Mittwoch, 8. März 2017

Für S. - Barockmusik ist nicht blöd

Liebe Silvia, lass mich mit der Barockmusik beginnen. Hochartifiziell, riesige, überwältigende Gefühl strengst in komplizierte Kompositionen gefasst, die Sänger müssen all ihr Können einsetzen, um nicht aus der Form zu fallen. Und diese Anstrengung, der Kampf zwischen Emotion und Form, kann mich sehr tief berühren. Hier ist nichts pur, echt oder realistisch. Die echte Welt ist zu klein, um all das Leiden, Lieben fassen zu können.

Die Periode der Barockmusik in der abendländischen Kunstmusik, auch bezeichnet als Generalbasszeitalter, schließt sich an die Renaissance an und erstreckt sich vom Beginn des 17. bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie zählt heute zur sogenannten Alten Musik. So beschreibt es Wiki.


Meine Eltern hatten eine Menge Schallplatten, Freddie Quinn, Schlagermedleys, The Best of the Seventies, Ernst Busch, Originalaufnahmen von Hitlerreden für den "Arturo Ui" meines Vaters, Blues der frühen Zwanziger und eben Barockmusik. Klassische Musik kam sonst nicht vor. Ich kämpfe darum bis heute. Ein spannender Kampf. Aber Barockmusik, Bach, Purcell, Vivaldi und Händel haben mich überraschend erwischt. Heute denke ich, es war die Anspannung, der hörbare Prozess, wie Leidenschaft in Kunst umgeformt wurde. 

Ein paar meiner persönlichen Leckerbissen:

"The Cold Song" von Henry Purcell

Für den Tod im Eis gibt es einen Soundtrack, den wird man nicht mehr los, ist man ihm einmal begegnet, den hört man, wenn man in Radevormwald oder sonst wo des Nachts auf dem Bahnsteig steht, einsam und verlassen von Bahn-Mitarbeitern und im Schneegestöber dem Absterben seiner Füße nachspürt. Und der geht so: Arktische Akkorde marschieren unbarmherzig und bibbernd heran. Kommen immer näher, holen aus, weichen zurück. Eine vor Unterkühlung zitternde, bebende Stimme fängt an zu flehen, verliert sich, bricht, stottert, stirbt. Eine Stimme, so alt wie der Permafrost, die sich aufgegeben hat und fleht - obwohl sie eigentlich gerade von der Liebe erlöst werden soll - darum, in den frostigen Frieden des Todes entlassen zu werden. Weswegen der "Cold Song" aus der Frostszene von Henry Purcells Semi-Oper "King Arthur" eigentlich auch eine Bassarie ist. Nur kann man sich die Stimme, die den Eistod stirbt, seit gut dreißig Jahren nicht mehr recht als Bass und mit langem, weißem Bart vorstellen. Sondern nur als Altus, weiß geschminktes Gesicht, blutrote, fast dreieckige Lippen, nach hinten gegelte Haare, futuristisches Dreiecksgewand, riesige Fliege. Einem Eishauch gleich glitterte Anfang der Achtziger der deutsche New-Wave-Star Klaus Nomi mit eckigen Bewegungen durch die Clubkeller von New York bis Paris. "Cold Song" war seine Trapeznummer. Ein Countertenor, bevor noch jemand in Deutschland das Wort ernsthaft buchstabieren konnte. Die große Zeit der hohen Herrenstimmen hat Klaus Nomi nicht mehr erlebt. Er starb 1983, kaum älter geworden als Purcell - einer der ersten Aidstoten.
Aus einem Artikel in der WELT 

Klaus Nomi
https://www.youtube.com/watch?v=wQrqgSK8-XU

Andreas Scholl
https://www.youtube.com/watch?v=O5lRq0IcDzw

Und so singen, wenn es denn welche gäbe, glaube ich, die Engel.

Philippe Jaroussky "Ombra ma fui" von Georg Friedrich Händelhttps://www.youtube.com/watch?v=q5v1PuhZ2zY 

Vivaldis Vier Jahreszeiten in zwei von vielen, ungeheuer vielen Versionen, zuerst der von Antonio Vivaldi und Max Richter.

https://www.youtube.com/watch?v=zy-B9MNtkyg

https://www.youtube.com/watch?v=EcsM4HUEwVw

Und jetzt Nigel Kennedy, der Punk der Barockszene

https://www.youtube.com/watch?v=DYvkVqpLX_E

 

Manchmal muß man einfach mitten im Film weggehen.

Ich als bekennender und recht wahlloser Filmliebhaber habe innerhalb des letzten Monats zweimal nach nicht einmal dreissig Minuten das Kino verlassen. Unerhört. 
Es gibt tolle Filme, gute Filme, öde Filme, schlechte Filme, aber am schlimmsten sind prätentiöse Filme. Erst La-La-Land und heute abend Silence. WtF! 

In Folge frühkindlicher Verwöhnung mit hochartifiziellen, wunderbaren Musikfilmen von Top Hat bis Funny Girl, nach inneren Kniefällen vor Gene Kelly und Fred Astaire war mir der angestrengt neckische Charme von La-La-Land im Verein mit den mäßigen Tanz-und Gesangskünsten der Spieler zu blöde, um zu bleiben. Die Choreographien waren auf das für Anfänger machbare Maß zugeschnitten, die Lieder auch. Und um eins klarzustellen, Kitsch ist nicht, was ich verachte, immerhin habe ich Pretty Woman gemocht, nur muß er zugeben, was er ist. Hier wurde mit dem "Wir-können-das-nicht-so-gut" getändelt. Erfolgsorientierte verlogene Harmlosigkeit. Und ich habe auch immer mehr das Gefühl, dass Ryan Gosling in Gefahr ist, zum Darsteller seiner selbst zu versteinern.

Heute Silence von Martin Scorsese mit Andrew Garfield, den ich sonst gern sehe - Vorspann, unterlegte Musik, Musik bricht ab, Stille, der Titel erscheint: Stille
Wabernde Nebel, viel Feuchtigkeit, fein schmutzig geschminkte Gesichter, angstvolle Augen in riesigen Nahaufnahmen, Lumpen und eine dunkle hauchige Stimme spricht glaubensbebende Sätze aus dem Off. Und wenn ich mal über Rassismus auf der Leinwand reden darf, viele zitternde, demütige, arme, arme Japaner, begrüssen beglückt die Ankunft der zwei opferbereiten Jesuiten, sie sind dazu angehalten zu spielen, als wären  sie in der unkomischen katholischen Version vom Pink Panther besetzt. 

Herbert Tsangtse "Burt" Kwouk, OBE (pronounced KWOK; Chinese: 郭弼; 18 July 1930 – 24 May 2016) was a British actor, known for his role as Cato in the Pink Panther films. 
https://www.youtube.com/watch?v=IA8QrOAghZ0

Und Yoshi Oida ist einer der japanischen Darsteller. Er hat bei Peter Brook gespielt und bei Greenaway im "Pillowbook - Die Bettlektüre", einem meiner Lieblingsfilme!
Martin Scorsese, ein großer Regisseur, gefällt von seinem Kinderglauben, seine Heiligenbildchen treffen auf den American Dream vom einfach strukturierten Kampf zwischen Gut und Böse, was hier das Duell der herzigen Jesuiten gegen die japanischen Bösewichter ist. Die Japse begreifen einfach nicht, wie gut Katholizismus für sie wäre.
1986 hat Roland Joffé "Mission" gedreht mit Rober De Niro, Jeremy Irons und der Filmmusik von Ennio Morricone, falls es euch interessiert, welch heiliger Wahnsinn nötig war, um den Versuch zu unternehmen, ganze Kontinente zu missionieren.


Jeremy Irons aka Pater Gabriel spielt im südamerikanischen Dschungel die Oboe.

Montag, 6. März 2017

Es geht doch mit dem Quatsch machen - Familie Braun im ZDF

Da muß einem Redakteur unseres staatlich stattlich subventionierten  Fernsehens was unterlaufen sein, vielleicht war er kränkelnd, vielleicht besoffen, vielleicht nur unkonzentriert, und da hat er was durchgehen lassen, was abgenickt, das nicht wirklich passt ins Goldene Kamera / Betroffenheits-Tatort / Talkgequatsche, eine kleine Geschichte im Fünfminutentakt erzählt, drei Hauptakteure, zwei davon Nazis, die dritte ein hochbegabtes Kind, und was ich sehe, ist nicht peinlich, nicht allzu moralisierend, nicht nur besserwisserisch, sondern ganz lustig, nein, es ist sogar liebenswürdig.



