler schneiden bei der Pisa-Studie exzellent ab, die Winter sind sehr dunkel, es wird heftigst getrunken, die Hauptstadt heißt Helsinki, der finnisch-russische Winterkrieg 1939, aber auch: über den zugefrorenen Ladogasee wurde Nahrung für das hungernde Leningrad transportiert, Nokia, die finnugrische Sprache völlig, gänzlich fremd klingend, Samen und Lappen wohnen dort und Rentiere, Brechts "Puntila" (ursprünglicher Titel: „Der Gutsherr Iso-Heikkilä und sein Knecht Kalle" Kritik der Uraufführung) wurde dort geschrieben und meine Mutter hat dort ein Jahr auf ihrer Flucht vor den Nazis überleben können, dank Hella Wuolijoki. Und sie konnte noch mit 80 auf Finnisch bis drei zählen. Iksi, kaksi, kolme.
Überraschende Fakten über Finnland
Zu dem finnischen Schreichor: Mieskuoro Huutajat (Männerchor Die Rufer) ist ein finnischer Männerchor, mit der Besonderheit, dass die Mitglieder nicht im klassischen Sinne singen, sondern überwiegend rufen, schreien, brüllen oder laut sprechen. 1987 in der nordfinnischen Industriestadt Oulu von etwa 20 Männern, die „offensichtlich nichts Besseres zu tun hatten“, gegründet, hat es der Chor mittlerweile zu internationaler Berühmtheit und Auftritten in aller Welt gebracht. Charakteristisch für die Huutajat sind Krawatten aus schwarzem Gummi zu schwarzen Anzügen und weißen Hemden. Geleitet wird der mittlerweile auf 30 Mitglieder gewachsene Chor von dem Dirigenten und Komponisten Petri Sirviö.
Kalinka - geschrien
Montag, 10. April 2017
der die mann
Die Lebenschancen eines so schmalen, so verstreuten, so provisorischen, so etüdenhaften Werkes sind gering. Die es kennen, werden es nicht so bald vergessen. Aber das hilft ihm (dem Autor) wenig.
E. Zimmer in Der ZEIT über Konrad Bayer
Werner Fritsch hilft ihm (Konrad Bayer) viel.
Meine Trauer über das Ende der Volksbühne, wie ich sie liebe, können wir als gegeben nehmen, darum heute hier nur über den Theaterabend. Nur. Haha.
Sieben Schauspieler, vier Musiker, eine gelbe Riesentröte, eine rote Treppe, ein spiegelnder Bühnenboden, ein weiter weißer Gipshorizont, ein Bungee-Seil (grün), drei verbiegbare Mikrophone (rot, blau, gelb), ein nichtbiegbares (silber mit rotem Spuckschutz), eine riesige, elegante Drehbühne, gefühlte 100 unterschiedliche präzise Lichtstimmungen, Texte des österreichischen Nachkriegs-Dadaisten Konrad Bayer (nach dem zweiten, der beiden europäischen Großmetzeleien des zwanzigsten Jahrhunderts) und Handwerk, Timing, Denken, Musikalität, Furchtlosigkeit, Schwitzen, Kraft und Artistik.
Der unbedingte Wille zu unterhalten auf höchstem Niveau, wobei überhalten, gäbe es das Wort, genauer beschreiben würde, was hier stattfindet.
Zwischendurch ein Meckerabsatz: Glätte passiert hier und da, zu genaues Wissen um Wirkung winkt aus der Zukunft, der Applaus war, für meinen Geschmack zu militant-zirzensisch organisiert. Der sehr verehrte Herr Fritsch könnte irgendwann einmal too cool for school werden. Too cool for school, a state in which a person thinks him or herself superior to everyone else in a given group or in general, sagt der Urban Ditionary. Hier am passendsten übersetzt, er könnte schlauer werden, als gut für ihn ist.
Aber, aber, aber, mannomann, können die gut, was sie tun. Sie können es, weil sie es geübt haben. Sprechen, singen, sich bewegen, nicht alle können alles gleich gut, aber jeder etwas sehr gut und jeder/jede bekommt den Raum, um sein/ihr Talent, ihren höchstpersönlichen Irrsinn, uns, zu unserem Vergnügen, anzubieten.
Bedenkend, dass Komik, meines Erachtens, zu den verachteten Künsten des heutigen deutschen Theaters gezählt wird, könnte man Herbert Fritsch, wenn er nicht dennoch so erfolgreich wäre, zu den durch Harakiri gefährdeten Regisseuren unserer Zeit rechnen. Wäre er nicht so unverschämt, würde man ihn töten oder tiefmitleidig zur Selbsttötung überreden. Ich bin froh, dass Überdruß nicht sein Hauptthema ist. Und auch nicht der Mangel an Dramatik in unserer Zeit. Denn ich glaube, jede Zeit kann ihre Tragödien nur für sich selbst definieren. Postdramatik gibt es ausschließlich für angstgeschüttelte und gleichzeitig zutiefst gelangweilte Dramaturgen. Postdramatisch wird es erst dann werden, wenn wir alle verschwunden sind. Drama ist eine den Menschen eigene Sicht auf ihre Erlebnisse, die demnach erst mit den Menschen verschwinden wird. Das Hauptkennzeichen des Dramas nach Aristoteles ist die Darstellung der Handlung durch Dialoge, sagt Wiki. Und solange wir Menschen existieren reden wir miteinander, versuchen wir, uns zu verständigen, allen ungeheuren Widerständen zum Trotz. Mich macht dieses Gefasel über das Ende des Dramas, der Unmöglichkeit der Tragödie ganz kirre, was erlauben sich übersättigte Theaterwissenschaftler, wenn sie ihnen unbekannten Menschen, die Fähigkeit zum Leiden absprechen?
