Dienstag, 5. August 2014

"Napalm Girl" - ein Bild - Kinder im Krieg


Wahrscheinlich das erste Zeitungsphoto an das ich mich bewusst erinnere. 

1972, der Vietnamkrieg, in direktem Anschluß an den Indochinakrieg 1946–54, geht in sein achtzehntes Jahr. 
Ein Dorf, das von der nordvietnamesischen Armee okkupiert worden war, wird von südvietnamesischen Fliegern mit Napalm bombardiert. Kim Phuc, neun Jahre alt, ist mit ihrer Familie auf der Flucht. Es wird behauptet, ein Flieger hätte die Gruppe für Soldaten gehalten und sie deshalb beschossen. Zwei ihrer Cousins sterben bei diesem Angriff.
Kim Phuc ist nackt, weil ihre Kleidung brannte, sie hat sie sich vom Körper gerissen. Sie sagt später, sie hätte immer wieder nóng quá, nóng quá - zu heiß, zu heiß, geschrien. 

Der Photograph Nick Ut schaffte sie und ihre Verwandten ins nächste Krankenhaus, dreissig Prozent von Kim Phucs Haut waren verbrannt, ihre Behandlung dort dauerte über zwei Jahre und erst 1982, nach einer erneuten Operation in Deutschland, konnte sie sich wieder wirklich bewegen.


8. Juni 1972 außerhalb des Dorfes Trang Bang
von links nach rechts: die Brüder Phan Thanh Tam, Phan Thanh Phouc, Kim Phuc und ihr Cousin Ho Van Bon and Ho Thi Ting
© Nick Ut
Ut bekam 1973 den Pulitzerpreis für dieses Photo.

Napalm ist das Kurzwort für Naphthensäuren und Palmitinsäure, es
ist eine Brandwaffe mit dem Hauptbestandteil Benzin, das mit Hilfe von Zusatzstoffen geliert wird. So wird erreicht, dass Napalm als zähflüssige, klebrige Masse am Ziel haftet und eine starke Brandwirkung entwickelt.

Bereits kleine Spritzer brennenden Napalms verursachen schwere und schlecht heilende Verbrennungen auf der Haut. Wegen seiner hydrophoben Eigenschaften kann Napalm zudem nur schlecht mit Wasser gelöscht oder von der Haut abgewaschen werden. Auch bei einem nicht direkten Treffer wirkt Napalm äußerst zerstörerisch gegen Lebewesen und hitzeempfindliches Material. Je nach Zusammensetzung erreicht es eine Verbrennungstemperatur von 800 bis 1200 °C. (Wiki)


Unbeschnittene Variante des Photos

Zwölf Reporter, die den Luftangriff auf Trang Bang am 8. Juni 1972 fotografieren.
In den nächsten Sekunden gerät ihnen die Gruppe um Kim Phúc in den Blick.
© Bettmann/CORBIS, Photograph unbekannt

 Etwas später
 
Viel später

Heute lebt Kim Phuc als Ärztin und Mutter zweier Kinder in Kanada.

Quelle:


Gerhard Paul
Die Geschichte hinter dem Foto
Authentizität, Ikonisierung und Überschreibung
eines Bildes aus dem Vietnamkrieg

http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208413/default.aspx

Das Mädchen und das Photo 
Regie Marc Wiese, WDR/ARTE, Deutschland 2009, 53 Min.


Kinderkreuzzug 1939



In Polen, im Jahr Neununddreißig

War eine blutige Schlacht

Die hat viele Städte und Dörfer

Zu einer Wildnis gemacht.



Die Schwester verlor den Bruder

Die Frau den Mann im Heer

Zwischen Feuer und Trümmerstätte

Fand das Kind die Eltern nicht mehr.

 

Aus Polen ist nichts mehr gekommen

Nicht Brief noch Zeitungsbericht

Doch in den östlichen Ländern

Läuft eine seltsame Geschicht.



Schnee fiel, als man sich’s erzählte

In einer östlichen Stadt

Von einem Kinderkreuzzug

Der in Polen begonnen hat.



Da trippelten Kinder hungernd

In Trüpplein hinab die Chausseen

Und nahmen mit sich andere, die

In zerschossenen Dörfern stehn.



Sie wollten entrinnen den Schlachten

Dem ganzen Nachtmahr

Und eines Tages kommen

In ein Land, wo Frieden war.



Da war ein kleiner Führer

Der hat sie aufgericht’.

Er hatte eine große Sorge:

Den Weg, den wusste er nicht.



Eine Elfjährige schleppte

Einen Jungen von vier Jahr

Hatte alles für eine Mutter

Nur nicht ein Land, wo Frieden war.



Ein kleiner Jude marschierte im Trupp

Mit einem samtenen Kragen

Der war das weißeste Brot gewohnt

Und hat sich gut geschlagen.



Und zwei Brüder kamen mit

Die waren große Strategen

Stürmten eine leere Bauernhütt

Und räumten sie nur vor dem Regen.



Es ging ein dünner Grauer mit

Hielt sich abseits in der Landschaft

Und trug an einer schrecklichen Schuld:

Er kam aus einer Nazigesandtschaft.



Da war unter ihnen ein Musiker

Der fand eine Trommel in einem zerschossenen Dorfladen

Und durfte sie nicht schlagen

Das hätt sie verraten.



Und da war ein Hund

Gefangen zum Schlachten

mitgenommen als Esser

Weil sie’s nicht übers Herz brachten.



Da war auch eine Schule

Und ein kleiner Lehrer für Kalligraphie

Und ein Schüler an einer zerschossenen Tankwand

Lernte schreiben bis zu FRIE…



Da war auch ein Konzert:

An einem lauten Winterbach

Durfte einer die Trommel schlagen

Da wurd er nicht vernommen, ach.
 
Da war auch eine Liebe.

Sie war zwölf, er war fünfzehn Jahr.