Nur noch vier Tage in der arte - Mediathek! Ob es das ZDF, das einäugige, in seiner auch hat, weiß ich nicht.

https://www.zdf.de/serien/familie-braun

Das sagt der von mir nicht immer respektierte Herr Henryk M. Broder dazu: Das ZDF überrascht und nimmt die giftige Komödienserie„Familie Braun“ ins Hauptprogramm. Ursprünglich war sie fürs Netz entwickelt worden. Es geht um eine Nazi-WG, die ein schwarzes Kind aufnimmt. 
https://www.welt.de/kultur/medien/article152178481/Wo-das-Negerkind-unterm-Hitlerbild-aufwaechst.html 

Sonntag, 5. März 2017

Nicht alle Schmerzen sind heilbar

Wir werden diese verfluchte Zeit, diese zwölf Jahre währenden tausend Jahre, einfach nicht los. "Der Gnade der späten Geburt" oder des "Es muß genug sein mit dem schlechten Gewissen" und auch allen anderen Vermeidungsstrategien zum Trotz. Vergangenheitsaufarbeitung ist harte, unerträglich harte Arbeit. 
Vierzig Jahre Ost-Zone benötigen ungleich viel mehr Jahre erhöhter Aufmerksamkeit für unsere Anfälligkeit für zukunftslügende Ideologien und zwölf Jahre Unmenschlichkeit lassen sich eben nicht einfach mal so weg quatschen. Der Dreck in unseren Köpfen, bzw. der ererbte Dreck aus den Köpfen unserer Eltern und Großeltern, zeigt sein schmutziges Gesicht immer wieder, sobald wir nicht achtsam bleiben. Dresdener Bürger vergessen die Vorgeschichte der schrecklichen Bombardierung ihrer Stadt sehr gern und zeigen wenig Mitgefühl mit den Bewohnern von Coventry oder London. "Es muß doch mal genug sein" ist ein schrecklicher Satz, wenn wir damit 50 Millionen Tote dem Vergessen überantworten wollen. Israelis entschuldigen ihr grausames Verhalten ihren palästinensischen Mitbürgern gegenüber mit ihren eigenen unfaßbaren Opfern nur wenige Jahre vorher und verbitten sich jeden Vergleich. Und wir guten Deutschen denken, wir hätten unsere Opfer doch nun reichlich ausbezahlt.
Wiedergutmachung ist nicht möglich. Tot ist tot. Gemordet bleibt gemordet. Ich hätte eine weitgefächerte Familie und habe sie nicht. Wie gut bin ich davongekommen, nicht allzu zu tief in die Verbrechen meines Jahrhunderts eingebunden zu sein.
Deutsche Biographien, die die Jahre 1933 bis 45 einschließen, sind, wenn nicht furchterregend, ignorant oder verächtlich, oft sehr verzwickt. Ricarda Huch hat eine solche. Bibliothekarin, Lehrerin, Historikerin, Dichterin, Feministin war sie eigenartig geschützt während der bitteren Zeit des Dritten Reiches. Die Italiener verehrten sie für ihre Arbeit über das Risorgimento, sie stand unter der Protektion des nationalsozialistischen Reichsjustizministers, zu ihrem 80. Geburtstag erhält sie persönliche Glückwunschtelegramme von Goebbels und Hitler, obwohl in den Zeitungen 
ihr Jahrestag nicht erwähnt wird. 
ABER. Aber sie tritt 1933 protestierend aus der Preußischen Akademie der Künste aus, mehrere ihrer Bücher erscheinen nur unter großen Schwierigkeiten oder gar nicht und ihr Haus in Jena ist Treffpunkt kritischer Köpfe während einer Zeit in der ein offenes Gespräch, oft schnell zum Tode führen konnte. 
Innere Emigration, was für ein Begriff. Innen bin ich woanders, in der Fremde. 
Gewollte Schizophrenie als Überlebensstrategie. Welcher Preis ist dafür zu zahlen?

Nicht alle Schmerzen sind heilbar

Nicht alle Schmerzen sind heilbar, denn manche schleichen
Sich tiefer und tiefer ins Herz hinein,
Und während Tage und Jahre verstreichen,
Werden sie Stein.

Du sprichst und lachst, wie wenn nichts wäre,
Sie scheinen zerronnen wie Schaum.
Doch du spürst ihre lastende Schwere
Bis in den Traum.


Der Frühling kommt wieder mit Wärme und Helle,
Die Welt wird ein Blütenmeer.
Aber in meinem Herzen ist eine Stelle,
Da blüht nichts mehr.


Ricarda Huch 1867-1947

1944, unmittelbar nach dem mißlungenen Attentat am 20. Juli, als zahlreiche Freunde und Bekannte von ihr verhaftet und hingerichtet wurden, plant sie ein Buch über den deutschen Widerstand, zu schreiben. Sie entwirft biographische Skizzen, um jene, die "im Kampf gegen das Böse fielen", zu ehren. 1947 umfaßt die Arbeit am Buch über die Widerstandskämpfer 40 Biographien; sie muß sich eingestehen, daß sie das Projekt nicht alleine würde durchführen können und übergibt ihr Material an den Autor Günther Weisenborn, der es 1953 als "Der lautlose Aufstand" herausgibt. Am 17. November stirbt Ricarda Huch im Alter von 83 an den Folgen einer Lungenentzündung. (Wiki)

https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/frauenarchiv/ausstellungen/europa/huch/
 
Ricarda Huch & Richard Huch

 Ricarda Huch  - Ihr Leben, Lieben, Büßen: eine Geschichte über starke Gefühle


Im Jahre 1879, Ricarda ist 15 Jahre alt, heiratet ihre fünf Jahre ältere Schwester Lilly den 29-jährigen Richard Huch, ihrer beider Cousin - eine stürmische Liebesheirat. "Was so heiß beginnt, hält nicht an", prophezeit eine skeptische Stimme und soll damit Recht behalten. Spätestens nach der Geburt des dritten Kindes ist die Leidenschaft ehelichem Alltagstrott unterlegen. Zur Statthalterin von Richards Leidenschaft avanciert Schwägerin Ricarda - und wird es jahre-, jahrzehntelang bleiben. ...
Als Ricarda und Richard ins Gerede kommen - sie mehr als er -, ist es bereits zu spät.
Verstoßen aus der Braunschweiger guten Gesellschaft, bleibt der jungen Ricarda kaum anderes übrig, als zum Studium nach Zürich zu gehen und so auf den einen Skandal noch einen zweiten zu setzen. Dabei lebt sie zwar unbürgerlich, sie fühlt sich aber nicht so. Verlobt fühlt sie sich und klammert sich hartnäckig an die Hoffnung auf eine zukünftige Ehe mit Richard. Da die große Liebe komprimiert ist auf wenige Wochen im Jahr, auf heimliche gemeinsame Reisen, kann Ricarda für den Rest des Jahres ungehemmt-nüchtern ihre ehrgeizigen Ziele verfolgen. So hat die Hingabe an die große Unerreichbarkeit durchaus ihre praktischen Seiten...
Was hat diese kluge, genau wahrnehmende Frau an einer für Außenstehende doch erkennbar aussichtslosen Liebe so lange und unbeirrbar festhalten lassen? So unbelehrbar schließlich, dass sie um Richards willen ihren späteren Mann Ermanno Ceconi, den Vater ihrer Tochter, verließ? Die späte Ehe mit Richard scheiterte, musste ja scheitern: "Was so heiß beginnt ..." War auch das Scheitern noch "wesentlich"?  

Anne Gabrisch: "In den Abgrund werf ich meine Seele"
Die Liebesgeschichte von Ricarda und Richard Huch

Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2000 
Aus einem Artikel in DIE ZEIT

Mit 43 Jahren heiratet Ricarda Huch schließlich Richard Huch, der inzwischen von ihrer Schwester geschieden ist. Sie ziehen nach Braunschweig. Eine "allmähliche innere Entfremdung" mündet 1910 in die Scheidung. Ihren ersten Mann Ermano Ceconi wiederum verließ sie, weil er ein Verhältnis mit ihrer Nichte einging.

http://www.berliner-zeitung.de/leidenschaft-und-wohlergehen-sind-zweierlei--die-liebesgeschichte-von-ricarda-und-richard-huch-dem-meister-verse-geigend-16490854

Mittwoch, 1. März 2017

Die Bibel - Was immer du suchst, du findest es.