Wenn Annika Meier, nachdem sie noch am Gummiseil kopfüber hängend Poesie stotternd, wieder Boden unter den Füßen hat, macht sie noch die Entfesselung aus dem Seil zum Vorgang voll Witz und Würde. Florian Anderer, Jan Bluthardt, Werner Eng, Ruth Rosenfeld, Axel Wandtke, Hubert Wild - Hut ab, Augen auf, Danke sagen. Die Pilzkopfperücken saßen auch am Ende noch fest, aber die grauen Anzüge waren an einigen Körpern nur noch schweißdurchtränkte Lappen.
Dada. DADA. Konrad Bayer, geboren 1932 in Wien, sechs Jahre vor dem Anschluß, gestorben, durch Selbsttötung im Jahr 1964, im Alter von zweiunddreissig Jahren. Er konnte nicht mehr an die Möglichkeit der Verständigung glauben. Er befand sich im Zustand der Post-Dramatik.
http://www.deutschlandfunk.de/zum-50-todestag-von-konrad-bayer-die-qual-der-sinnlosigkeit.871.de.html?dram:article_id=299891
http://www.zeit.de/1964/43/erinnerung-an-konrad-bayer
https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=13845:grimmige-maerchen-herbert-fritsch-blaettert-am-schauspielhaus-zuerich-durch-vergessene-seiten-von-grimms-maerchen&catid=38&Itemid=40
E. Zimmer in Der ZEIT über Konrad Bayer
Werner Fritsch hilft ihm (Konrad Bayer) viel.
Meine Trauer über das Ende der Volksbühne, wie ich sie liebe, können wir als gegeben nehmen, darum heute hier nur über den Theaterabend. Nur. Haha.
Sieben Schauspieler, vier Musiker, eine gelbe Riesentröte, eine rote Treppe, ein spiegelnder Bühnenboden, ein weiter weißer Gipshorizont, ein Bungee-Seil (grün), drei verbiegbare Mikrophone (rot, blau, gelb), ein nichtbiegbares (silber mit rotem Spuckschutz), eine riesige, elegante Drehbühne, gefühlte 100 unterschiedliche präzise Lichtstimmungen, Texte des österreichischen Nachkriegs-Dadaisten Konrad Bayer (nach dem zweiten, der beiden europäischen Großmetzeleien des zwanzigsten Jahrhunderts) und Handwerk, Timing, Denken, Musikalität, Furchtlosigkeit, Schwitzen, Kraft und Artistik.
Der unbedingte Wille zu unterhalten auf höchstem Niveau, wobei überhalten, gäbe es das Wort, genauer beschreiben würde, was hier stattfindet.
Zwischendurch ein Meckerabsatz: Glätte passiert hier und da, zu genaues Wissen um Wirkung winkt aus der Zukunft, der Applaus war, für meinen Geschmack zu militant-zirzensisch organisiert. Der sehr verehrte Herr Fritsch könnte irgendwann einmal too cool for school werden. Too cool for school, a state in which a person thinks him or herself superior to everyone else in a given group or in general, sagt der Urban Ditionary. Hier am passendsten übersetzt, er könnte schlauer werden, als gut für ihn ist.
Aber, aber, aber, mannomann, können die gut, was sie tun. Sie können es, weil sie es geübt haben. Sprechen, singen, sich bewegen, nicht alle können alles gleich gut, aber jeder etwas sehr gut und jeder/jede bekommt den Raum, um sein/ihr Talent, ihren höchstpersönlichen Irrsinn, uns, zu unserem Vergnügen, anzubieten.
Bedenkend, dass Komik, meines Erachtens, zu den verachteten Künsten des heutigen deutschen Theaters gezählt wird, könnte man Herbert Fritsch, wenn er nicht dennoch so erfolgreich wäre, zu den durch Harakiri gefährdeten Regisseuren unserer Zeit rechnen. Wäre er nicht so unverschämt, würde man ihn töten oder tiefmitleidig zur Selbsttötung überreden. Ich bin froh, dass Überdruß nicht sein Hauptthema ist. Und auch nicht der Mangel an Dramatik in unserer Zeit. Denn ich glaube, jede Zeit kann ihre Tragödien nur für sich selbst definieren. Postdramatik gibt es ausschließlich für angstgeschüttelte und gleichzeitig zutiefst gelangweilte Dramaturgen. Postdramatisch wird es erst dann werden, wenn wir alle verschwunden sind. Drama ist eine den Menschen eigene Sicht auf ihre Erlebnisse, die demnach erst mit den Menschen verschwinden wird. Das Hauptkennzeichen des Dramas nach Aristoteles ist die Darstellung der Handlung durch Dialoge, sagt Wiki. Und solange wir Menschen existieren reden wir miteinander, versuchen wir, uns zu verständigen, allen ungeheuren Widerständen zum Trotz. Mich macht dieses Gefasel über das Ende des Dramas, der Unmöglichkeit der Tragödie ganz kirre, was erlauben sich übersättigte Theaterwissenschaftler, wenn sie ihnen unbekannten Menschen, die Fähigkeit zum Leiden absprechen?
Wenn Annika Meier, nachdem sie noch am Gummiseil kopfüber hängend Poesie stotternd, wieder Boden unter den Füßen hat, macht sie noch die Entfesselung aus dem Seil zum Vorgang voll Witz und Würde. Florian Anderer, Jan Bluthardt, Werner Eng, Ruth Rosenfeld, Axel Wandtke, Hubert Wild - Hut ab, Augen auf, Danke sagen. Die Pilzkopfperücken saßen auch am Ende noch fest, aber die grauen Anzüge waren an einigen Körpern nur noch schweißdurchtränkte Lappen.
