Mittwoch, 2. Oktober 2013

Purzelbaum, Kobolz und Rolle vorwärts


Rolle vorwärts, Purzelbaum und Kobolz, drei Wörter, die dasselbe meinen, nämlich eine Bewegung, bei der der Ausführende "verbunden mit einer Translation um eine momentane Drehachse rotiert", wie es Wiki beschreibt oder etwas persönlicher formuliert: eine Körperaktion bei der ein Mensch versucht vorwärts, wildwagemutig kopfüber, den Hintern frech in die Höhe reckend und möglichst beide Beine hinterschleudernd, sich nicht den Steiss zu verletzen und, idealenfalls, elegant wieder auf den Füssen zu landen. 
Kinder purzeln gern. Das Gewicht ihrer absolut gesehen kleinen, aber relativ zum Körpergewicht schweren Hinterteile kippt sie zur Seite und nur viele unermüdliche Wiederholungsversuche führen zum glücklichen Erleben der vollständigen einmal Ganz-herum-Rolle. 

Drehe ich mich oder dreht sich die Welt? 360 Grad Perspektivwechsel in einer fliessenden Bewegung.

"Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte." Georg Büchner "Lenz"

Kopfüber. Wir purzeln in die Welt und sie verlangt von uns, dass wir ihr aufrecht begegnen. Verflixte Schwerkraft. Fliegen ohne mechanische Hilfe ist leider ausgeschlossen. Purzeln, rollen, kobolzen ist vielleicht eine Art uns schwerelos zu fühlen. Ich empfehle: an unbeoachteter Stelle einmal einen leichten Abhang herunter zu purzeln. Wenn man das Gefühl von Peinlichkeit beiseite schiebt, dies gilt für die unter uns über Dreissig, dann können wir vielleicht eine Erinnerung an ungelenke Freudensprünge, übermütiges Herumrollen, ja an Leichtigkeit erhaschen.




Die Schwaben sagen:'s purzlet wie gauklet, im Sinne von: gehüpft wie gesprungen.


Der Adelung sagt: Der Burzelbaum, Purzelbaum, des -es, plur. die -bäume, im gemeinen Leben, eine Art des Fallens, da man sich auf den Kopf stellet, den Hintern in die Höhe hebet, und auf die andere Seite niederfallen lässet. Einen Burzelbaum machen oder schießen.
   Anmerkung: Baum drückt in dieser Zusammensetzung die senkrechte Erhebung des Hintern aus.!!!! 
In Schlesien heißt der Burzelbaum ein Burzelbock, in Franken ein Stürzbaum, im Österreichischen ein Kuchenschaß, in Westphalen und Hamburg Heusterpeuster, Kopfheuster, in der Mark Brandenburg und Pommern Kobold

Kobolz schießen: einen Purzelbaum schlagen; Kobolz leitet sich von französisch ›se culbuter‹ = sich stürzen, sich herabstürzen her. Nachdem die Herkunft des Wortes in Vergessenheit geraten war, wurde in Anlehnung an ›Bolzen‹ das Wort ›schießen‹ hinzugefügt, ähnlich wie man im Rheinland einen Fußball ziellos in die Gegend ›bolzt‹, d.h. schießt. Mit dem Wort Kobold hat unsere Redensart nichts zu tun.


Der Purzelbaum 


Ein Purzelbaum trat vor mich hin
und sagt: "Du nur siehst mich
und weißt, was für ein Baum ich bin:
Ich schieße nicht, man schießt mich.

Und trag ich Frucht? Ich glaube kaum;
auch bin ich nicht verwurzelt.
Ich bin nur noch ein Purzeltraum,
sobald ich hingepurzelt."

"Je nun", so sprach ich, "bester Schatz,
du bist doch klug und siehst uns; -
nun, auch für uns besteht der Satz:
wir schießen nicht, es schießt uns.

Auch Wurzeln treibt man nicht so bald,
und Früchte nun erst recht nicht.
Geh heim in deinen Purzelwald,
und lästre dein Geschlecht nicht."


Christian Morgenstern

Dienstag, 1. Oktober 2013

Parmigianino - ein Manierist



Girolamo Francesco Maria Mazzola
genannt Parmigianino
oder Der Kleine aus Parma 
1503 - 1540


Selbstporträt mit 21 in einem konvexen Spiegel 
circa 1524
24 cm Durchmesser

Vasari schrieb, dass der Maler dieses bizarre Werk folgendermaßen erschuf: "Parmigianino ... begann sich selbst zu malen, wie einem konvexen Rasierspiegel erschien. Er ließ eine Holzkugel von einem Drechsler anfertigen und halbierte ihn, und auf auf einer Hälfte begann er alles zu malen, was er im Spiegel sah. Weil der Spiegel alles vergrößerte, was nah, und verkleinerte, was entfernt war, malte er die Hand etwas groß."