Dies sind Bemerkungen einer durch und durch heidnischen Dilettantin, nicht religionswissenschaftlich untermauert, noch sonst irgendwie mehr als persönliche, tief beeindruckte Glossen am Rande. 

Ich lese zur Zeit für ein Projekt das Buch Genesis des Alten Testamentes und zwar ziemlich gründlich, obwohl zugegeben, bei den langen Generationslisten husche ich flotter drüber, aber sonst...
Und es ist ein großes Buch voller unglaublich dichter Geschichten mit harten Brüchen, krassesten Widersprüchen, die geradezu zum Streit aufreizen und zahllosen verblüffenden, nur allzu leicht zu überlesenden Details.

Es gibt eine Werbung für Überraschungseier, in der Kinder mit einem solchen Ei für fünf Minuten allein gelassen werden und ihnen versprochen wird, dass sie, wenn sie es schaffen bis dahin das Ei nicht zu öffnen oder zu essen, ein zweites geschenkt bekämen. 
https://www.youtube.com/watch?v=JhZQNjLBQFQ
Das ist wahrhaft gemein! Und doch nicht viel anders, als das, was Gott, der Herr tut, wenn er Adam sagt, dass er von allen Bäumen des Gartens essen darf, nur vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nicht. Oder? Du darfst überall hingehen, nur nicht ins dreizehnte Zimmer. Was soll man denn machen? Und wenn Adam & Eva tun, was wir alle tun würden, wird er wütend, belegt sie mit einem harten Fluch und schmeißt sie raus, legt ihn vorher aber noch wärmende Felljacken um. 

Er verurteilt alle Lebewesen zum Tode durch Ertrinken, wegen ihrer Gewalttätigkeit, gibt aber ersteinmal genaue Bauanweisungen für das Rettungsboot, wartet die Bauzeit ab und ersäuft dann die ganze Erde mit allem was darauf kreucht und fleucht, die Fische und Wale etc. werden klug nicht erwähnt. Alle verrecken außer Noahs Familie und vorausgewählte Tierpaare und danach hat er die größte vorstellbare Reuekrise. "Nie wieder! Ich schenke euch den Regenbogen."


Edward Hicks, Americaner, 1780 - 1849 – Geboren in Langhorne, Pennsylvania, United States. Gestorben in Newtown, Pennsylvania

Er schließt ständig Bunde und bricht sie, weil die Menschen sind, wie er sie geschaffen hat, ihm ähnlich. Vielleicht zu ähnlich. Das kommt mir bekannt vor.
Ein grandioses Buch. Und man findet Worte für jede Gelegenheit darin:
 
Er wird unter großen Völkern richten und viele Heiden zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. 
Micha 4.3

Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.  
Jesaja 2.4

Aber eben auch:

Macht aus euren Pflugscharen Schwerter und aus euren Sicheln Spieße! der Schwache spreche: Ich bin stark!
Joel 4:10

Wunderbar. Ein Gott für alle Fälle. 

Liebespoesie im Hohelied, jede Menge Kriegsverbrechen, dysfunktionale Familien aller Arten, starke weibliche Heldinnen und patriachalischer Größenwahn, Völkermorde und Beispiele ungeheurer Liebe, alles da, alles in Hingabe an den einen, einzigen Gott. Ich bin Jahwe, und sonst ist keiner da!
Das muß hart sein, in den vielen Vielgötterreligionen haben die Götter Partner zum Streiten, Reden, Lieben. ER ist ganz allein, hat nur uns Menschen als Gegenüber. 

Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch. Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich anstrengt unter der Sonne?

Eine Generation geht, eine andere kommt.
Die Erde steht in Ewigkeit.
Die Sonne, die aufging und wieder unterging,
atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht.
Er weht nach Süden, dreht nach Norden, dreht, dreht, weht, der Wind.
Weil er sich immerzu dreht, kehrt er zurück, der Wind.
Alle Flüsse fließen ins Meer,

das Meer wird nicht voll. Zu dem Ort, wo die Flüsse entspringen, / kehren sie zurück, um wieder zu entspringen.
Alle Dinge sind rastlos tätig,
kein Mensch kann alles ausdrücken, nie wird ein Auge satt, wenn es beobachtet,

nie wird ein Ohr vom Hören voll.
Was geschehen ist, wird wieder geschehen,
was man getan hat, wird man wieder tun:

Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

Jossel Rakovers Gespräch mit Gott - ein Jahrhunderttext

Heute habe ich ein kleines Büchlein gelesen, einen Text, der in allen Schulen gelesen werden sollte, von dem meine Freundin sagte: "Gott sollte ihn lesen... und sich schämen."

Gott Israels ich bin hierher geflohen, dass ich Dir ungestört dienen kann: um Deine Gebote zu tun und Deinen Namen zu heiligen. Du aber tust alles, dass ich an Dich nicht glauben soll. Wenn Du aber meinen solltest, dass es Dir gelingen wird, mich mit diesen Versuchungen vom richtigen Weg abzubringen, ruf ich Dir zu, mein Gott und Gott meiner Eltern, dass es Dir alles nicht helfen wird. Magst Du mich auch beleidigen, magst Du mich auch züchtigen, magst Du mir auch wegnehmen das Teuerste und Beste, das ich habe auf der Welt, und mich zu Tode peinigen - ich werde immer an Dich glauben. Ich werde Dich immer lieb haben, immer - Dir selbst zum Trotz!

Zvi Kolitz "Jossel Rakovers Wendung zu Gott"

In einer der Ruinen des Warschauer Ghettos ist zwischen Haufen verkohlter Steine und menschlicher Gebeine das folgende Testament gefunden worden, in einer kleinen Flasche versteckt und verborgen, geschrieben in den letzten Stunden des Warschauer Ghettos von einem Juden namens Jossel Rakover:
Warschau, den 28. April 1943