Dada. DADA. Konrad Bayer, geboren 1932 in Wien, sechs Jahre vor dem Anschluß, gestorben, durch Selbsttötung im Jahr 1964, im Alter von zweiunddreissig Jahren. Er konnte nicht mehr an die Möglichkeit der Verständigung glauben. Er befand sich im Zustand der Post-Dramatik.
http://www.deutschlandfunk.de/zum-50-todestag-von-konrad-bayer-die-qual-der-sinnlosigkeit.871.de.html?dram:article_id=299891
http://www.zeit.de/1964/43/erinnerung-an-konrad-bayer
https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=13845:grimmige-maerchen-herbert-fritsch-blaettert-am-schauspielhaus-zuerich-durch-vergessene-seiten-von-grimms-maerchen&catid=38&Itemid=40
Samstag, 8. April 2017
Charles III. an der bremer shakespeare company
Demokratie
ist die schlechteste aller Regierungsformen - abgesehen von all den
anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.
Churchill, Rede vor dem Unterhaus am 11. November 1947, Sitzungsprotokoll
Was geschieht, wenn unsere demokratiefreie Vergangenheit, die gar nicht weit zurückliegt und noch heute Realtität in vielen Teilen unserer Welt ist, auf unsere verunsicherte mitteleuropäische Gegenwart trifft - es kommt es zu erschreckenden Verwerfungen.
Demokratie ist anstrengend, verlangt Informiertheit, Interesse und ein Mindestmaß von Intelligenz und, UND ich muß aushalten, dass meine Überzeugungen mit vielen anderen koexistieren müssen.
Monarchie, Diktatur, da wo einer entscheidet und ich muß, will ihm vertrauen, kann dann wie eine Erleichterung erscheinen, Verantwortung wird mir abgenommen, ich kann mich jemandem anvertrauen, mich ihm faul und verantwortungslos überlassen.
Das beschäftigt mich gerade sehr, weil ich an mir selbst unwillig, garstige, wütende , nur noch reagierende Züge bemerke. Es grämt mich.
Teile meiner Mitbevölkerung, irgendwann einmal aus der Türkei stammend, ich stamme ja auch irgendwann aus Vorderasien, laufen herum und bejubeln einen Diktator in spe, der die Türkei, in der sie selbst nie gelebt haben, in eine Autokratie umwandeln möchte. Er weiß, was gut ist für sein Land und seine Bürger. Und sie jubeln. Warum? Warum? Sie wollen nicht zurück in das Land ihrer Eltern, Großeltern, nach Anatolien, aber aus der Ferne wünschen sie sich dort ein nur äußerlich modernisiertes Mittelalter und verachten gleichzeitig die ungelenke, fehlerhafte Neuzeit in der sie doch leben. Ja, wir haben es nicht geschafft, die Bedingungen für eine gute Integration zu schaffen, Aber, ja, auch sie haben sie nicht gewollt. Ich lerne die Sprache meines neuen Landes nicht, ich mißtraue ihren Gebräuchen, ich nehme, was mir geboten wird und nehme übel, was mir verwehrt wird. Auf der anderen Seite, der der sogenannten Schon-Immer-Deutschen ist es allerdings auch nicht besser.
Es gibt ein englisches Sprichwort, das besagt, das man seinen Kuchen nicht gleichzeitig behalten und essen kann. Das trifft es. Beide Seiten müssen Kompromisse eingehen.
CHARLES III.
Queen Elisabeth stirbt, ihr Sohn Charles folgt ihr auf dem Thron.
Dies die Ausgangssituation des Stückes von Mike Bartlett, das 2014 in London Premiere hatte. Die Figuren sind mit wenigen Ausnahmen und auf eigenartige Weise bekannte Bewohner der Regenbogenpresse, die Worte aber in Blankversen. Die Rainer Iversen großartig, mit Melodie und Witz und wachem Ohr für modernen Slang, ins Deutsche hinübergetragen hat.
Die Realität: 1948 wurde Charles geboren, seit 1952 ist seine Mutter Königin von England,
Elisabeth die Zweite, von Gottes Gnaden Königin des Vereinigten Königreiches Großbritannien und Nordirland und ihrer anderen Königreiche und Territorien, als da wären: Antigua und Barbuda, Australien, die Bahamas, Barbados, Belize, Grenada, Jamaika, Kanada, Neuseeland, Papua-Neuguinea, St. Kitts und Nevis, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, die Salomonen und Tuvalu; Oberhaupt des Commonwealth, Verteidigerin des Glaubens.
Charles ist also seit 65 Jahren Kronprinz, länger als ich lebe, und ich bin schon ziemlich alt.
Das Stück: Warten, warten, warten. Die Königin ist tot, es lebe der König. Jetzt.
His Royal Highness The Prince Charles Philip Arthur George, Prince of Wales, Duke of Cornwall, Duke of Rothesay, Earl of Carrick, Earl of Chester, Baron of Renfrew, Lord of the Isles, Prince and Great Steward of Scotland, Royal Knight Companion of the Most Noble Order of the Garter, Extra Knight of the Most Ancient and Most Noble Order of the Thistle, Grand Master and Principal Knight Grand Cross of the Most Honourable Order of the Bath, Member of the Order of Merit, Knight of the Order of Australia, Companion of the Queen's Service Order, Member of Her Majesty's Most Honourable Privy Council, Aide-de-Camp to Her Majesty, noch nicht gekrönt, aber schon mit königlichen Aufgaben betraut, hat ein Problem. Ein Gesetz zum Schutz der Privatsphäre vor dem Zugriff der Presse ist vom Parlament verabschiedet worden und muß nun, ein rein formaler Akt, vom König unterzeichnet werden. Aber Charles kann nicht unterschreiben. Die Freiheit der Presse ist ihm ein so hohes Gut, dass er trotz schrecklicher eigener Erfahrungen, Diana, oder besser drei gespenstische Dianas erscheinen im Hintergrund, sich einfach nicht dazu bringen kann. Eine Lappalie, die sich zur Staatskrise auswächst, und zur privaten Sinnkrise des so sehr spät in das Amt gelangten Prinzen, auf das er sein ganzes Leben hin ausgebildet, ausgerichtet worden ist. Nicht mehr Erwartung, sondern Entscheidung.