In einem zerschossenen Hofe

Kämmte sie ihm sein Haar.



Die Liebe konnt nicht bestehen

Es kam zu große Kält:

Wie sollen die Bäumchen blühen

Wenn so viel Schnee drauf fällt?



Da war auch ein Krieg

Denn es gab noch eine andre Kinderschar

Und der Krieg ging nur zu Ende

Weil es sinnlos war.



Doch als der Krieg noch raste

Um ein zerschossenes Bahnwärterhaus

Da ging, wie es heißt, der einen Partei

Plötzlich das Essen aus.



Und als die andere Partei das erfuhr

Da schickte sie aus einen Mann

Mit einem Sack Kartoffeln, weil

Man ohne Essen nicht kämpfen kann.



Da war auch ein Gericht

Und brannten zwei Kerzenlichter

Und war ein peinliches Verhör.

Verurteilt wurde der Richter.



Da war auch eine Hilfe

(Hilfe hat nie geschadet)

Eine Dienstmagd hat ihnen gezeigt

Wie man ein Kleines badet



Sie hatte leider nur zwei Stunden

Ihnen beizubringen

Mußte  ihrer Herrschaft

Die Betten nachbringen.



Da war auch ein Begräbnis

Eines Jungen mit samtenem Kragen

Der wurde von zwei Deutschen

Und zwei Polen zu Grabe getragen.
 
Protestant, Katholik und Nazi war da

Ihn der Erde einzuhändigen

Und zum Schluß sprach ein kleiner Sozialist

Von der Zukunft der Lebendigen



So gab es Glaube und Hoffnung

Nur nicht Fleisch und Brot

Und keiner schelt sie mir, wenn sie was stahln

Der ihnen nicht Essen bot.



Und keiner schelt mir den armen Mann

Der sie nicht zu Tische lud:

Gleich ein halbes Hundert, da handelt es sich

Um Mehl, nicht um Opfermut.



Findet man zwei oder sogar drei

Tut man gern was dafür

Aber wenn es so viele sind

Schließt man seine Tür.



In einem zerschossenen Bauernhof

Haben sie Mehl gefunden.

Eine Elfjährige band sich die Schürze um

Und backte sieben Stunden.



Der Teig war gut gerühret

Das Feuerholz gut gehackt

Das Brot ist nicht aufgegangen

Sie wussten nicht, wie man Brot backt.



Sie zogen vornehmlich nach Süden.

Süden ist, wo die Sonn

Mittags um zwölf Uhr steht

Gradaus davon.



Sie fanden zwar einen Soldaten

Verwundet im Tannengries.

Sie pflegten ihn sieben Tage

Damit er den Weg ihnen wies.



Er sagte ihnen: Nach Bilgoray!

Muß stark gefiebert haben

Und starb ihnen weg am achten Tag.

Sie haben ihn auch begraben.



Und da gab es ja Wegweiser

Wenn auch vom Schnee verweht

Nur zeigten sie nicht mehr die Richtung an

Sondern waren umgedreht.



Das war nicht etwa ein grausamer Spaß

Sondern aus militärischen Gründen

Und als sie suchten Bilgoray

Konnten sie es nicht finden.



Sie standen um ihren Führer

Der sah in die Schneeluft hinein

Und deutete mit der kleinen Hand

Und sagte: es muß dort sein.



Einmal, nachts. sahen sie ein Feuer

Da gingen sie nicht hin.

Einmal rollten drei Tanks vorbei

Da waren Menschen drin.



Einmal kamen sie an eine Stadt

Da machten sie einen Bogen

Bis sie daran vorüber waren

Sind sie nur nachts weitergezogen.



Wo einst das südöstliche Polen war

Bei starkem Schneewehn

Hat man die fünfundfünfzig

Zuletzt gesehn.



Wenn ich die Augen schließe

Seh ich sie wandern

Von einem zerschossenen Bauerngehöft

Zu einem zerschossenen andern.



Über ihnen, in den Wolken oben

Seh ich andre Züge, neue, große!

Mühsam wandernd gegen kalte Winde

Heimatlose, Richtunglose.



Suchend nach dem Land mit Frieden

Ohne Donner, ohne Feuer

Nicht wie das, aus dem sie kommen

Und der Zug wird ungeheuer.

  
Und er scheint mir durch den Dämmer

Bald schon gar nicht mehr derselbe:

Andere Gesichtlein seh ich

Spanische, französische, gelbe!

  
In Polen, in jenem Januar

Wurde ein Hund gefangen

Der hatte um seinen mageren Hals

Eine Tafel aus Pappe hangen.



Darauf stand: BITTE  UM HILFE!

WIR WISSEN DEN WEG NICHT MEHR.

WIR SIND FÜNFUNDFÜNFZIG

DER HUND FÜHRT EUCH HER.

 
WENN IHR NICHT KOMMEN KÖNNT

JAGT IHN WEG!

SCHIESST NICHT AUF IHN

NUR ER WEISS DEN FLECK.



Die Schrift war eine Kinderhand.

Bauern haben sie gelesen.

Seitdem sind eineinhalb Jahre um.

Der Hund ist verhungert gewesen.


https://www.youtube.com/watch?v=R88KlC26Bo4&sns=em

Ich bin jünger als ihr denkt.


Ganz manchmal, bei der Verrichtung gewöhnlicher "erwachsener" Tätigkeiten, überfällt mich plötzlich das Gefühl, ich sei eine Hochstaplerin.
Ich bezahle meine Miete, verhandele Verträge, inszeniere Theaterstücke, gebe kluge Ratschläge und keiner merkt, dass ich in Wahrheit gar keine Ahnung habe. Ich mag wie eine erwartungsgemäße Überfünfzigjährige aussehen, aber das ist nur Fassade. Ich trickse mich sozusagen durch das Erwachsenenleben, hoffend, das keiner merkt, dass ich nur so tue als ob ich alt und wissend wäre.