Ich, Jossel, der Sohn David Rakovers aus Tarnopol, ein Anhänger des Rabbi von Ger und Nachkomme der Gerechten, Gelehrten und Heiligen aus den Familien Rakover und Meisls, schreibe diese Zeilen, während die Häuser des Warschauer Ghettos in Flammen stehen und das Haus, in dem ich mich befinde, eins der letzten ist, die noch nicht brennen. Schon seit ein paar Stunden liegen wir in wütendem Artilleriefeuer, und um mich herum zerbersten und brechen krachend die Mauern im Hagel der Granaten. Lang wird es nicht dauern, und auch dieses Haus wird, wie fast alle Häuser des Ghettos, in ein Grab seiner Beschützer und Bewohner verwandelt werden. An blitzend glutroten Sonnenstrahlen, die durch das kleine, halb vermauerte Fenster in mein Zimmer dringen, aus dem wir Tag und Nacht den Feind beschossen haben, erkenne ich, dass es bald Abend sein muss, kurz vor Sonnenuntergang. Die Sonne weiß wahrscheinlich gar nicht, wie wenig ich bedaure, dass ich sie nie wiedersehen werde.
Eigenartiges ist mit uns geschehen: All unsere Begriffe und Gefühle haben sich verändert. Der Sekundentod - schnell und augenblicklich - kommt uns wie ein Erlöser vor: wie ein Befreier und Kettenzerbrecher. Tiere im Wald erscheinen mir so lieb und teuer, dass es mir in der Seele weh tut, wenn ich höre, dass man die Verbrecher, die heute Europa beherrschen, mit Tieren vergleicht. Es ist nicht wahr, dass Hitler etwas Tierisches an sich hat. Er ist - davon bin ich tief überzeugt - ein typisches Kind der modernen Menschheit. Die Menschheit als Ganzes hat ihn geboren und erzogen, und er drückt ganz offen und unverstellt ihre innersten und verborgensten Wünsche aus.
In einem Wald, wo ich mich versteckte, habe ich eines Nachts einen Hund getroffen, krank, verhungert, vielleicht war er auch toll, den Schwanz zwischen den Beinen. Beide haben wir sofort die Gemeinsamkeit unserer Lage gefühlt, denn die Lage der Hunde ist doch keinen Deut besser als unsere. Er hat sich an mich geschmiegt, seinen Kopf in meinem Schoß vergraben und mir die Hände geleckt. Ich weiß nicht, ob ich jemals so geweint habe wie in jener Nacht; ich bin ihm um den Hals gefallen und habe geheult wie ein Kind. Wenn ich betone, dass ich damals die Tiere beneidete, wird es keinen wundern. Doch das, was ich damals gefühlt habe, war mehr als Neid; es war Schande. Ich habe mich vor dem Hund geschämt, dass ich kein Hund bin, sondern ein Mensch. So ist es, und zu einem solchen Geisteszustand ist es mit uns gekommen: Das Leben ist ein Unglück, der Tod ein Erlöser, der Mensch eine Plage, das Tier ein Ideal, der Tag ein Gräuel, die Nacht eine Erquickung.
Millionen Menschen auf der weiten, großen Welt, verliebt in den Tag, in die Sonne und das Licht, wissen nicht und haben nicht die geringste Ahnung, wie viel Finsternis und Unglück uns die Sonne schon bereitet hat. Die Verbrecher haben sie zu einem Instrument in ihren Händen verwandelt; wie einen Suchscheinwerfer haben sie die Sonne benutzt, um die Fußspuren der Flüchtenden auszuleuchten, die sich vor ihnen retten wollten. Als ich mich mit meiner Frau und meinen Kindern - damals sechs an der Zahl - in den Wäldern verbarg, hat die Nacht, und nur die Nacht, uns in ihrem Innern geborgen. Der Tag hat uns den Verfolgern ausgeliefert, die nach unseren Seelen suchten. Wie soll ich je denn den Tag jenes deutschen Feuerhagels über Tausenden von Flüchtlingen auf der Straße von Grodno nach Warschau vergessen?! Mit der Sonne stiegen am frühen Morgen auch ihre Flugzeuge auf, einen ganzen Tag lang haben sie uns danach unaufhörlich gemordet. Bei diesem Massaker vom Himmel herab ist meine Frau mit unserem siebenmonatigen Kleinsten auf ihrem Arm umgekommen, und zwei andere meiner übrigen fünf Kinder verschwanden spurlos am gleichen Tag. David und Jehuda haben sie geheißen, der eine war vier, der andere sechs Jahre alt. (. . .)
Meine beiden Kinder hab ich nicht wiedergesehen, und in einem Traum wurde mir geheißen, mich nicht mehr um sie zu sorgen: Sie befänden sich in den Händen des Herrn des Himmels und der Erde. Meine anderen drei Kinder sind innerhalb eines Jahres im Warschauer Ghetto umgekommen. (. . .)
Jetzt ist meine Stunde gekommen, und wie Hiob kann ich von mir sagen - und ich bin nicht der Einzige, der es sagen kann -: Nackt kehre ich zur Erde zurück, nackt, wie am Tag, als ich geboren wurde. Dreiundvierzig Jahre bin ich alt, und wenn ich jetzt zurückschaue auf die vergangenen Jahre, kann ich mit Sicherheit feststellen - soweit sich ein Mensch überhaupt sicher sein kann -, dass ich ein ehrliches Leben gelebt habe. Mein Herz war voller Liebe zu Gott. Ich war mit Erfolg gesegnet, aber der Erfolg stieg mir nie in den Kopf. Mein Besitz war reichlich. Doch ich hatte, als hätte ich nicht: Nach dem Rat meines Rabbis erachtete ich mein Vermögen als besitzerlos. Falls es jemanden verleiten sollte, davon zu nehmen, sollte es nicht als Diebstahl gelten, sondern so, als hätte er von herrenlosem Gut genommen. Mein Haus stand für jeden Bedürftigen offen, und ich war glücklich, wenn ich Menschen eine Wohltat erweisen durfte. Gott habe ich mit Hingabe gedient, und meine einzige Bitte an Ihn war, dass Er mich Ihm dienen lasse "mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft".
Nun kann ich nicht sagen - nach all dem, was ich miterlebt habe -, dass meine Beziehung zu Gott sich nicht geändert hätte. Mit absoluter Sicherheit kann ich aber wohl sagen, dass mein Glaube an Ihn sich nicht um Haaresbreite verändert hat. Früher, als es mir gut ging, war meine Beziehung zu Ihm wie zu einem, der mich ohne Unterlass beschenkte - und dem ich dafür ständig etwas schuldig blieb. Jetzt ist meine Beziehung zu Ihm wie zu einem, der auch mir etwas schuldet: viel schuldet. Und weil ich fühle, dass auch Er in meiner Schuld steht, darum, denke ich, habe ich das Recht, Ihn zu mahnen. Ich sage aber nicht wie Hiob, dass Gott Seinen Finger auf meine Sünde legen soll, damit ich weiß, wofür ich dies verdiene. Denn Größere und Bessere als ich sind fest überzeugt, dass dies jetzt keine Frage von Strafen für Sünden und Vergehen mehr ist. Etwas ganz Besonderes geht vielmehr vor auf der Welt, und es hat einen Namen: Hastores Ponim - das heißt: Jetzt ist die Zeit, da Gott Sein Gesicht verbirgt.
Gott hat Sein Gesicht vor der Welt verhüllt und so die Menschen ihren eigenen wilden Trieben und Instinkten ausgeliefert. Deshalb denke ich, dass es leider - wenn die Mächte der bösen Triebe die Welt beherrschen - auch ganz natürlich ist, dass diejenigen die ersten Opfer werden müssen, in denen sich das Göttliche und Reine vergegenwärtigt. Persönlich ist das vielleicht kein Trost. Doch wie das Schicksal unseres Volkes nicht durch irdische, sondern durch Berechnungen einer anderen Welt bestimmt wird, nicht materiell und physisch, sondern geistig und göttlich, so muss der Gläubige in diesen Geschehnissen einen Teil der großen göttlichen Gleichung erblicken, in der selbst menschliche Tragödien nur wenig wiegen. Das heißt aber nicht, dass die Frommen meines Volkes die Verfügung nun einfach gutheißen und sagen müssen: "Der Herr ist gerecht, und Seine Entscheide sind richtig." Zu sagen, dass wir die Schläge verdienen, die wir empfangen haben, heißt, uns selbst zu lästern. Es ist eine Schmähung des Schem Hameforasch: eine Schändung Seines Heiligen Namens - eine Entheiligung des Namens "Jude", eine Entweihung des Namens "Gott". Es ist eins und dasselbe. Gott wird gelästert, wenn wir uns lästern.
In einem solchen Zustand erwarte ich - natürlich - keine Wunder und bitte Ihn nicht, meinen Gott, Er soll sich meiner erbarmen. Soll Er sich mir gegenüber doch mit derselben gesichtverhüllenden Gleichgültigkeit verhalten, wie Er sie auch schon Millionen anderen Seines Volkes erwiesen hat. Ich bin keine Ausnahme von der Regel. Irgendeine Bevorzugung erwarte ich nicht. Ich werde nicht mehr versuchen, mich zu retten, und ich werde von hier nicht weiterfliehen. Ich werde dem Feuer sogar seine Arbeit erleichtern und meine Kleider mit Benzin übergießen. Drei Flaschen Benzin habe ich noch auf Vorrat, nachdem ich ein paar Dutzend anderer über den Köpfen der Mörder geleert habe.
Das war ein großer Moment in meinem Leben, und wie wild habe ich gelacht dabei! Nie hätte ich mir vorstellen können, dass der Tod von Menschen oder auch Feinden - und sei es auch von solchen Feinden! - mich je hätte so erfreuen können. Mögen närrische Humanisten sagen, was sie wollen, Rache und der Wunsch nach Vergeltung hat schon immer den letzten Widerstand der Unterdrückten herausgepresst, und so wird es auch immer bleiben; nichts schafft ihnen größere seelische Befriedigung. Bis jetzt hatte ich jenen Satz im Talmud nie richtig verstanden, der sagt: "Die Rache ist heilig, weil sie zwischen zwei Namen Gottes erwähnt wird, wo geschrieben steht: ,Ein Gott der Rache ist der Herr!'" Jetzt verstehe ich es. Jetzt fühle ich es, und jetzt weiß ich, worüber mein Herz so jubelt, wenn ich mich daran erinnere, dass wir unseren Gott schon seit Jahrtausenden so rufen: "EI Nekome Adonoj - Gott der Vergeltung, o Herr! Gott der Rache, erhebe Dich!"