Shakespearsche Konstellationen treffen auf demokratische Bürokratie und die Macht der Medien. Ein Zusammenstoß.
Das Bühnenbild ist gbestens geeignet für eine präzise, sezierende Versuchsanordnung, die Spieler, ungübt in Boulevardtheatercharme, aber zuhause bei Shakespeare, verweigern leichfertige Imitationen, spielen Theater. Das Publikum, gekommen, um die Bildzeitung oder Gala auf der Bühne zu sehen, bemerkt, erstaunt und erfreut, dass hier mehr verhandelt wird.
Ein paar Striche hätten gut getan, aber ich bin ungeduldig.
Der Applaus war heftig. Das Haus voll. So wie es sein soll.
Auch sehr zu empfehlen: THE QUEEN ein Film (2006) von Stephen Frears mit Helen Mirren in der Titelrolle.
Churchill, Rede vor dem Unterhaus am 11. November 1947, Sitzungsprotokoll
Was geschieht, wenn unsere demokratiefreie Vergangenheit, die gar nicht weit zurückliegt und noch heute Realtität in vielen Teilen unserer Welt ist, auf unsere verunsicherte mitteleuropäische Gegenwart trifft - es kommt es zu erschreckenden Verwerfungen.
Demokratie ist anstrengend, verlangt Informiertheit, Interesse und ein Mindestmaß von Intelligenz und, UND ich muß aushalten, dass meine Überzeugungen mit vielen anderen koexistieren müssen.
Monarchie, Diktatur, da wo einer entscheidet und ich muß, will ihm vertrauen, kann dann wie eine Erleichterung erscheinen, Verantwortung wird mir abgenommen, ich kann mich jemandem anvertrauen, mich ihm faul und verantwortungslos überlassen.
Das beschäftigt mich gerade sehr, weil ich an mir selbst unwillig, garstige, wütende , nur noch reagierende Züge bemerke. Es grämt mich.
Teile meiner Mitbevölkerung, irgendwann einmal aus der Türkei stammend, ich stamme ja auch irgendwann aus Vorderasien, laufen herum und bejubeln einen Diktator in spe, der die Türkei, in der sie selbst nie gelebt haben, in eine Autokratie umwandeln möchte. Er weiß, was gut ist für sein Land und seine Bürger. Und sie jubeln. Warum? Warum? Sie wollen nicht zurück in das Land ihrer Eltern, Großeltern, nach Anatolien, aber aus der Ferne wünschen sie sich dort ein nur äußerlich modernisiertes Mittelalter und verachten gleichzeitig die ungelenke, fehlerhafte Neuzeit in der sie doch leben. Ja, wir haben es nicht geschafft, die Bedingungen für eine gute Integration zu schaffen, Aber, ja, auch sie haben sie nicht gewollt. Ich lerne die Sprache meines neuen Landes nicht, ich mißtraue ihren Gebräuchen, ich nehme, was mir geboten wird und nehme übel, was mir verwehrt wird. Auf der anderen Seite, der der sogenannten Schon-Immer-Deutschen ist es allerdings auch nicht besser.
Es gibt ein englisches Sprichwort, das besagt, das man seinen Kuchen nicht gleichzeitig behalten und essen kann. Das trifft es. Beide Seiten müssen Kompromisse eingehen.
CHARLES III.
Queen Elisabeth stirbt, ihr Sohn Charles folgt ihr auf dem Thron.
Dies die Ausgangssituation des Stückes von Mike Bartlett, das 2014 in London Premiere hatte. Die Figuren sind mit wenigen Ausnahmen und auf eigenartige Weise bekannte Bewohner der Regenbogenpresse, die Worte aber in Blankversen. Die Rainer Iversen großartig, mit Melodie und Witz und wachem Ohr für modernen Slang, ins Deutsche hinübergetragen hat.
Die Realität: 1948 wurde Charles geboren, seit 1952 ist seine Mutter Königin von England,
Elisabeth die Zweite, von Gottes Gnaden Königin des Vereinigten Königreiches Großbritannien und Nordirland und ihrer anderen Königreiche und Territorien, als da wären: Antigua und Barbuda, Australien, die Bahamas, Barbados, Belize, Grenada, Jamaika, Kanada, Neuseeland, Papua-Neuguinea, St. Kitts und Nevis, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, die Salomonen und Tuvalu; Oberhaupt des Commonwealth, Verteidigerin des Glaubens.
Charles ist also seit 65 Jahren Kronprinz, länger als ich lebe, und ich bin schon ziemlich alt.
Das Stück: Warten, warten, warten. Die Königin ist tot, es lebe der König. Jetzt.