Eine Freundin hat mir heute Abend einige ihrer alten Photoalben mit ganz wunderbaren Kinderphotos gezeigt. 

Photoalben? Verzierte Lederbände, in die einstmals analoge Photographien eingeklebt wurden, meist ordentlich datiert und mit handschriftlicher Benennung der abgebildeten Menschen. Die Bilder sind gelegentlich unscharf und für DDR-Bürger bis in die späten 60er meist schwarz-weiß. 

Ich kenne meine Freundin schon lang, aber heute habe ich eine Andere gesehen, die tief innen in dieser Frau steckt, ganz und gar unabhängig von ihrem realen biologischen Alter. Natürlich hat sie inzwischen viel erlebt, gelebt, sich verändert, verwandelt und doch, da bin ich mir sicher, irgendwo ganz tief drinnen sitzt ein  Mädchen, unsicher, neugierig, verquer, siegesgewiss und mit riesigen Erwartungen an das Leben.

Da all meine Kinderbilder seit sieben Jahren, gemeinsam mit meinen Möbeln, Büchern und anderem weltlichen Tand in einem Container in Rostock liegen, kann ich nur dieses Photo zur persönlichen Illustrierung meiner Behauptung anbieten.

Sollte ich in einer künftigen Diskussion auf diesen Beitrag angesprochen werden, werde ich dies alles ableugnen!
Meine Oma, meine Schwester und ich, vermutlich acht Jahre alt.


Montag, 4. August 2014

Herta Müller - Ganz kurze Autobiographie

 

Debatte um Ehrenbürgerwürde für Herta Müller entbrannt

Der CDU-Politiker Michael Braun setzt sich dafür ein, dass die Nobelpreisträgerin Herta Müller die Ehrenbürgerwürde Berlins verliehen bekommt – doch der Senat hat sich offenbar dagegen entschieden.

Berliner Morgenpost vom 4.8.2014
© Berliner Morgenpost 2014 - Alle Rechte vorbehalten


Herta Müller
1953 bin ich in Nitzkydorf geboren, das Jahr, in dem Stalin körperlich starb – geistig lebte er noch viele Jahre. Das Dorf liegt im rumänischen Banat, zwei Autostunden zu Belgrad oder Budapest. Eine Bauernbevölkerung, weiße, rosa, hellblaue Giebel – oder Triangelhäuser in symmetrisch laufenden Straßen. Mein Vater haßte Feldarbeit und wurde, als er 1945 aus der SS nach Hause kam, LKW-Fahrer und Alkoholiker. Auf Feldwegen geht das zusammen. Meine Mutter war und blieb Bäuerin auf den Mais- und Sonnenblumenfeldern. Mais ist für mich die sozialistische Pflanze schlechthin: er hat Fahnen, wächst in Kolonnen, raubt den Blick, und seine Blätter schneiden bei der Arbeit in die Hände. Im Maisfeld wird man an einem einzigen Tag vom Kind zum Greis. So erkläre ich mir, daß meine Mutter schon mit Ende zwanzig für mich eine alte Frau war.
Sturheit in der Schufterei, Ethnozentrismus und keinerlei Reue für die Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus – es sind die drei Grundeigenschaften dieser deutschen Minderheit, aus der ich komme. Ich wurde fürs Weiterführen dieses Lebensmusters erzogen: Waschen, Putzen, Kühemelken, Strümpfe stopfen. Nebenbei fiel der Satz: „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, wäre hier Deutschland.“ Aber um welchen Preis?
Bücher gab es keine im Haus, nur Gebetbücher und von meinem im Krieg gefallenen Nazionkel Die deutsche Lebensschule.
Von Frühjahr bis Spätherbst mußte ich Kühe hüten im Flußtal. Das Tal war zu groß. Das Wort „Einsamkeit“ gibt es im banater Dialekt nicht, also war ich das Adjektiv „allein“, und das spricht sich im Dialekt „alleenig“ aus – das klingt wie „wenig“. Aus diesem Tal weiß ich, daß Pflanzen die Einsamkeit verkleinern, weil sie stehen. Und daß Tiere sie vergrößern, weil sie gehen. Und daß Wolken am Himmel das Gespür zu groß machen und den Verstand zu klein.