Wie Parmigianino es machte, die rechte Hand
Größer als der Kopf, dem Betrachter entgegengestreckt
Und sich leicht wegbiegend, wie um zu schützen
Was es anpreist. ...

As Parmigianino did it, the right hand
Bigger than the head, thrust at the viewer
And swerving easily away, as though to protect
What it advertises.

Aus einem Gedicht des New Yorker Poeten John Ashbery
As Parmigianino did it, the right hand
Bigger than the head, thrust at the viewer
And swerving easily away, as though to protect
What it advertises. - See more at: http://www.poets.org/viewmedia.php/prmMID/5926#sthash.7lqbGik9.dpuf


Antea 1531-34


Und hier noch einmal womöglich dieselbe Frau

Die Madonna mit dem langen Hals 1534-40

Samstag, 28. September 2013

Das ist ein weißer Schimmel, alter Knabe!



Tautologie & Oxymoron & Pleonasmus & Ellipse &
Hendiadyoin


Solch schöne Wörter für Worte. 
   Wie oft beginnt jemand eine seiner Äußerungen mit den scheinbar harmlosen Worten: 

      "um wirklich die Wahrheit zu sagen" oder "mal ganz ehrlich" oder"wenn ich offen
      sprechen soll"? Oft? Ja. Oft. Sätze werden mit enthüllenden Formulierungen 
      eingeleitet, die klar aussagen, dass sonst, nämlich immer, wenn nicht die 
      obengenannten Floskeln vorausgeschickt werden, gelogen wird. Großartig!
      Sprache ist verräterisch. Sie jubelt uns Wörter, Sätze unter, die wir willentlich niemals 
      meinen würden. Sprache ist geduldig, sie läßt uns die Zeit, uns zu entblößen, zu 
      verraten. Wenn es denn jemanden gibt, der genau zuhört.
      Der Mann am Rande des Nervenzusammenbruchs, der Ende 1989, auf einer der noch 
      immer stattfindenden SED-Kreissitzungen, seine Rede mit den unsterblichen Worten: " 
      Hu, Genossen, Rra, es lebe der Sozimus!" eröffnete, der Fußballtrainer, der in 
      Ermangelung genauerer Beschreibung "Der Ball ist rund." in das Mikrophon 
      stammelte.  "Ich liebe Dich" und aber auch: "Ich liebe Schnitzel". 
      Wir glauben die Meister unserer Worte zu sein, aber manchmal werden wir hinterrücks 
      von ihnen übertölpelt. Sie verstricken uns in unsere Widersprüche. Sprache ist ein
      Minenfeld und eine Schatztruhe, Selbstschußanlage und  auch (im Glücksfall) die
      Machete mit der wir uns aus der Verwirrung unseres Hirns befreien können. 
      Sie kann Nichtsagbares sagen, und manch uns noch unverständlicher Gedanke, wird
      klar und begreifbar, wenn wir versuchen ihn zu umschreiben. "Die allmähliche 
      Verfertigung der Gedanken beim Reden" liest sich für mich wie eine Gebrauchs-
      anleitung für Erste Hilfe in Denknotfällen.
      Und dann gibt es Menschen, die sich in Sprache vertiefen, sie untersuchen, hin und
      her wenden, sie umstülpen und dabei Begriffe für Muster, Figuren erfinden und 
      manche davon klingen wie poetische Kosenamen. 

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Alles kursiv Geschriebene hat Wikipedia geliefert.

Der Ausdruck Tautologie - von altgriechisch ταὐτό = τὸ αὐτό to autó ‚dasselbe‘ sowie λόγος lógos ‚Sprechen, Rede‘) bezeichnet in der Stilistik und Rhetorik eine rhetorische Figur, bei der mit einer inhaltlichen Wiederholung gearbeitet wird. Bewusste Tautologien werden in sogenannten „Zwillingsformeln“ geprägt.