His Royal Highness The Prince Charles Philip Arthur George, Prince of Wales, Duke of Cornwall, Duke of Rothesay, Earl of Carrick, Earl of Chester, Baron of Renfrew, Lord of the Isles, Prince and Great Steward of Scotland, Royal Knight Companion of the Most Noble Order of the Garter, Extra Knight of the Most Ancient and Most Noble Order of the Thistle, Grand Master and Principal Knight Grand Cross of the Most Honourable Order of the Bath, Member of the Order of Merit, Knight of the Order of Australia, Companion of the Queen's Service Order, Member of Her Majesty's Most Honourable Privy Council, Aide-de-Camp to Her Majesty, noch nicht gekrönt, aber schon mit königlichen Aufgaben betraut, hat ein Problem. Ein Gesetz zum Schutz der Privatsphäre vor dem Zugriff der Presse ist vom Parlament verabschiedet worden und muß nun, ein rein formaler Akt, vom König unterzeichnet werden. Aber Charles kann nicht unterschreiben. Die Freiheit der Presse ist ihm ein so hohes Gut, dass er trotz schrecklicher eigener Erfahrungen, Diana, oder besser drei gespenstische Dianas erscheinen im Hintergrund, sich einfach nicht dazu bringen kann. Eine Lappalie, die sich zur Staatskrise auswächst, und zur privaten Sinnkrise des so sehr spät in das Amt gelangten Prinzen, auf das er sein ganzes Leben hin ausgebildet, ausgerichtet worden ist. Nicht mehr Erwartung, sondern Entscheidung.
Shakespearsche Konstellationen treffen auf demokratische Bürokratie und die Macht der Medien. Ein Zusammenstoß.
Ein paar Striche hätten gut getan, aber ich bin ungeduldig.
Der Applaus war heftig. Das Haus voll. So wie es sein soll.
Auch sehr zu empfehlen: THE QUEEN ein Film (2006) von Stephen Frears mit Helen Mirren in der Titelrolle.
Donnerstag, 6. April 2017
Axel Hacke, ein weißer Neger, ein kleiner König und dann auch noch Gott.
Mit Lesungen ist das so eine Sache.
Schauspieler lesen manchmal Texte großer Dichter, manche zelebrieren sie, andere illustrieren sie, einige nuscheln sie, hasten sie, haspeln sie. Es gibt von starken Gefühlen geschüttelte Lesende und die in Heiner-Müller-Flächiger-Lese-Manier-Vortragenden. Die letzteren bevorzuge ich. Denke was Du sagst und überlaß den Rest den Zuhörenden. Nun ja, Geschmäcker, sagt der Bäcker und spuckte in die Semmeln.
Dichter und Autoren wiederum stellen ihre Werke vor und können dies ganz unterschiedlich gut. Ein in der DDR sehr geehrter Poet verfiel beim Lesen eigener Arbeiten in das tiefste vorstellbare Dresdnerisch seiner Kindheit, was sich unvorteilhaft auf die Verständlichkeit zum Einen und den Genuß seiner Lyrik zum Anderen auswirkte. Heiner Müller hat wirklich toll gelesen, zögerlich ohne langsam zu werden, als würde er nochmal überdenken, was er da verfasst hatte und es nur zitieren. Sehr klar, sehr ein Angebot zum Selberdenken.
Friedrich Schiller las seinen Mitkadetten "Die Räuber" vor und soll sich derartig in die tragischen Verwerfungen seiner Figuren hineingesteigert haben, dass er, zuerst verstärkt Spucke produzierte, zunehmend in Zuckungen verfiel und dann ohnmächtig zusammenbrach. Wenn man nun noch bedenkt, dass er gewiss eine Variante des Schwäbischen des 18. Jahrhunderts sprach...
https://www.zum.de/Faecher/G/BW/Landeskunde/schwaben/museen/wlb/schiller/vorlesenb.htm
Heute abend las Axel Hacke bei den Wühlmäusen. Ein Spaß. Der Mann ist charmant, klug, albern und liest die eigenen Worte mit Witz und Ironie. Ich liebe seinen "Weißen Neger Wumbaba" und habe mich furchtbar aufgeregt, als eine Gruppe leicht hysterisierter PCler das Einstampfen eben diesen Buches verlangten, weil auf dem Umschlag ein weiße Neger, wie Herr Hacke heute sagte, gerade im Begriff ist aus den Wiesen zu steigen.
Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Neger Wumbaba.
Hacke ist tricky, knifflig, was heißt, er arbeitet unterschwellig mit überraschenden Kontrasten, Absurdität, poetische Phantasie trifft hart auf größtmögliche Alltäglichkeit. Im Laufe des Abends ließ er immer mehr dunklen Humor zu. Ich ahne, dass eine Flasche Wein oder der richtige Gesprächspartner, sehr bald der Hackeschen Monty Python Variante begnen würde.
Für Interessierte:
Der weiße Neger Wumbaba 1 - 3
Der Kleine König Dezember
Die Tage, die ich mit Gott verbrachte
Alle Bücher sind von Michael Sowa illustriert worden.
Es folgt, eine Kolumne zum fiktiven Flughafen Berlin-Brandenburg.
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/45787/
Übrigens, das Bürgerbegehren zum Volksentscheid den Erhalt des real existierenden Flughafens Tegel betreffend, ist erfolgreich gewesen.
Ob der Flughafen Berlin Tegel auch nach der seit Jahren verzögerten Eröffnung des Flughafens Berlin Brandenburg (BER) erhalten bleibt, sollen die Berliner in einem Volksentscheid bestimmen. Es lägen "204.263 gültige Zustimmungserklärungen" für ein Volksbegehren vor, sagte die Landesabstimmungsleiterin Petra Michaelis-Merzbach. Das seien 30.012 Unterschriften mehr, als nötig gewesen wären. Als möglicher Termin für den Volksentscheid gilt der Tag der Bundestagswahl am 24. September. (Zeit online)
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/liste/l/5
Schauspieler lesen manchmal Texte großer Dichter, manche zelebrieren sie, andere illustrieren sie, einige nuscheln sie, hasten sie, haspeln sie. Es gibt von starken Gefühlen geschüttelte Lesende und die in Heiner-Müller-Flächiger-Lese-Manier-Vortragenden. Die letzteren bevorzuge ich. Denke was Du sagst und überlaß den Rest den Zuhörenden. Nun ja, Geschmäcker, sagt der Bäcker und spuckte in die Semmeln.