Herta Müller 1972 Abiturphoto
Mit 15 ging ich aufs Gymnasium nach Temeswar und mußte einsehen, daß diese deutsch-dörfliche Erziehung 30 km weiter, in der Stadt, nichts taugte. Daß ich dies Dorf nie mochte, wurde mir klar, dennoch hatte ich zwei Jahre großes Heimweh – das ist kein Widerspruch. Ich lernte schnell Rumänisch, wollte ein Stadtmensch sein. Ich begann Bücher zu lesen. Das wichtigste: Eugen Kogons Der SS-Staat. Ich las das Buch mit Angst, daß der Name meines Vaters in der nächsten Zeile steht, weil er mir nichts vom Krieg erzählte, die Rumäniendeutschen aber als KZ-Wächter in dem Buch vorkamen. Durch das Buch begriff ich aber auch, daß ich jetzt so alt bin wie mein Vater als SS-Soldat und das Land um mich herum eine andere Art Diktatur ist.
Nach dem Gymnasium studierte ich Germanistik und Rumänistik. Ich stieß auf Gleichaltrige, die viel lasen und selber schrieben. Sie wurden meine engsten Freunde und waren bereits in den Fängen des Geheimdienstes. Denn sie hatten die „Aktionsgruppe Banat“ gegründet und ein Programm formuliert, das die dienende Literatur jeder Couleur ablehnte: die Heimatliteratur, die Nazi- und Stalindienerei, den sozialistischen Realismus. Statt dessen verlangten sie den kritischen Blick und individuelle, moralische Verantwortung als Voraussetzungen fürs Schreiben. Das war ein Affront gegen die meisten Schriftsteller im Land und gegen das Regime. Es folgten Verhöre, Haussuchungen, Exmatrikulation von der Uni und Verhaftungen. Die Gruppe wurde zerschlagen. Da ich selber nicht schrieb, beäugte man mich schief, man tat mir noch nichts.
Nach dem Studium wurde ich Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik. Mein Vater starb, meine erste Ehe war dahin, ich begann, um zu begreifen, wer ich bin, die Niederungen zu schreiben. Und der Geheimdienst begann seine Besuche in der Fabrik: Drohungen, auch mit dem Tod. Nach einer Woche zeigte sich, man wollte mich weich machen, ich sollte eine IM-Erklärung schreiben, der Geheimdienstler diktierte. Ich weigerte mich und wurde entlassen und hatte ab dem Tag nur wenige Tage ohne Schikanen. Ohne Arbeit gehörte ich zu den „parasitären Elementen“ und dafür gab’s Zwangsarbeit oder Gefängnis. Man drohte mit beidem, ließ mich aber frei herumlaufen.
Vier Jahre lag Niederungen bei einem Bukarester Verlag, 1982 erschien das Buch von der Zensur verstümmelt. Zwei Jahre später erschien es im West-Berliner Rotbuch Verlag, es war mir gelungen, das Manuskript in den Westen schmuggeln zu lassen. Die Literaturpreise in Deutschland veränderten mein Leben. Ich durfte vier Mal zu Preisverleihungen in den Westen. Um nicht Aushängeschild zu sein, konnte ich die Reisen nur annehmen, wenn ich im Ausland sagte, was zu Hause passiert. Daran hielt ich mich. Ich kehrte vier Mal nach Rumänien zurück, für meine Freunde war das wichtig. Mein Wegbleiben hätte man gegen sie verwenden können.
1985 war an ein Leben in Rumänien nicht mehr zu denken, das Regime schien ewig zu halten, ich aber war mit den Nerven am Ende. Ich verwechselte das Lachen mit dem Weinen, das Schweigen mit dem Reden. Ich schrie laut in den Straßen herum, galt als verrückt, war aber noch haarbreit normal. Ich beantragte die Ausreise, die man mir bei Verhören öfter angeboten hatte, um mich los zu werden. Ich hatte jedesmal abgelehnt, meinend: „Es müßte nur Ceauçescu gehen, dann könnten alle anderen bleiben.“ Jetzt wollte ich. Ich verweigerte die für Rumäniendeutsche übliche „Familienzusammenführung“ und bestand auf der Ausreise aus politischen Gründen. Nach anderthalb Jahren ließ man mich gehen, meine Mutter wurde mitgepackt.
1987 kam ich in Nürnberg an, 29. Februar hatten mir die Rumänen in die Papiere geschrieben. In dem Jahr hatte der Februar aber nur 28 Tage. Die Rechnung des rumänischen Geheimdienstes ging auf, die Deutschen machten mir deswegen Schwierigkeiten. Aber auch, weil ich auf politische Verfolgung bestand und keine Aussiedlerin sein wollte.



© REUTERS 

Der erste Blick aus dem Fenster im Nürnberger Übergangsheim fiel auf Hitlers Parteitagsgelände. Ich dachte: aus der Familie der Täter ins Land der Befehlsgeber. Mit dem Bundesnachrichtendienst mußte ich drei Tage über mein Leben reden, meine Mutter und die anderen angekommenen „gewöhnlichen“ Deutschen zwei Minuten. Ich sollte mich entscheiden, ob ich eine Deutsche bin oder politisch verfolgt. Nach dem Übergangsheim zog ich nach Berlin, wo ich heute lebe. Meine Mutter bekam den deutschen Paß nach drei Monaten, ich nach anderthalb Jahren, es seien „eindringliche Recherchen“ nötig, sagte man mir.
Es ist, als ob man sich als Uhr mitbringen würde aus einem anderen Land. Ihre Zeiger habe ich schnell auf hiesige Zeit gestellt, mich im Alltag schnell angepaßt. In der U-Bahn, im Supermarkt will ich eine hiesige Deutsche sein, habe ich doch den deutschen Paß. Aber wenn ich schreibe, dann pfeife ich darauf, dann zählen nicht die Zeiger – es tickt die Unruh aus der Uhr.
Ich hab gesehen, wie Menschen zerbrechen in so vielen Arten von Unglück. Zwei meiner liebsten Freunde hat der Geheimdienst umgebracht. Ihr Verbrechen: Sie haben Gedichte geschrieben, sehr schöne sogar. Ich hab viel Glück gehabt, sonst wäre ich heute nicht hier. Daß ich hier aufgenommen wurde, bedeutet mir viel, darum muß ich diese Freunde gerade jetzt erwähnen. Vielleicht hat das Glück mich verwechselt, weil ich ja selber meist nur wußte, was ich nicht sein will und fast nie wußte, was aus mit werden könnte. Schneiderin oder Friseuse, das wünschte ich mir sehr. Geklappt hat es damals nicht und ist heute wohl zu spät.

Erschienen im Jahrbuch 1997 herausgegeben von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Sonntag, 3. August 2014

JOSEPH DUCREUX


Joseph Ducreux

Joseph wurde am 26. Juni 1735 in Nancy geboren und starb am 24. Juli 1802 in Paris.
Er malte traditionelle, nicht besonders interessante Portaits von Marie-Antoinette, Maria Theresia, Jean Jacques Rousseau und anderen, verbrachte die Zeit der Revolution im englischen Exil und wurde nach seiner Rückkehr von seinem Freund Jacques-Louis David unterstützt.
Es wird behauptet, er hätte außerordentlich viel getrunken und praktisch jeder Frau nachgestellt.


Le Discret



Selbstportrait des Künstlers als Spötter
1791



Diskretion

Dass Josefine eine schiefe Nase hat;
dass Karlchen eine schwache Blase hat;
dass Doktor O., was sicher stimmt,
aus einem dunkeln Fonds sich Gelder nimmt;
dass Zempels Briefchen nur zum Spaß ein Spaß ist,
und dass er selbst ein falsches Aas ist
in allen sieben Lebenslagen –:
das kann man einem Menschen doch nicht sagen!