Und jetzt, wo ich im Stande bin, das Leben und die Welt aus diesem besonders klaren Blickwinkel zu betrachten, wie er einem Menschen nur bei seltenen Gelegenheiten vor dem Tod geschenkt wird, kommt es mir vor, als sei dies der eigentümliche und charakteristische Unterschied zwischen unserem Gott und dem Gott, an den die Völker Europas glauben: Während unser Gott der Gott der Vergeltung ist und unsere Tora den Tod für die kleinsten Vergehen androht, wird gleichzeitig im Talmud erzählt, wie damals, als der Sanhedrin das höchste Gericht unseres Volkes war - als wir noch frei in unserem Land lebten -, wie damals ein einziges Todesurteil des Hohen Rats in siebzig Jahren genügte, dass man den Richtern nachrufen sollte: "Ihr Mörder!" Der Gott der Völker hingegen, den man "Gott der Liebe" ruft, hat geboten, jedes Geschöpf zu lieben, das nach Seinem Bild geschaffen ist; und doch mordet man uns ohne Erbarmen in Seinem Namen tagein, tagaus, schon seit bald zweitausend Jahren.
Ja, ich habe von Rache gesprochen. Wahre Rache haben wir nur selten gesehen; aber wenn wir sie erlebt haben, war sie so wohltuend und so süß, eine derart tiefe Befriedigung und ein solch gewaltiges Glück, dass es mir war, als hätte für mich ein ganz neues Leben begonnen. Ein Panzer war plötzlich in unsere Gasse eingebrochen und wurde von allen befestigten Häusern umher mit brennenden Benzinflaschen bombardiert. Keiner hat ihn jedoch getroffen, wie er sollte. Ungestört setzte der Panzer seinen Weg fort. Da habe ich mit meinen Freunden abgewartet, bis der Panzer buchstäblich unter unserer Nase vorbeirasselte, dann haben wir ihn alle auf einmal durch die halb vermauerten Fenster angegriffen. Sofort stand der Tank in Flammen, und sechs brennende Nazis sprangen aus ihm heraus. Ach, wie haben sie gebrannt! Sie haben gebrannt wie die Juden, die sie verbrannt haben, aber geschrieen haben sie mehr als die Juden. Die Juden schreien nicht. Sie nehmen den Tod wie einen Erlöser an. Das Warschauer Ghetto stirbt im Kampf, es geht schießend, kämpfend und brennend zugrunde - aber ohne Geschrei.
Ja, drei Flaschen Benzin habe ich noch übrig, und teuer sind sie mir wie dem Trinker der Wein. Wenn ich gleich eine von ihnen über mir ausleeren werde, will ich danach die Blätter, auf die ich diese Zeilen schreibe, in der leeren Flasche verschließen und sie hier zwischen den Ziegeln im Mauerwerk unter dem Fenster verstecken. Sollte sie einmal jemand finden und lesen, wird er vielleicht das Gefühl von einem Juden verstehen - einem von Millionen! -, der als Gottverlassener gestorben ist, von Gott, an den er so fest glaubt. Die beiden anderen Flaschen werde ich über den Köpfen der Banditen hochgehen lassen, wenn mein letzter Augenblick gekommen ist.
Zwölf Menschen waren wir in diesem Zimmer, als der Aufstand begann, und neun Tage haben wir gegen den Feind gekämpft. All meine elf Kameraden sind gefallen. Still sind sie gestorben. Sogar der kleine Bub, von dem nur Gott weiß, wie er hergekommen ist - vielleicht fünf Jahre mag er alt gewesen sein -, liegt jetzt als Toter neben mir. Auf seinem schönen Gesichtchen ruht ein Lächeln, wie es in den Zügen von Kindern aufscheint, wenn sie friedlich träumen. Sogar dieser kleine Junge ist so gelassen wie seine älteren Kameraden gestorben. Heute früh war es. Die meisten von uns lebten schon nicht mehr. Der Junge war auf den Berg von Toten geklettert, um durch den Fensterschlitz einen Blick nach draußen zu werfen. Einige Minuten stand er so neben mir. Dann fiel er plötzlich nach hinten, rollte über die Körper der Gefallenen hinunter und blieb liegen wie ein Stein. Zwischen zwei schwarzen Locken erschien ein Blutstropfen auf seiner kleinen, bleichen Stirn. Es war ein Kopfschuss.
Unser Haus ist eine der letzten Festungen des Ghettos. Bis gestern in der Früh, als der Feind mit den ersten Sonnenstrahlen sein höllisches Feuer gegen dieses Haus eröffnete, haben hier alle noch gelebt. Fünf waren zwar verwundet, aber sie haben doch weitergekämpft. Gestern und heute sind sie alle gefallen, einer nach dem anderen. Einer auf den anderen sind sie gefallen, nacheinander standen sie Wache und schossen, bis sie selbst erschossen wurden.
Munition habe ich außer den drei Flaschen Benzin keine mehr. Aus den drei oberen Etagen über mir wird noch heftig geschossen. Mir aber können sie keine Hilfe mehr schicken, denn das Treppenhaus scheint allem Anschein nach von Granaten zerstört. Ich glaube, bald kracht das ganze Haus zusammen. Ich liege auf dem Boden, während ich diese Zellen schreibe. Um mich herum: meine toten Freunde. Ich schaue in ihre Gesichter, und mir ist, als wäre Ironie über sie ausgegossen, ruhig und leicht spöttisch. Gerade als wollten sie mir sagen: Hab noch ein bisschen Geduld, du närrischer Mensch, nur ein paar Minuten noch, und auch dir wird alles klar werden. Dieselbe Miene umspielt besonders die Lippen des Kleinen, der sich wie ein Schlafender neben meiner rechten Hand ausstreckt. Sein kleiner Mund lächelt, als lache er innerlich. Und mir, der noch lebt und noch fühlt und noch denkt wie ein Lebewesen aus Fleisch und Blut, mir ist es, als lache er über mich. Als durchschaue er mich. Er lacht so still und vielsagend über mich, wie es für Menschen, die etwas wissen, typisch ist, wenn sie über Wissen mit Menschen reden, die gar nichts wissen, aber meinen, sie wüssten alles. Er weiß jetzt schon alles, das Bübchen, ihm ist schon alles klar. Er weiß sogar, warum er geboren wurde, wenn er doch so früh sterben musste, und warum er gestorben ist - und das nur fünf Jahre nach seiner Geburt. Und selbst wenn er es nicht weiß, weiß er doch, dass das Wissen oder das Nichtwissen darüber vollkommen unwichtig und unbedeutend ist im Licht der Offenbarung göttlicher Herrlichkeit in jener besseren Welt, wo er sich jetzt befindet - vielleicht in den Armen seiner ermordeten Eltern, zu denen er zurückgefunden hat.
In ein, zwei Stunden werde auch ich es wissen. Und wenn das Feuer nicht mein Gesicht verzehrt, wird ein ähnliches Lächeln nach meinem Tod vielleicht auch auf meinen Zügen ruhen. Aber noch lebe ich. Und da will ich vor meinem Tod zu meinem Gott noch einmal wie ein Lebender reden: wie ein einfacher, lebendiger Mensch, der die große, aber unglückliche Ehre hatte, ein Jude zu sein.
Ich bin stolz, dass ich ein Jude bin - nicht trotz der Beziehung, die die Welt zu uns hat, sondern gerade dieser Beziehung wegen. Ich würde mich schämen, ein Angehöriger der Völker zu sein, die jene Verbrecher geboren und erzogen haben, die die Taten verantworten müssen, die an uns verbrochen wurden.
Ja, ich bin stolz auf mein Judesein. Denn Jude zu sein ist eine Kunst. Jude zu sein ist schwer. Es ist keine Kunst, Engländer zu sein, ein Amerikaner oder ein Franzose. Es ist vielleicht leichter und bequemer, einer von ihnen zu sein, aber keineswegs ehrenhafter. Ja, es ist eine Ehre, ein Jude zu sein.
Ich glaube, Jude sein, das heißt: ein Kämpfer sein, ein ewiger Schwimmer gegen den brodelnden, verbrecherischen menschlichen Strom. Der Jude ist ein Streiter, ein Blutzeuge, ein Verhafteter Gottes: Sein Eigentum, heilig. Ihr, unsere Feinde, sagt, wir seien schlecht. Ich glaube aber, wir sind besser als ihr: feiner. Doch selbst wenn wir schlechter wären, hätte ich gern gesehen, wie ihr an unserer Stelle ausgesehen hättet.
Ich bin glücklich, zum unglücklichsten aller Völker der Welt zu gehören - dessen Tora das höchste Gesetz und die schönste Moral enthält. Jetzt ist diese Tora noch einmal mehr geheiligt und verewigt worden in der Art und Weise ihrer letzten Schwächung und Schändung durch die Feinde Gottes.
Judesein ist angeboren, eingefleischt, glaube ich. Zum Juden wird man wie zum Künstler geboren. Vom Judesein kann man sich nicht befreien. Das ist das göttliche Mal an uns, das uns als Sein auserwähltes Volk aussondert. Die das nicht verstehen, werden niemals den höheren Sinn unseres Martyriums begreifen. "Es gibt kein ganzeres Ding als ein zerbrochenes Herz", hat einmal ein großer Rabbi gesagt; und es gibt auch kein auserwählteres Volk als ein permanent gepeinigtes. Wenn ich nicht glauben könnte, dass Gott uns zu seinem auserwählten Volk bestimmt hat, so würde ich doch glauben, dass wir durch unsere Leiden auserwählt wurden.
Ich glaube an den Gott Israels, auch wenn Er alles getan hat, dass ich nicht an Ihn glauben soll. Ich glaube an Seine Gesetze, auch wenn ich Seine Taten nicht rechtfertigen kann. Jetzt ist meine Beziehung zu Ihm nicht mehr die eines Knechts zu seinem Herrn, sondern wie die eines Schülers zum Lehrer. Ich beuge mein Haupt vor Seiner Größe, aber werde die Rute nicht küssen, mit der Er mich schlägt. Ich habe Ihn lieb. Doch Seine Tora habe ich lieber. Selbst wenn ich mich in Ihm getäuscht hätte, Seine Tora würde ich weiter hüten. Gott heißt Religion. Seine Tora aber bedeutet eine Lebensweise! Und je mehr wir sterben für diese Lebensweisung, so unsterblicher wird sie werden.