Dichter und Autoren wiederum stellen ihre Werke vor und können dies ganz unterschiedlich gut. Ein in der DDR sehr geehrter Poet verfiel beim Lesen eigener Arbeiten in das tiefste vorstellbare Dresdnerisch seiner Kindheit, was sich unvorteilhaft auf die Verständlichkeit zum Einen und den Genuß seiner Lyrik zum Anderen auswirkte. Heiner Müller hat wirklich toll gelesen, zögerlich ohne langsam zu werden, als würde er nochmal überdenken, was er da verfasst hatte und es nur zitieren. Sehr klar, sehr ein Angebot zum Selberdenken.
Friedrich Schiller las seinen Mitkadetten "Die Räuber" vor und soll sich derartig in die tragischen Verwerfungen seiner Figuren hineingesteigert haben, dass er, zuerst verstärkt Spucke produzierte, zunehmend in Zuckungen verfiel und dann ohnmächtig zusammenbrach. Wenn man nun noch bedenkt, dass er gewiss eine Variante des Schwäbischen des 18. Jahrhunderts sprach...
https://www.zum.de/Faecher/G/BW/Landeskunde/schwaben/museen/wlb/schiller/vorlesenb.htm
Heute abend las Axel Hacke bei den Wühlmäusen. Ein Spaß. Der Mann ist charmant, klug, albern und liest die eigenen Worte mit Witz und Ironie. Ich liebe seinen "Weißen Neger Wumbaba" und habe mich furchtbar aufgeregt, als eine Gruppe leicht hysterisierter PCler das Einstampfen eben diesen Buches verlangten, weil auf dem Umschlag ein weiße Neger, wie Herr Hacke heute sagte, gerade im Begriff ist aus den Wiesen zu steigen.
Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Neger Wumbaba.
Hacke ist tricky, knifflig, was heißt, er arbeitet unterschwellig mit überraschenden Kontrasten, Absurdität, poetische Phantasie trifft hart auf größtmögliche Alltäglichkeit. Im Laufe des Abends ließ er immer mehr dunklen Humor zu. Ich ahne, dass eine Flasche Wein oder der richtige Gesprächspartner, sehr bald der Hackeschen Monty Python Variante begnen würde.
Für Interessierte:
Der weiße Neger Wumbaba 1 - 3
Der Kleine König Dezember
Die Tage, die ich mit Gott verbrachte
Alle Bücher sind von Michael Sowa illustriert worden.
Es folgt, eine Kolumne zum fiktiven Flughafen Berlin-Brandenburg.
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/45787/
Übrigens, das Bürgerbegehren zum Volksentscheid den Erhalt des real existierenden Flughafens Tegel betreffend, ist erfolgreich gewesen.
Ob der Flughafen Berlin Tegel auch nach der seit Jahren verzögerten Eröffnung des Flughafens Berlin Brandenburg (BER) erhalten bleibt, sollen die Berliner in einem Volksentscheid bestimmen. Es lägen "204.263 gültige Zustimmungserklärungen" für ein Volksbegehren vor, sagte die Landesabstimmungsleiterin Petra Michaelis-Merzbach. Das seien 30.012 Unterschriften mehr, als nötig gewesen wären. Als möglicher Termin für den Volksentscheid gilt der Tag der Bundestagswahl am 24. September. (Zeit online)
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/liste/l/5
Montag, 3. April 2017
Moses ist auch so ein schwieriger Punkt
Ich finde mich immer noch tief eingebuddelt in die Bibel. Ein immenser Sog geht von diesem Buch auf mich aus. Dies ist meine Mythologie, jede dieser Geschichten wirkt bis in meine Zeit, in mein Leben hinein. Ein hallendes Echo aus Zeiten lange vor mir, ein Schatten der auf mir liegt, der ich doch Atheist bin. Wir alle, Juden, Christen, Muslime & Abtrünnige tragen diese Geschichten in unserem zutiefst verstrittenen Unterbewußtsein. Manche rühren mein Herz, andere lassen es erstarren.
Moses von Michelangelo Buonarroti, Grab von Julius II, San Pietro in Vincoli, Rom
Ein einsamer Gott schenkt einem Volk, dass er sich unter mehreren möglichen Völkern als sein bevorzugtes ausgesucht hat, ein ziemlich großes Stück Land. Sie müssen Vieles erleiden, bevor sie das Land erreichen, Hungersnot, Fronarbeit, Tötung der männlichen Kinder in Ägypten, vierzig Jahre Wanderung durch die Wüste, aber nun sind sie sicher, dass alles gut werden wird. Sie erreichen das versprochene Land, nur leider wohnen dort dummerweise schon andere Völker. Was folgt ist eine Landnahme voll wunderbarster Geschichten und blutiger Attacken, überdeckt von einer dicken Schicht roher Gewalt und selbstgerechter arroganter Fühllosigkeit.
(5.
Mose 21,18-21)
Wenn
jemand einen widerspenstigen und ungehorsamen Sohn hat, der der Stimme seines
Vaters und seiner Mutter nicht gehorcht und auch, wenn sie ihn züchtigen, ihnen
nicht gehorchen will, so sollen ihn Vater und Mutter ergreifen und zu den
Ältesten der Stadt führen und zu dem Tor des Ortes und zu den Ältesten der
Stadt sagen: Dieser unser Sohn ist widerspenstig und ungehorsam und gehorcht
unserer Stimme nicht und ist ein Prasser und Trunkenbold. So sollen ihn
steinigen alle Leute seiner Stadt, dass er sterbe.