Na, ich weiß nicht –

Dass Willy mit der Schwester Rudolfs muddelt;
dass Walter mehr als nötig sich beschmuddelt;
dass Eugen eine überschätzte Charge;
dass das Theater ... dieser Reim wird large ...
dass Kloschs Talent, mit allem, was er macht,
nicht weiter reicht als bis Berlin W 8;
dass die Frau Doktor eine Blähung hat im Magen –:
das kann man einem Menschen doch nicht sagen!

Na, ich weiß nicht –

Man muß nicht. Doch man kann.

Die Basis unsres Lebens
ist: Schweigen und Verschweigen – manchmal ganz vergebens.
Denn manchmal läuft die Wahrheit ihre Bahn –
dann werden alle wild. Dann geht es: Zahn um Zahn!
Und sind sie zu dir selber offen,
dann nimmst du übel und stehst tief betroffen.

Die Wahrheit ist ein Ding: hart und beschwerlich,
sowie in höchstem Maße feuergefährlich.
Brenn mit ihr nieder, was da morsch ist –
und wenns dein eigner Bruder Schorsch ist!
Beliebt wird man so nicht! Nach einem Menschenalter
läßt man vom Doktor O. und Klosch und Walter
und läßt gewähren, wie das Leben will ...
Und brennt sich selber aus. Und wird ganz still.

Na, ich weiß nicht –.

Theobald Tiger
Die Weltbühne, 20.08.1929, Nr. 34, S. 295.

Freitag, 1. August 2014

Walker Evans 2 - Die Schönheit der gewöhnlichen Werkzeuge



Für KPO und V und alle Menschen, die vollgekramte oder überordentlich sortierte Werkstätten, Bastelzimmer u.ä. ihr eigen nennen, und einfach keine Schraube wegwerfen können, weil sie sie ja irgendwann einmal gebrauchen könnten.

"Immer wieder wird ein Mann vor dem Ladenfenster eines Eisenwarenladens stehen und die ausgestellten Werkzeuge hinter 
dem Glas begutachten; sein Mund wird feucht werden; er wird reingehen und 2,65 $ für einen makellos wunderschönen speziell polierten Schraubschlüssel ausgeben; und wahrscheinlich wird er ihn niemals, niemals für irgendetwas benutzen."

"Time and again a man will stand before a hardware store window eying the tools arrayed behind the glass; his mouth will water; he will go in and hand over $2.65 for a perfectly beautiful special kind of polished wrench; and probably he will never, never use it for anything."

W. E. 1955 im Portofolio zu "Die Schönheit der gewöhnlichen Werkzeuge"


"Unter den billigen, fabrikgefertigten Waren, ist keine so ansprechend für die Sinne wie das gewöhnliche Werkzeug. Deshalb ist der Eisenwarenladen eine Art unkonventionelle Museumsausstellung für den Mann, der auf gute, klare 'un-gestaltete' Formen anspricht."

"Among the low-priced, factory-produced goods, none is so appealing to the sense as the ordinary hand tool. Hence, the hardware store is a kind of offbeat museum show for the man who responds to good, clear 'undesigned' forms."

W. E. 1955 im Portofolio zu "Die Schönheit der gewöhnlichen Werkzeuge"


"Abgesehen von ihren Funktionen - obwohl sie ausschließlich für Funktion gedacht sind - verführt jedes dieser Werkzeuge das Auge, seinen Kurven und Winkel zu folgen, und lädt die Hand ein, seine Balance zu testen."

"Aside from their functions — though they are exclusively wedded to function — each of these tools lures the eye to follow its curves and angles, and invites the hand to test its balance."

W. E. 1955 im Portofolio zu "Die Schönheit der gewöhnlichen Werkzeuge"


 Mache mich zum Werkzeug Deines Friedens:
Dass ich Liebe bringe, wo man sich hasst,
Dass ich Versöhnung bringe, wo man sich kränkt,
Dass ich Einigkeit bringe, wo Zwietracht ist,
Dass ich den Glauben bringe, wo Zweifel quält,
Dass ich die Hoffnung bringe, wo Verzweiflung droht,
Dass ich die Freude bringe, wo Traurigkeit ist,
Dass ich das Licht bringe, wo Finsternis waltet.

Franz von Assisi

Ein Werkzeug ist ein von Menschenhand geschaffenes oder umgeformtes Arbeitsmittel oder Artefakt, um auf Gegenstände (Werkstücke oder Materialien im weitesten Sinne) mechanisch einzuwirken.
Wikipedia

Alle Photographien © Walker Evans

Krieg damals - Mühsam & Heartfield



© John Heartfield

Kriegslied

Sengen, brennen, schießen, stechen,
Schädel spalten, Rippen brechen,
spionieren, requirieren,
patrouillieren, exerzieren,
fluchen, bluten, hungern, frieren...
So lebt der edle Kriegerstand,
die Flinte in der linken Hand,
das Messer in der rechten Hand -
mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland.

Aus dem Bett von Lehm und Jauche
zur Attacke auf dem Bauche!
Trommelfeuer - Handgranaten -
Wunden - Leichen - Heldentaten -
bravo, tapfere Soldaten!
So lebt der edle Kriegerstand,
das Eisenkreuz am Preußenband,
die Tapferkeit am Bayernband,
mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland.

Stillgestanden! Hoch die Beine!
Augen gradeaus, ihr Schweine!
Visitiert und schlecht befunden.
Keinen Urlaub. Angebunden.
Strafdienst extra sieben Stunden.
So lebt der edle Kriegerstand.
Jawohl, Herr Oberleutenant!
Und zu Befehl, Herr Leutenant!
Mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland.