Darum erlaube mir, Gott, vor meinem Tod, völlig frei von jeder Angst, ohne den geringsten Schrecken, in einer Lage absoluter innerer Ruhe und Sicherheit, Dich zur Rede zu stellen, ein letztes Mal in meinem Leben.
Du sagst, dass wir gesündigt haben? Aber natürlich! Und dafür werden wir bestraft? Auch das kann ich verstehen. Ich will aber, dass Du mir sagst, ob es irgendeine Sünde auf der Welt gibt, die eine solche Strafe verdient, wie wir sie bekommen haben!
Du sagst, Du wirst es unseren Feinden noch heimzahlen? Ich bin überzeugt, dass Du es ihnen erbarmungslos zurückzahlen wirst - gnadenlos. Auch daran zweifle ich nicht. Ich will aber, dass Du mir sagst, ob es überhaupt irgendeine Strafe auf der Welt geben kann, die im Stande ist, die Verbrechen zu sühnen, die gegen uns begangen wurden.
Nun sagst Du vielleicht, dass es jetzt keine Frage von Sünde und Strafe ist, sondern dass es so eben ist, wenn Du Dein Gesicht verhüllst und die Menschen ihren Trieben überlässt. Dann will ich Dich aber fragen, Herr, und diese Frage brennt in mir wie ein verzehrendes Feuer: Was noch, oh, sag es uns, was noch muss geschehen, damit Du Dein Gesicht vor der Welt wieder enthüllen wirst?
Ich will Dir klar und offen sagen, dass wir jetzt mehr als auf jeder früheren Stufe unseres unendlichen Leidensweges - wir, die Gepeinigten, die Geschändeten, die Erstickten, die lebendig Begrabenen und lebendig Verbrannten, wir, die Gedemütigten, die Verspotteten, die Verlachten, die zu Millionen Umgebrachten -, dass wir jetzt mehr als je zuvor das Recht haben zu wissen: Wo liegen die Grenzen Deiner Geduld?
Und noch etwas will ich Dir sagen: Du sollst den Strick nicht zu sehr anspannen! Denn er könnte - Gott verhüte! - noch reißen. Die Versuchung, in die Du uns geführt hast, ist so schwer, so unerträglich schwer, dass Du denjenigen Deines Volkes vergeben sollst und musst, die sich in ihrem Unglück und Zorn von Dir abgekehrt haben.
Vergib denen, die sich in ihrem Unglück von Dir abgekehrt haben, aber auch denjenigen Deines Volkes, die sich in ihrem Glück von Dir abgewandt haben. Du hast unser Leben in einen solch unendlich schrecklichen Kampf verwandelt, dass die Feiglinge unter uns versuchen mussten, ihm auszuweichen. Vor ihm davonzulaufen, wo sie gerade einen Ausweg erblickten. Schlag sie nicht dafür! Feiglinge schlägt man nicht, mit Feiglingen hat man Erbarmen. Herr, erbarme Dich ihrer mehr als unser!
Vergib auch denjenigen, die Deinen Namen gelästert haben: die anderen Göttern dienen gingen, die gleichgültig gegen Dich geworden sind. Du hast sie so sehr geprüft, dass sie nicht mehr glauben, dass Du ihr Vater bist, dass sie überhaupt einen Vater haben.
Ich sage Dir das alles so deutlich, weil ich an Dich glaube, weil ich mehr an Dich glaube als je zuvor - weil ich jetzt weiß, dass Du mein Gott bist. Denn Du bist doch nicht, Du kannst doch nicht der Gott jener sein, deren Taten der grauenvollste Beweis ihrer aggressiven Gottlosigkeit sind.
Denn wenn Du nicht mein Gott bist - wessen Gott bist Du dann? Der Gott der Mörder?
Wenn die, die mich hassen, die mich morden, so finster sind, so schlecht, wer bin dann ich - wenn nicht jemand, der etwas von Deinem Licht verkörpert und von Deiner Güte?
Ich kann Dich nicht loben für die Taten, die Du duldest. Ich segne und lobe Dich aber für Deine schiere Existenz, für Deine schreckliche Größe. Wie gewaltig muss sie sein, wenn sogar das, was jetzt geschieht, auf Dich keinen entscheidenden Eindruck macht?
Aber gerade, weil Du so groß bist und ich so klein, bitte ich Dich -warne ich Dich! - um Deines Namens willen: Hör auf, Deine Größe dadurch zu krönen, dass Du die Unglücklichen schlagen lässt!
Ich bitte Dich auch nicht, Du sollst die Schuldigen schlagen. Es liegt in der schrecklichen Logik der unvermeidlichen Geschehnisse, dass sie sich zum Schluss selber treffen werden - weil in unserem Tod das Gewissen der Welt getötet worden ist. Weil eine Welt gemordet wurde im Mord an Israel.
Die Welt wird sich auffressen in ihrem eigenen Bösen, in ihrem eigenen Blut wird sie ersaufen.
Die Mörder haben das Urteil über sich schon selbst gesprochen, und sie werden ihm nicht entrinnen. Du aber sprich Deinen Schuldspruch, doppelt schwer, über diejenigen, die den Mord verschweigen!
Über diejenigen, die den Mord mit ihren Lippen verurteilen, aber sich in ihren Herzen daran freuen.
Über diejenigen, die sich in ihren ruchlosen Herzen sagen: Ja, zu erklären, dass er schlecht sei, der Tyrann, gehört sich wohl - aber er tut auch für uns ein Stück Arbeit, für das wir ihm immer dankbar sein werden.
In Deiner Tora steht geschrieben, dass ein Dieb strenger bestraft werden muss als ein Räuber, obwohl der Dieb sein Opfer nicht überfällt und an Leib und Leben bedroht, sondern ihm nur heimlich sein Eigentum zu stehlen sucht.
Der Räuber überfällt sein Opfer am helllichten Tag. Er hat vor den Menschen so wenig Furcht wie vor Gott.
Der Dieb hingegen fürchtet die Menschen, Gott aber nicht. Darum soll seine Strafe härter sein als die für den Räuber. Es macht mir also nichts aus, wenn Du die Mörder wie Räuber behandelst, weil ihr Verhalten gegenüber Dir und uns dasselbe ist. Aus ihren Morden und Verbrechen machen sie kein Geheimnis.
Die aber, die das Morden verschweigen, diejenigen, die Dich nicht fürchten, aber fürchten, was die Menschen wohl sagen werden (Narren, sie wissen nicht, dass die Menschen gar nichts sagen werden!), die, die ihr Mitleid mit dem Ertrinkenden bekunden und sich weigern, ihn zu retten, die, oh, die, beschwör ich Dich, mein Gott, sollst Du bestrafen wie die Diebe!
Der Tod kann nicht mehr warten, und ich muss mit dem Schreiben zu Ende kommen. Aus den Stockwerken über mir wird das Feuer mit jeder Minute schwächer. Jetzt fallen die letzten Verteidiger unserer Festung, und mit ihnen fällt und stirbt das große, das schöne, das gottesfürchtige jüdische Warschau. Jetzt geht die Sonne unter, und Gott sei Dank werde ich sie nie wiedersehen. Der Feuerschein des Infernos flackert durchs Fenster, und das Stückchen Himmel, das ich sehe, ist von flammendem Rot überflutet wie ein Wasserfall aus Blut. Eine Stunde, höchstens noch, und ich werde bei meiner Familie sein - und mit den Millionen anderer Umgekommener meines Volkes in jener besseren Welt, in der keine Zweifel mehr sind und wo nur noch die Hand Gottes herrscht.
Ich sterbe ruhig, friedlich, aber nicht beruhigt, nicht befriedigt; besiegt, geschlagen, aber nicht versklavt; bitter, aber nicht enttäuscht. Ein Gläubiger und Glaubender, kein Schuldner und Bittsteller, nicht als Bittender, nicht als Betender. Ein Liebhaber Gottes, doch nicht Sein blinder Amen-Sager.
Ich bin Ihm nachgegangen, auch wenn Er mich von sich gestoßen hat. Ich bin Seinen Geboten gefolgt, auch wenn Er mich dafür geschlagen hat. Ich habe Ihn lieb gehabt, ich bin in Ihn verliebt gewesen und geblieben, auch wenn Er mich bis in den Staub erniedrigt, zu Tode gepeinigt, Gespött und Schande preisgegeben hat.
Mein Rabbi pflegte mir immer wieder die Geschichte von einem Juden zu erzählen, der mit Frau und Kind der spanischen Inquisition entkommen war und sich auf einem kleinen Boot über stürmische See zu einer steinigen Insel durchgeschlagen hatte. Da zuckte ein Blitz auf und erschlug die Frau. Da kam ein Sturmwind und wirbelte sein Kind ins Meer. Allein, elend, hinausgeworfen wie ein Stein, nackt und barfuß, vom Sturm gepeitscht, von Donnern und Blitzen geschreckt, die Haare zerzaust und die Hände zu Gott erhoben, ist der Jude seinen Weg weitergegangen auf die wüste Felseninsel und hat sich so an Gott gewandt:
"Gott Israels", sagte er, "ich bin hierher geflohen, dass ich Dir ungestört dienen kann: um Deine Gebote zu tun und Deinen Namen zu heiligen. Du aber tust alles, dass ich an Dich nicht glauben soll. Wenn Du aber meinen solltest, dass es Dir gelingen wird, mich mit diesen Versuchungen vom richtigen Weg abzubringen, ruf ich Dir zu, mein Gott und Gott meiner Eltern, dass es Dir alles nicht helfen wird. Magst Du mich auch beleidigen, magst Du mich auch züchtigen, magst Du mir auch wegnehmen das Teuerste und Beste, das ich habe auf der Welt, und mich zu Tode peinigen - ich werde immer an Dich glauben. Ich werde Dich immer lieb haben, immer - Dir selbst zum Trotz!"
Und das sind auch meine letzten Worte an Dich, mein zorniger Gott: Es wird Dir gar nichts nützen! Du hast alles getan, dass ich an Dir irre werde, dass ich nicht an Dich glaube. Ich sterbe aber gerade so, wie ich gelebt habe, als unbeirrbar an Dich Glaubender.
Gelobt soll sein auf ewig der Gott der Toten, der Gott der Vergeltung, der Wahrheit und des Gerichts, der bald sein Gesicht wieder vor der Welt enthüllen wird und mit Seiner allmächtigen Stimme ihre Fundamente erschüttert.
"Schma Isroel! - Höre Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr ist Einer! In Deine Hände, o Herr, empfehle ich meinen Geist!"