(4. Mose 31,14-15)
Und
Mose wurde zornig über die Hauptleute des Heeres, die Hauptleute über tausend
und über hundert, die aus dem Feldzug kamen, und sprach zu ihnen: Warum habt
ihr alle Frauen leben lassen?
(4.
Mose 31,17-18)
So
tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht
mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch
leben.
(5.
Mose 20, 10-18)
Wenn
du vor eine Stadt ziehst, um sie anzugreifen, dann sollst du ihr zunächst eine
friedliche Einigung vorschlagen. Nimmt sie die friedliche Einigung an und
öffnet dir die Tore, dann soll die gesamte Bevölkerung, die du dort vorfindest,
zum Frondienst verpflichtet und dir untertan sein. Lehnt sie eine friedliche
Einigung mit dir ab und will sich mit dir im Kampf messen, dann darfst du sie
belagern. Wenn der Herr, dein Gott, sie in deine Gewalt gibt, sollst du alle
männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen. Die Frauen aber, die
Kinder und Greise, das Vieh und alles, was sich sonst in der Stadt befindet,
alles, was sich darin plündern lässt, darfst du dir als Beute nehmen. Was du
bei deinen Feinden geplündert hast, darfst du verzehren; denn der Herr, dein
Gott, hat es dir geschenkt. So sollst du mit allen Städten verfahren, die sehr
weit von dir entfernt liegen und nicht zu den Städten dieser Völker hier
gehören. Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als
Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehr
sollst du die Hetiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und
Jebusiter der Vernichtung weihen, so wie es der Herr, dein Gott, dir zur
Pflicht gemacht hat,damit sie euch nicht lehren, alle Gräuel nachzuahmen, die
sie begingen, wenn sie ihren Göttern dienten, und ihr nicht gegen den Herrn, euren
Gott, sündigt.
(5.
Mose 7, l-3)
Wenn dich der Herr, dein Gott, ins Land bringet, darein du kommen wirst, dasselbe einzunehmen, und ausrottest viele Völker vor dir her, die Hethiter, Girgasiter, Amoriter, Kananiter, Pheresiter, Heviter und Jebusiter, sieben Völker, die größer und stärker sind denn du: Und wenn sie der Herr, dein Gott, vor dir dahingibt, dass du sie schlägst, so sollst du sie verbannen, dass du keinen Bund mit ihnen machest, noch ihnen Gunst erzeigest. Und sollst dich mit ihnen nicht befreunden: eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen, und ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen euren Söhnen.
Wenn dich der Herr, dein Gott, ins Land bringet, darein du kommen wirst, dasselbe einzunehmen, und ausrottest viele Völker vor dir her, die Hethiter, Girgasiter, Amoriter, Kananiter, Pheresiter, Heviter und Jebusiter, sieben Völker, die größer und stärker sind denn du: Und wenn sie der Herr, dein Gott, vor dir dahingibt, dass du sie schlägst, so sollst du sie verbannen, dass du keinen Bund mit ihnen machest, noch ihnen Gunst erzeigest. Und sollst dich mit ihnen nicht befreunden: eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen, und ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen euren Söhnen.
(5.
Mose 32, 42)
Ich will meine Pfeile mit Blut trunken machen, und mein Schwert soll Fleisch fressen, mit dem Blut der Erschlagenen und Gefangenen, von dem entblößten Haupt des Feindes.
Ich will meine Pfeile mit Blut trunken machen, und mein Schwert soll Fleisch fressen, mit dem Blut der Erschlagenen und Gefangenen, von dem entblößten Haupt des Feindes.
(5.
Mose 6, 10 -11)
Dann wird er dir geben, große, schöne Städte, die du nicht gebaut hast, und Häuser alles Guten voll, die du nicht gefüllt hast, und gemeißelte Brunnen, die du nicht gehauen hast, und Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast; und du wirst essen und satt werden.
Dann wird er dir geben, große, schöne Städte, die du nicht gebaut hast, und Häuser alles Guten voll, die du nicht gefüllt hast, und gemeißelte Brunnen, die du nicht gehauen hast, und Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast; und du wirst essen und satt werden.
(3.
Mose 24,16)
Wer
des HERRN Namen lästert, der soll des Todes sterben;
die ganze Gemeinde soll ihn steinigen.
Ob Fremdling oder Einheimischer,
wer den Namen lästert, soll sterben.
die ganze Gemeinde soll ihn steinigen.
Ob Fremdling oder Einheimischer,
wer den Namen lästert, soll sterben.
Sonntag, 2. April 2017
Jewgenij Jewtuschenko ist gestorben.
Jewgenij Jewtuschenko
Babij Jar
Babij Jar
übersetzt von Paul Celan
Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang - der eine unbehauene Grabstein.
Mir ist angst.
Ich bin alt heute,
so alt wie das jüdische Volk.
Ich glaube, ich bin jetzt
ein Jude.
Wir ziehn aus Ägyptenland aus, ich zieh mit.
Man schlägt mich ans Kreuz, ich komm um,
und da, da seht ihr sie noch:
die Spuren der Nägel.
Dreyfus, auch er,
das bin ich.
Der Spießer
denunziert mich,
der Philister
spricht mir das Urteil.
Hinter Gittern bin ich.
Umstellt.
Müdgehetzt.
Und bespien.
Und verleumdet.
Und es kommen Dämchen daher, mit Brüsseler Spitzen,
und kreischen und stechen mir ins Gesicht
mit Sonnenschirmchen.
Ich glaube, ich bin jetzt
ein kleiner Junge in Bialystok.
Das Blut fließt über die Diele, in Bächen.
Gestank von Zwiebel und Wodka, die Herren
Stammtisch-Häuptlinge lassen sich gehn.