 


Der Henker und die Gerechtigkeit 1933
© John Heartfield 
 
Vorwärts mit Tabak und Kümmel!
Bajonette. Schlachtgetümmel.
Vorwärts! Sterben oder Siegen!
Deutscher kennt kein Unterkriegen.
Knochen splittern, Fetzen fliegen.
So lebt der edle Kriegerstand.
Der Schweiß tropft in den Grabenrand,
das Blut tropft in den Straßenrand,
mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland.

Angeschossen - hochgeschmissen -
Bauch und Därme aufgerissen.
Rote Häuser - blauer Äther -
Teufel! Alle heiligen Väter!...
Mutter! Mutter!! Sanitäter!!!
So stirbt der edle Kriegerstand,
in Stiefel, Maul und Ohren Sand
und auf das Grab drei Schippen Sand -
mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland.
 

Erich Mühsam 1917

Nach zehn Jahren 1924
© John Heartfield 


Das Kreuz war nicht schwer genug 
© John Heartfield

Donnerstag, 31. Juli 2014

Walker Evans - Photographien


Walker Evans. Ein Lebenswerk

Jetzt gerade ist im Gropiusbau eine große Werkschau des amerikanische Photographen Walker Evans (1903 - 1975) zu sehen. Ich würde euch raten, unbedingt hinzugehen!
Schwarz-weiß und starkes Grau, immense Tiefenschärfe, Klarheit, genauer Blick ohne Sentimentalität, doch mit Respekt, so würde ich seine Bilder beschreiben.  


Ich denke, dass eine Depression ziemlich gut ist für manche Künstler; mich eingeschlossen. Sie hat die Versuchung weggenommen, kommerziell zu werden und Geschäftsmann zu werden. Es gab kein Geschäft.

I think that a depression is rather good for some kinds of artists; me included. It took away the temptation to be commercial and go into business. There wasn’t any business.

Walker Evans

 LKW & SCHILD 1930

Evans war der erste Photograph, der eine Einzelausstellung im MOMA hatte:
Kirstein, Evans und Mawbry schlossen sich in der Gallerie mit einer Flasche Klebstoff, einer Flasche Bourbon und den Bildern, ein. Sie gingen an die Arbeit und am nächsten Morgen waren die Bilder gehängt.

Meister

Hungernde Kubanische Familie 1933

Nachdem du alle diese Bilder angesehen hat, mit ihren klaren, scheußlichen Details, ihrem offenen Irrsinn und bemitleidenswerten
Größe, vergleiche diese Vision eines Kontinents wie er ist, nicht wie er sein könnte oder wie er war, mit allen anderen schlüssigen Visionen, die wir seit dem Krieg hatten, welcher Poet hat soviel ausgedrückt? Welcher Maler hat soviel gezeigt?

After looking at these pictures with all their clear, hideous and beautiful detail, their open insanity and pitiful grandeur, compare this vision of a continent as it is, not as it might be or as it was, with any other coherent vision that we have had since the war, what poet has said so much? What painter has shown so much?
Lincoln Kirstein im Vorwort zu American Photographs 1938

OHNE TITEL

„als nächstes natürlich gott amerika ich
liebe dich land der pilger und so weiter oh
sag kannst du bei der dämmerung frühem mein
land es ist jahrhunderte kommen und gehen
und sind nicht mehr was macht das wir sollten sorgen
in jeder sprache sogar taubundblind
deine söhne feiern deinen herrlichen namen bei gottchen
bei jingo bei g bei gosh bei gummi
warum über schönheit sprechen was könnte schö-
ner sein als diese heroischen glücklichen toten
die wie löwen in das brüllende schlachten stürzten
sie hielten nicht ein um zu denken sie starben stattdessen
soll die stimme der freiheit dann stumm sein?“

sprach er. und eilig trank ein glas wasser
 
 
Leider schaffe ich es nicht, das Sonett gereimt zu übersetzen, leider.
 
 
"next to of course god america i
love you land of the pilgrims' and so forth oh
say can you see by the dawn's early my
country 'tis of centuries come and go
and are no more what of it we should worry
in every language even deafanddumb
thy sons acclaim your glorious name by gorry
by jingo by gee by gosh by gum
why talk of beauty what could be more beaut-
iful than these heroic happy dead
who rushed like lions to the roaring slaughter
they did not stop to think they died instead
then shall the voice of liberty be mute?"

He spoke. And drank rapidly a glass of water

e.e. cummings
 

 Allie Mae Burroughs 1935/36
Frau eines Baumwoll Pacht-Farmers in Alabama


Laura Minnie Lee Tingle
Kind eines Pacht-Farmers
1936

Alle Photographien © Walker Evans


Mittwoch, 30. Juli 2014

Ich bin alt, sagt man mir.



Fremdblick und Eigensicht. 
Außen und innen.
Kopf und Körper.
Sehnsucht und reale Aussichten. 
Ich bin, im Blick junger Menschen, alt,
Ich bin, in mir, mal jung mal alt, mal unentschieden.
nach Laune, Glücksumständen, Sex & Gesundheit.
 Dreissigjährige, die sich auf ihre Jugend berufen, langweilen mich.
Sechzigjährige, die sich jungendlich benehmen, amüsieren mich,
oder ich bemitleide sie.
 Was ist das für ein Ding, das Alter?
Wir alle werden sterben,
ein unleugbarer Fakt.
Der Abstand zum vermutlichen Todeszeitpunkt verringert sich, 
stündlich, minütlich, unentwegt.
Muß ich deshalb andauernd auf die Uhr gucken?
Uhrenvergleich.
Ich weiß mehr,
aber mir bleibt weniger zu tun übrig.
Die Zukunft wird kürzer.

Das Alter

Das Alter ist ein höflich' Mann:
Einmal über's andre klopft er an;
Aber nun sagt niemand: "Herein! "
Und vor der Türe will er nicht sein.
Da klinkt er auf, tritt ein so schnell,
Und nun heißt's, er sei ein grober Gesell.