(Aus dem Jiddischen von Paul Badde. Gekürzte Fassung)


https://www.welt.de/print-welt/article592745/Jossel-Rakovers-Wendung-zu-Gott.html
 

Dienstag, 28. Februar 2017

BALL IM SAVOY - Eine Jazzoper

Der Ball im Savoy eine Operette in zwei Akten von Paul Abraham habe ich heute Abend in der Komischen Oper gesehen, drei und eine halbe Stunde, von denen ich vielleicht eine halbe Stunde hätte missen können. Der Regisseur liebt seine Tänzer, was ihn ehrt, aber das harte "kill your darlings" gilt auch für sie.

Drei Frauen, wilde Weiber, tragen den Abend auf ihren schönen Schultern, Dagmar Manzel, die Grand Dame wider Willen, ganz leicht, ganz klug, ganz Frau, wunderbar. Katharine Mehrling, klein und zart mit Riesenstimme und scharfem Witz, und Agnes Zwierko eine polnische Spiel-Bombe. Und ein Mann, Helmut Baumann, Jahrgang 39, man fasst es nicht, leichtfüssig und charmant und auf den Punkt. Einmal dreht er unzählige Pirouetten und nur wenn er später seine Jacke ein wenig mühsam aufhebt, bemerkt man überrascht, dies ist ein älterer Mann.



Fritzy Massary, Oscar Strauss, Ernst Busch, Paul Dessau, Hanns Eisler, Paul Hindemith, Friedrich Hollaender, Otto Klemperer, Georg Kreissler, Joseph Schmidt, Arnold Schönberg, Kurt Stolz, Kurt Weill, eine völlig unvollständige Liste von Musikern, die unser Land wider Willen verlassen mußten, um der sicheren Vernichtung zu entgehen.


Paul Abraham, auch Ábrahám Pál geboren am 2. November 1892 in Sombor, Königreich Ungarn, Österreich-Ungarn; gestorben am 6. Mai 1960 in Hamburg, war ein ungarisch-deutscher Komponist jüdischer Abstammung. Er schrieb vornehmlich Operetten.  
So beginnt sein Wiki-Eintrag, knapp und kurz.

Vor der Machtübernahme der NSDAP hieß das Haus in dem sich heute die Komische Oper befindet "Metropol-Theater", es gehörte den Brüdern Rotter, die eigentlich Schaie hießen und Juden waren. Ihr Chefdirigent war Paul Abraham, die Uraufführung seines "Ball im Savoy" fand am 23. Dezember 1932 im gemieteten Großen Schauspielhaus statt, weil im Mutterhaus eine Spoliansky-Revue lief.
1933 war Schluß, Aus, Ende für ihn und viele, sehr viele andere, Abraham floh erst zurück nach Ungarn, dann nach Paris, später über Kuba in die USA. Dort verlor er durch eine zu spät erkannte Syphillis-Erkrankung den Verstand und starb, verarmt und fast vergessen, nach jahrzehntelanger Unterbringung in psychiatrischen Kliniken, erst in New York, dann durch die Bemühung von Freunden mit gutem Gedächtnis, in Hamburg, im Jahr 1960. Er wurde auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt. 
1946 wurde Abraham auf dem Broadway aufgegriffen, als er ein unsichtbares Orchester, das kaiserlich ungarische Sinfonie Orchester, dirigierte.
Barry Koski nannte den fliehenden, kranken Mann einen Dibbuk, einen Untoten. 
"Die Annahme, das ein Verbleiben in Deutschland den Antragsteller früher der ärztlichen Begutachtung zugeführt hätte, ist nach Ausführungen in dem fachärztlichen Gutachten nicht wahrscheinlich."
37.000 Mark Entschädigung durch die BRD wurden Abraham nach einigem Rechtsstreit zugesprochen. 

Sonntag, 26. Februar 2017

EIN KAFFE IM KIEZ

Prenzlauer Berg, die Polizei verhaftet zu sechst unter hysterischem Blaulicht einen laut brüllenden Mann. Auf der anderen Strassenseite ein mittelgroßer gemütlicher Raum mit Ladenfenster, eine Theke, zusammengewürfelte Sitzgelegenheiten, guter Kaffee. Jeden Donnerstag werden hier DEFA-Filmean die Wand geworfen, das Publikum ist altersdurchmischt mit leichter Schlagseite nach oben, und kommt "bis aus Marzahn". Und an einem Samstag monatlich werden Theateraufzeichnungen gezeigt, von Schroth, Weckwerth, Ruprecht, Tom Schilling, Karge/Langhoff, Alex Lang und anderen. Hier ist ein Liebhaber am Werk.