Geschäft ist Geschäft
offen und ehrlich
nackt und bloß
ganz und gar
Das Hendiadyoin ist ein Ausdruck, also eine so genannte Zwillingsformel.
Dabei ist in manchen Fällen eins der beiden Wörter allein heute ungebräuchlich:
frank und frei,
rank und schlank
klipp und klar
In Abgrenzung zur Tautologie bilden beim Hendiadyoin die beiden Wortbestandteile zusammen erst die eigentliche Bedeutung des Ausdrucks (beispielsweise
„Hab und Gut“ für „Besitz“). Bei der Tautologie besitzen dagegen die beiden Wortbestandteile auch schon für sich allein genommen die gleiche Bedeutung wie der gesamte Ausdruck, der als Ganzes in der Regel nur eine rhetorische Verstärkungsfunktion erfüllt (beispielsweise „Art und Weise“).
Hinz und Kunz
Kind und Kegel
Saus und Braus
Hendiatris (mit dreien): Wein, Weib und Gesang
Hendiatetris (mit vieren): frisch, fromm, fröhlich, frei 
 Wird hingegen innerhalb einer Wortgruppe eine bestimmte Bedeutung mehrfach auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht, spricht man von einem Pleonasmus. 

Oder man könnte auch doppelt-gemoppelt dazu sagen. 
Der Doppelmoppel:

ABM-Maßnahme
lohnenswert
andere Alternative
vorbeigehender Passant
fleischgewordene Inkarnation
klammheimlich (verkappte Tautologie, da lateinisch clam „heimlich“)
für gewöhnlich etwas zu tun pflegen
Zukunftsprognosen
aufoktroyieren
Aber auch: 

Rose is a rose is a rose is a rose - aus dem Gedicht Sacred Emily von Gertrud Stein 

Ein Gegenbegriff zu Tautologie ist das Oxymoron.
Ein Oxymoron - griechisch ὀξύμωρος – aus oxys: scharf(sinnig) und moros: dumm; 
ist eine rhetorische Figur, bei der eine Formulierung aus zwei gegensätzlichen, einander widersprechenden oder sich gegenseitig ausschließenden Begriffen gebildet wird. 
Häufig werden Oxymora in Form von Zwillingsformeln geprägt. Auch einzelne Wörter 
oder Begriffe oder auch ein ganzer Satz können ein Oxymoron bilden. 
Man könnte es auch einen Widerspruch in sich nennen.


offenes Geheimnis
bittersüß
herrenloses Damenrad
Eile mit Weile
stummer Schrei
oder
die schwarze Milch in der Todesfuge Paul Celans
  Als Ellipse - griechisch ἔλλειψις élleipsis „Fehlen“, „Aussparung“ bezeichnet man das Auslassen von Satzteilen, aber auch die Sätze mit Auslassungen. 

Mir nichts, dir nichts.
Ende gut alles gut. 


 Erlaubtes Parken geht aber schon.

http://www.netzwort.de/commentarium/index.php?id=23 

 http://pfeffermatz.wordpress.com/2012/11/04/573/
http://de.wikipedia.org/wiki/Tautologie_%28Sprache%29


Sprache ohne Vernunft

– Die Vernunft schwamm im Strom
des Weines davon. –

1
Ein guter Fischzug ist großer Trost.

2
Niedertracht sucht mich auch dieses Jahr
zu beschleichen.

3
Ich muß gerettet werden.
Durch Erfolg?

4
Hat die Inspiration Augen,
oder schlafwandelt sie?

5
Meine Hände falten sich zuweilen.
Doch gleich dicht darunter verdaut der Bauch,
filtert die Niere hell den Urin.

6
Die Musik über alles lieben,
heißt unglücklich sein.

7
Zwölf Fische,
zwölf Morde.

Paul Klee, 1901

 

Mittwoch, 25. September 2013

Leonard Freed 1 - Schwarz & Weiß in Amerika


Leonard Freed 1929 - 2006 
Schwarz & Weiß in Amerika


New York City 1963
© Leonard Freed/Magnum Photos
New York City from Black in White America, Leonard Freed, 1963. © Leonard Freed / Magnum Photos, Inc. - See more at: http://blogs.getty.edu/iris/i-have-a-dream/#sthash.EeSbMboJ.dpuf

"Photographie ist wie das Leben. Was bedeutet es alles? Ich weiß nicht, aber man bekommt einen Eindruck, ein Gefühl... Einen Eindruck davon durch die Strassen zu laufen, durch den Park zu laufen, durchs Leben zu laufen. Ich bin mißtrauisch gegenüber Leuten, die sagen, dass sie wissen, was es alles bedeutet." E.F.
"Photography is like life… What does it all mean? I don't know, but you get an impression, a feeling… An impression of walking through the street, walking through the park, walking through life. I'm very suspicious of people who say that they know what it means." E.F.