Johann Wolfgang von Goethe


Wiki definiert: Unter dem Alter versteht man den Lebensabschnitt rund 
um die mittlere Lebenserwartung des Menschen, also das Lebensalter 
zwischen dem mittleren Erwachsenenalter und dem Tod. Das Altern 
in diesem Lebensabschnitt ist meist mit einem Nachlassen der Aktivität 
und einem allgemeinen körperlichen Niedergang (Seneszenz) verbunden.


Statuette der Aphrodite mit Taube und Efeukranz 
Tarent, angeblich aus Canosa in Apulien
3. Jh. v.Chr.
Museum zu Allerheiligen Schaffhausen

Die Taube ist der Aphrodite heilig wegen ihrer Wollust. 
Es wird nämlich gesagt, dass sie am meisten Sex habe.
Apollodor, Athen

Montag, 28. Juli 2014

Krieg ist eine Abzocke - Smedley D.Butler




 Generalmajor Smedley Darlington Butler 
1881-1940

Er war bis 1931 Generalmajor beim United States Marine Corps. Zweimal wurde er mit der Medal of Honor ausgezeichnet. General Douglas McArthur bezeichnete ihn als einen der wirklich großen Generäle der amerikanischen Geschichte. 

1935, nach seinem Abschied aus dem Militär schrieb er ein Buch mit dem Titel „War is a racket“ - "Krieg ist eine Abzocke"


„Es gibt keine Gaunerei (Abzocke), die die militärische Gang nicht auf Lager hat. Sie hat ihre ‚Spitzel‘, die mit dem Finger auf die Feinde zeigen, sie hat ihre ‚Muskelmänner‘  zur Vernichtung der Feinde, sie hat ein ‚Gehirn‘, das die Kriegsvorbereitungen trifft, und einen ‚Big Boss‘, den supernationalistischen Kapitalismus.
Es mag merkwürdig anmuten, dass ausgerechnet ich als Angehöriger des Militärs einen solchen Vergleich wage. Aber die Wahrhaftigkeit zwingt mich dazu. Ich habe dreiunddreißig Jahre und vier Monate als Mitglied der agilsten Militärmacht dieses Landes, der Marine-Infanterie, im aktiven Dienst verbracht. Ich habe in allen Rängen gedient, vom Leutnant bis zum Generalmajor. Und einen Großteil dieser Zeit war ich ein erstklassiger Muskelmann für das Big Business, für die Wall Street und die Banker. Kurzum, ich war ein Gangster des Kapitalismus. Damals ahnte ich, dass ich nur ein Teil eines großen Gangsterplans war. Jetzt weiß ich es….
Ich habe 1903 mitgeholfen, Honduras für die amerikanischen Obsthandelsfirmen “zuzurichten”. Ich habe 1914 mitgeholfen, Mexiko und insbesondere Tampico für die wichtigen amerikanischen Ölinteressen abzusichern. Ich habe dazu beigetragen, dass die Jungs von der National City Bank, die in Haiti und Kuba abkassierten, einen angenehmen Aufenthalt hatten. Ich half mit bei der Plünderung von einem halben Dutzend Republiken in Mittelamerika zugunsten der Wall Street. Die Liste der Gangstereinsätze ist lang. 1909–1912 war ich an der Säuberung Nicaraguas für das internationale Bankhaus Brown Brothers beteiligt. 1916 machte ich in der Dominikanischen Republik den Weg frei für die amerikanischen Interessen am Zucker. In China sorgte ich zusammen mit anderen dafür, dass Standard Oil ungestört seine Ziele verfolgen konnte.
In all diesen Jahren habe ich, wie die Drahtzieher zu Hause sagen würden, ein tolles Ding nach dem anderen gedreht. Im Rückblick glaube ich, dass ich Al Capone ein paar wertvolle Tipps hätte geben können. Er operierte bestenfalls in drei Bezirken. Ich operierte auf drei Kontinenten.“
Zitat aus Tariq Ali: „Fundamentalismus im Kampf um die neue Weltordnung “  S. 439, Heyne-Verlag 2003


Link zum vollständigen englischen Text:
http://www.ratical.org/ratville/CAH/warisaracket.html 

Sonntag, 27. Juli 2014

KRIKELKRAKEL KRAKELEI KRITZELEI KRIKELEI


KRIKELKRAKEL KRAKELEI KRITZELEI KRIKELEI

Im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache findet man unter krakeln: 
‘zittrig, ungleichmäßig, schlecht leserlich schreiben’ (19. Jh.). Die Herkunft des nd. md. Verbs ist unbekannt. Vergleichbar sind mnd. krōken, krāken ‘falten’, krōke, krāke, krōkel, krākel ‘(Gesichts)falte, Runzel’, vielleicht auch nhd. Krakel ‘dürrer Zweig’ (danach der diesem ähnliche Schriftzug?). Vgl. Krakelfüße ‘seltsame Schrift’ (Lessing), Krakelwerk ‘seltsam gestaltetes Werk’ (Goethe). – krak(e)lig Adj. ‘zittrig, unleserlich geschrieben’ (19. Jh.). Krakelei f. ‘das Krakeln, Gekrakelte’, nd. Krakelie (19. Jh.). 
klieren, krickeln, kritzeln 


Im Etymologischen Wörterbuch steht: Krakel "unregelmäßiger Schriftzug" std. stil. (16. Jh., Bedeutung 19. Jh.) Stammwort. In der Bedeutung "dürrer Ast" bezeugt seit dem 16. Jh. (zunächst in der Form Gragel). Dann übertragen auf Schriftzüge usw.; bei krakelig "zerbrechlich" tritt ein anderes Merkmal der dürren Äste in den Vordergrund. Wohl lautmalend zu krachen (Krach). Verb: krakeln; Abstraktum: Krakelei. S. auch krickeln.
 
 
WIEDERGEBURT

Ein Kunstbarbar mit schlaffer Hand
Befleckt das Bild eines Genies,
Indem er es voll Unverstand
Mit eignen Krakeln überzieht.