Ein Tritt! mit dem Stiefel, ich lieg in der Ecke.
Ich fleh die Pogrombrüder an, ich flehe - umsonst.
«Hau den Juden, rette Rußland!» -:
der Mehlhändler hat meine Mutter erschlagen.
Mein russisches Volk!
Internationalistisch
bist du, zuinnerst, ich weiß.
Dein Name ist fleckenlos, aber
oft in Hände geraten, die waren nicht rein;
ein Rasselwort in diesen Händen, das war er.
Meine Erde - ich kenne sie, sie ist gut, sie ist gütig.
Und sie, die Antisemiten, die nieder-
trächtigen, daß
sie großtun mit diesem Namen:
«Bund des russischen Volks»!
Und nicht beben und zittern!
Ich glaube, ich bin jetzt sie:
Anne Frank.
Licht-
durchwoben, ein Zweig
im April.
Ich liebe,
Und brauche nicht Worte und Phrasen.
Und brauche:
daß du mich anschaust, daß ich dich anschau.
Wenig Sichtbares noch,
wenig Greifbares!
Die Blätter - verboten.
Der Himmel - verboten.
Aber einander umarmen, leise,,
das dürfen, das können wir noch.
Sie kommen?
Fürchte dich nicht, was da kommt, ist der Frühling.
Er ist so laut, er ist unterwegs, hierher.
Rück näher...
Mit deinen Lippen. Wart nicht.
Sie rennen die Tür ein?
Nicht sie. Was du hörst, ist der Eisgang,
die Schneeschmelze draußen.
Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras.
Streng, so sieht dich der Baum am,
mit Richter-Augen.
Das Schweigen rings schreit.
Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle,
ich werde
grau.
Und bin - bin selbst
ein einziger Schrei ohne Stimme
über tausend und aber
tausend Begrabene hin.
Jeder hier erschossene Greis -:
ich. Jedes hier erschossene Kind -:
ich.
Nichts, keine Faser in mir,
vergißt das je!
Die Internationale —
ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer.
Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern.
Aber verhaßt bin ich allen Antisemiten.
Mit wütigem, schwieligem Haß,
so hassen sie mich –
wie einen Juden.
Und deshalb bin ich
ein wirklicher Jude.
Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang - der eine unbehauene Grabstein.
Mir ist angst.
Ich bin alt heute,
so alt wie das jüdische Volk.
Ich glaube, ich bin jetzt
ein Jude.
Wir ziehn aus Ägyptenland aus, ich zieh mit.
Man schlägt mich ans Kreuz, ich komm um,
und da, da seht ihr sie noch:
die Spuren der Nägel.
Dreyfus, auch er,
das bin ich.
Der Spießer
denunziert mich,
der Philister
spricht mir das Urteil.
Hinter Gittern bin ich.
Umstellt.
Müdgehetzt.
Und bespien.
Und verleumdet.
Und es kommen Dämchen daher, mit Brüsseler Spitzen,
und kreischen und stechen mir ins Gesicht
mit Sonnenschirmchen.
Ich glaube, ich bin jetzt
ein kleiner Junge in Bialystok.
Das Blut fließt über die Diele, in Bächen.
Gestank von Zwiebel und Wodka, die Herren
Stammtisch-Häuptlinge lassen sich gehn.
Ein Tritt! mit dem Stiefel, ich lieg in der Ecke.
Ich fleh die Pogrombrüder an, ich flehe - umsonst.
«Hau den Juden, rette Rußland!» -:
der Mehlhändler hat meine Mutter erschlagen.
Mein russisches Volk!
Internationalistisch
bist du, zuinnerst, ich weiß.
Dein Name ist fleckenlos, aber
oft in Hände geraten, die waren nicht rein;
ein Rasselwort in diesen Händen, das war er.
Meine Erde - ich kenne sie, sie ist gut, sie ist gütig.
Und sie, die Antisemiten, die nieder-
trächtigen, daß
sie großtun mit diesem Namen:
«Bund des russischen Volks»!
Und nicht beben und zittern!
Ich glaube, ich bin jetzt sie:
Anne Frank.
Licht-
durchwoben, ein Zweig
im April.
Ich liebe,
Und brauche nicht Worte und Phrasen.
Und brauche:
daß du mich anschaust, daß ich dich anschau.
Wenig Sichtbares noch,
wenig Greifbares!
Die Blätter - verboten.
Der Himmel - verboten.
Aber einander umarmen, leise,,
das dürfen, das können wir noch.
Sie kommen?
Fürchte dich nicht, was da kommt, ist der Frühling.
Er ist so laut, er ist unterwegs, hierher.
Rück näher...
Mit deinen Lippen. Wart nicht.
Sie rennen die Tür ein?
Nicht sie. Was du hörst, ist der Eisgang,
die Schneeschmelze draußen.
Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras.
Streng, so sieht dich der Baum am,
mit Richter-Augen.
Das Schweigen rings schreit.
Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle,
ich werde
grau.
Und bin - bin selbst
ein einziger Schrei ohne Stimme
über tausend und aber
tausend Begrabene hin.
Jeder hier erschossene Greis -:
ich. Jedes hier erschossene Kind -:
ich.
Nichts, keine Faser in mir,
vergißt das je!
Die Internationale —
ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer.
Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern.
Aber verhaßt bin ich allen Antisemiten.
Mit wütigem, schwieligem Haß,
so hassen sie mich –
wie einen Juden.
Und deshalb bin ich
ein wirklicher Jude.
Aus: Paul Celan: Gesammelte Werke.
Bd. 5. Übertragungen II. Frankfurt/M. 2000. S. 288ff.
Jewgeni Jewtuschenko
Bild: Morgenstern, Klaus (Fotograf) (2000)
Deutsche Fotothek
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