Gestern war es knackend voll. Soll meist so sein, also vorbestellen! Ich habe mir dort einen Film angesehen, den ich vor 27 Jahren gedreht hatte und nie gesehen habe. Wie sehr merkwürdig. Das Jahr war 1989, die Vorlage von Christa Wolf, der Regisseur Peter Vogel und der Titel ist "Selbstversuch". Das DDR-Fernsehen hat ihn 1990 ausgestrahlt, da hatte ich Anderes im Kopf.
Wie sehr merkwürdig. 
Die Lieblingsnichte sagte: "Der Film hatte so eine bedrückende Stimmung, aber das sollte so sein." Sie ist schlau.

http://www.zeit.de/1990/20/der-neue-mann 

KAFFE

Immanuelkirchstraße 6
10405 Berlin | Prenzlauer Berg
Öffnungszeiten | Opening Hours
Montag bis Freitag : 7:30 - 19:00
Monday to Friday
Samstag | Saturday : 9:00 - 19:00
Sonntag | Sunday : 9:00 - 19:00


http://www.kaffe-kaffe.de/

Donnerstag, 23. Februar 2017

Ironie, oder ich meine nicht wirklich, was ich denke.

Wiki sagt: Ironie (altgriechisch εἰρωνεία eirōneía, wörtlich „Verstellung, Vortäuschung“) bezeichnet zunächst eine rhetorische Figur. Dabei behauptet der Sprecher etwas, das seiner wahren Einstellung oder Überzeugung nicht entspricht, diese jedoch für ein bestimmtes Publikum ganz oder teilweise durchscheinen lässt. Sie kann dazu dienen, sich von den zitierten Haltungen zu distanzieren oder sie in polemischer Absicht gegen angesprochene Personen zu wenden.

IRONIE

Dies ist ironisch gemeint.

Ironie scheint mir der billigste Weg, Überlegenheit zu demonstrieren und gleichzeitig ohne wahres Risiko die eigene große Angst zu kaschieren. Distanz um fast jeden Preis. Ironie ist frech, ohne den Arsch in der Hose zu haben, offen zuzugeben, was ich denke. Sie ist die guterzogene Form des Sarksmus. Ich tue niemandem weh, schaffe mir aber dennoch das gute Gefühl, nicht zu lügen. Ironie ist billig und letztlich eine Schwächung des Autoimmunsystems, denn irgendwann werde ich nicht mehr wissen, wo meine Feigheit anfängt und die Ironie aufhört. Ups, ist da ein echtes Gefühl, soll ich es rauslassen oder nicht, nein, lieber überspielen, ironisieren. Ironie ist eine der Krankheiten unserer Zeit. Und so wie eine Hungersnot Veganer überwältigen würde, wäre Ironie hilflos in der Gegenwart wirklicher Not. Der Vater George Taboris soll mit der den Taboris eigenen Höflichkeit beim Eintritt in die Gaskammer gesagt haben: "Bitte nach Ihnen, Herr Mandelstam." Fuck your irony! Ich halte mich raus, aber habe meine Meinung, wenn auch gefällig zweideutig formuliert. No pain, no gain, gilt für die anderen, ich entkomme unbeschadet und bin doch im Recht.

Witz ist panisches, schnelles Denken in die rettende Überdrehung.  
Zynismus versucht Kältepflaster auf schwärende Wunden zu legen.
Humor ist, wenn ich trotzdem lache. Ja, ich bin auf die Fresse gefallen und es war Absicht, ich wollte mir die Zähne ausschlagen, weil ich mummelnd lustiger klinge.
Spaß verlangt nach Gelächter.
Lustigkeit verläppert meist im gemeinen Frohsinn.
Satire übertreibt, um ehrlich bleiben zu können.
Sarkasmus oder Spott und Hohn vom altgriechischen: σαρκασμός sarkasmós "die Zerfleischung, der beißende Spott", von altgriechisch sarkazein "sich das Maul zerreißen, zerfleischen, verhöhnen", von σάρξ sarx "das (rohe) Fleisch". Sarkasmus bezahlt mit barer Münze, um den hohen Preis des Mitgefühls.

Dienstag, 21. Februar 2017

Ich trage einen großen Namen - Und was mache ich nun damit?

Ich trage einen großen Namen ist eine deutsche Fernsehratesendung, die seit 1977 ausgestrahlt wird. Der Sendetermin im SWR Fernsehen ist sonntags um 18:15 Uhr.  
Heute wurde, so glaube ich, die 593. Sendung aufgezeichnet.

Also, ich war in Baden-Baden beim SWR und habe vor Kameras über meine Oma erzählt, bzw., erst mußten ein paar Leuten erraten, wer mein berühmter Verwandter sei, dann folgte das kurze Interview.
Und da sie immer mehrere Folgen auf einmal aufzeichnen, saßen heute beim Mittagessen vielerlei Kinder, Enkel, Urenkel und Ur-Ur-Ur-Ur-Urenkel, alles Leute zwischen 40 und 70, die einen Besonderen, in meinem Fall hätte ich drei zu bieten, in der Verwandtschaft haben. Bei einem ist 'derjenige welche' schon im 16. Jahrhundert gestorben, bei einer anderen gerade erst kürzlich, ein anderer ist seinem Vorfahren wie aus dem Gesicht geschnitten. Komische Gruppe, mit mir mittendrin.

 © wahrscheinlich Vera Tenschert

Ich hatte eine tolle Großmutter, freundlich, direkt, klar, schlau. Sie konnte kochen, Gäste bewirten, Pilze sammeln, lange Strecken schwimmen. Sie hat sich mit mir ernsthaft und respektvoll unterhalten, ein äußerst wichtiges Erlebnis für ein Kind. Sie war sehr schön und hatte die coolsten Klamotten, mitten in den 70ern trug sie, zumindestens am Wochenende, ausgewaschene Leinenröcke und lose Blusen. Ihre Sprachmelodie ist mir bis heute angenehm, ein Vorkriegs-Wienerisch. Sie war eine hochbegabte Schauspielerin im Deutschland der 20er Jahre und dann war sie viele Jahre lang ein Flüchtling ohne Arbeit, aber mit zwei Kindern und einem nicht unanstrengenden Mann. Und dann war sie Intendantin und Protagonistin des Berliner Ensembles. Und halt auch meine Großmutter.
Es kam die erwartete Frage nach der Strenge mit der sie Brechts Werke verwaltete und ich hatte plötzlich dieses Bild von einer Familie in einem unsicheren Ruderboot auf hoher See. 
1933, der Reichstag brennt, Herr Brecht kommt nach Hause und dringt auf sofortige Flucht. Die Kinder müssen nachkommen. Meine Mutter wird unter der Anklage des Hochverrats, sie war drei Jahre alt, von einer gütigen Calvinistin aus dem feindlichen Land geschmuggelt. Am 27. Februar 1933 war sie gerade auf Besuch beim Großvater in Augsburg.
In Österreich lehnten es Weigels Eltern ab mitzukommen, sie seien gute Österreicher und hätten nichts zu fürchten, Theresienstadt hat sie wenige Jahre später auf furchtbarste Art eines Schlimmeren belehrt. Die vierköpfige Familie geht nach Zürich, darf nicht bleiben, Dänemark beherbergt sie für drei Jahre, da hatte meine Mutter noch Schulfreunde, später nicht mehr, es folgen Zwischenaufenthalte in Schweden und Finnland, aber Hitlers Armee rückt näher, über die UdSSR hilft der kleinen Gruppe ein rettendes Visum in die USA, nach Los Angeles. Aber immer wenig Arbeit, weniger Geld. Zwei Kinder mußten ernährt und bekleidet, ein schreibender Ehemann mit einem Arbeitszimmer versorgt werden. Meine Mama, nunmehr acht Jahre alt, findet sich als deutsche Jüdin in Los Angeles wieder, Deutschland war der Feind und Juden sowieso unbeliebt. Es geht fast nicht schlimmer. Dass aus diesen Jahren ein Gefühl von Beschützenmüssen entsteht, ist mir einleuchtend. Meine Großmutter durfte nicht spielen, der Großvater schrieb für die Schublade, ihre Kinder waren einsam.
Wenn ich heute über Flüchtlinge lese, sind das Menschen ohne individuelles Gesicht, aber sie haben ein Leben vor der Flucht, sie haben Träume, Talente. Manche sind Arschlöcher, manche von tumber Religiösität, aber viele sind nichts anderes als hoffend.