Die fremden Farben mit den Jahren
Platzen schuppenwelk herab;
Bis das, was das Genie gestaltet,
In alter Schönheit wieder strahlt.
 
So muss auch jener Irrtum schwinden,
Der lang schon meine Seele quält,
Bis sich Visionen wiederfinden,
Die rein der erste Tag enthält.

Alexander Puschkin 1819
übersetzt von Eric Boerner  

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EDWARD HOPPER 
KRAKELEIEN - SCRIBBLES





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Jakob Krakel-Kakel

Jakob Krakel-Kakel war schon ein alter Rabenvater. Aber – dem Himmel sei es geklagt – er machte noch immer Seitenflüge. Besonders häufig traf er sich in einer Felsengalerie mit seiner Nichte, der Nebelkrähe. Er schwärmte so für aschblonde Federn. Da saß er und schnäbelte, statt sich die Felsenbilder zu besehen, wie es ehrbare Leute tun. Denn dazu sind die Felsengalerien da, wie jeder weiß. Die Felsen blieben freilich ungerührt, aber sonst war es betrübend.
»Krah«, sagte Jakob Krakel-Kakel und ließ sich elegant auf den Rand seines Nestes niedergleiten. »Jakob«, sagte Frau Krakel-Kakel, die häuslich auf ihren Eiern saß, »Jakob, wo sind die bestellten Regenwürmer?« »Regenwürmer sind dieses Jahr sehr schwer zu beschaffen. Ich fand nichts als einen Engerling, den ich im Versehen verschluckte.« Jakob Krakel-Kakel hatte Übung in solchen Dingen. »Jakob, wo warst du?« fragte Frau Krakel-Kakel. »Ich sagte es dir schon«, sagte Jakob Krakel-Kakel, »ich habe alle Felder abgesucht. Ich bin erschöpft. Außerdem bin ich erkältet.
»Du bist eher erhitzt«, sagte Frau Krakel-Kakel. »Jakob – hat nicht deine Nichte, die Nebelkrähe, aschblonde Federn auf der Brust?«
»Was wird sie haben«, sagte Jakob Krakel-Kakel, »sie wird schon aschblonde Federn haben.«
»Jakob«, sagte Frau Krakel-Kakel, »du hast eine aschblonde Feder auf dem Rock.«
»Ich werde eben grau«, sagte Jakob Krakel-Kakel, »es ist kein Wunder.« Er putzte sich die Feder fort.
»Jakob, kakle die Wahrheit! Du bist polygam. Pfui!«

 
Jakob Krakel-Kakel senkte schuldbewußt den großen Schnabel. In der Tiefe seiner Rabenseele aber war er wütend und beschloß, Rache zu nehmen – Rabenrache!
»Krah«, sagte Jakob Krakel-Kakel und flog davon. Er flog zum Kuckuck.
»Ich habe gehört, daß Sie Ihre Eier vergeben. Ich will eins haben.«
»Mit Vergnügen«, sagte der Kuckuck.
»Mehr als einen oder höchstens zwei Regenwürmer möchte ich nicht anlegen«, sagte Jakob Krakel-Kakel, »ich bin verheiratet und kann mir keine Extravaganzen gestatten.
»O bitte, das genügt vollkommen, ich tue es überhaupt nur aus reiner Vogelfreundlichkeit", sagte der Kuckuck. »Ich will das Ei dann gleich mitnehmen«, sagte Jakob Krakel-Kakel.
»Das geht nicht«, sagte der Kuckuck pfiffig. »Eierlegen ist eine produktive Tätigkeit. So was ist doch nicht vorrätig. Man braucht Stimmung dazu. Das müßte solch ein alter Vogel doch eigentlich selbst wissen.«
Jakob Krakel-Kakel tat, als wisse er das nicht.
»Wann kann ich es mir holen?« fragte er.
»Ich liefere es Ihnen loco Rabennest«, sagte der Kuckuck zuvorkommend.
»Das tun Sie lieber nicht«, sagte Jakob Krakel-Kakel, »Sie könnten da auf ungeahnte Schwierigkeiten stoßen. Ich hole es mir selbst ab.«
Nach einigen Tagen flog Jakob Krakel-Kakel von hinten auf seine Frau zu. Er hatte ein Ei im Schnabel und schob es ihr vorsichtig ins Unterrockgefieder. Dann segelte er von dannen – ruchlos krächzend.
Nach einer kurzen Weile kam er wieder und setzte sich auf den Nestrand. Er sagte nicht einmal »Krah« zur Begrüßung und kehrte seiner Frau den Rücken zu. Dann wandte er den Schnabel und sprach über die Schulter.
»Lea«, sagte er, »was ist das für ein Ei?«
»Was werden es für Eier sein«, sagte Frau Krakel-Kakel, »unsere Eier – Rabeneier.«
»Lea – kakle die Wahrheit! Du hast ein fremdes Ei im Nest!«
»Ach, du meinst das kleine, das du mir heute zugesteckt hast?« sagte Frau Krakel-Kakel. »Das hab' ich ausgetrunken. Es war doch eine Aufmerksamkeit für die bestellten Regenwürmer, die du vergessen hast? Nicht wahr?« Jakob Krakel-Kakel war zumute, als müsse er selber Eier legen.
»Natürlich«, sagte er und sah seine Frau mit Rabenaugen an. Er tat es nicht lange. Frau Lea Krakel-Kakel hatte einen Zug um die Schnabelwinkel – einen Zug, den man niemand beschreiben kann, der ihn nicht kennt. Jakob Krakel-Kakel wurde hundert Jahre alt. Den Zug vergaß er nie. Er hat auch auf dem tadellos schwarzen Rock nie wieder eine aschblonde Feder gehabt. Und das heißt: Er hat sie sich stets vorher sorgsam abgeputzt.

Manfred Kyber um 1926