Im "weißen" Teil eines Südstaatengefängnisses
New Orleans, Louisiana. 1963. City prison 
© Leonard Freed/Magnum Photos


 Harlem Modenschau 1963
© Leonard Freed/Magnum Photos

Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen“ Albert Memmi

Ohne Titel Marsch nach Washington Serie 1963
© Leonard Freed/Magnum Photos

Eindrücke aus dem Theater - Wislawa Szymborska


Hartmann Schedel, Liber Chronicarum, Detail: Totentanz Holzschnitt von Michel Wolgemut und Wilhelm Pleydenwurff gedruckt bei Anton Koberger, Nuernberg 1493


Eindrücke aus dem Theater


Für mich ist das wichtigste in einer Tragödie der sechste Aufzug:
die Auferstehung vom Schlachtfeld der Bühne,
das Zupfen an den Perücken, Gewändern,
das Entfernen des Dolchs aus der Brust,
das Lösen der Schlinge vom Hals,
der muntere Auftritt in einer Reihe
mit dem Gesicht zum Parkett.


Verbeugung, einzeln, gemeinsam:
die weiße Hand auf der Wunde des Herzens,
die Knickse der Selbstmörderin,
das Nicken geköpfter Häupter.


Verbeugungen paarweise:
die Wut Arm in Arm mit der Sanftmut,
das Opfer blickt selig ins Auge des Henkers,
Rebell und Tyrann gehen friedlich nebeneinander.


Der Tritt der Ewigkeit mit der Spitze des goldnen Pantoffels.
Das Fortfegen der Moral mit der Krempe des Hutes.
Die unverbesserliche Bereitschaft, alles zu wiederholen.


Der Einzug im Gänsemarsch der früher Verstorbenen,
im zweiten, im vierten Akt, auch zwischen den Akten.
Die wunderbare Rückkehr der spurlos Verschollnen.
Zu denken, dass sie geduldig hinter Kulissen warteten,
immer noch kostümiert,
ohne sich abzuschminken,
rührt mich stärker als alle Tiraden des Dramas.


Wahrhaft erhaben aber ist das Fallen des Vorhangs
und was man noch durch den unteren Spalt sieht:
da hebt eine Hand die Blume eilig vom Boden,
dort eine andere das liegengelassene Schwert.
Erst dann erfüllt sich die unsichtbare dritte
ihre Verpflichtung:
sie schnürt mir die Kehle.

Wislawa Szymborska


Dienstag, 24. September 2013

Das Septemberlied - September Song


    Oh, it's a long, long while from May to December
    But the days grow short when you reach September
    When the autumn weather turns the leaves to flame
    One hasn't got time for the waiting game.


   Walter Huston singt das September-Lied von Maxwell Anderson & Kurt Weill *

    http://www.youtube.com/watch?v=E3mAT-4FdP4

    Walter Huston - Schauspieler, hatte einen Sohn, John Huston, der Filmregisseur war 
    und der wiederum eine Tochter hatte, Anjelika, die Schauspielerin ist.
    John Hustons Werkliste liest sich wie eine Sammelliste großer Holywoodfilme - 
    Die Spur des Falken, Der Schatz der Sierra Madre, Key Largo, Asphalt Dschungel, 
    African Queen, Moby Dick, Misfits, Der Mann der König sein wollte, Unter dem Vulkan, 
    Die Ehre der Prizzis und ... und ... und.

   
Oh, es ist eine lange, lange Zeit von Mai bis Dezember
    Und die Tage werden kürzer, bereits im September
    Wenn der Herbst die Blätter in Flammen verwandelt
    Dann fehlt mir die Zeit für das Wartespiel.



© Boris Bulychev
    Oh, die Tage schrumpfen rasch zu nur wenigen,
    September, November,
    Und diese wenigen Tage verbring ich mit dir
    Die wenigen Tage bin ich bei dir.


   * Wiki sagt: Bei den Arbeiten zum Musical Knickerbocker Holiday fragte einer der Stars 

    der Show, Walter Huston, an, ob nicht auch ein Song geschrieben werde, der ihn in 
    seiner Rolle als alternder Peter Stuyvesant musikalisch herausstellen könnte. Da Weill 
    Huston unbekannt war, fragte er ihn in einem Telegramm nach seiner Stimmlage; 
    Huston antwortete sehr ehrlich: „Habe überhaupt keine Stimmlage.“ Weill hörte sich 
    daraufhin eine Radioshow an, in der Huston auftrat, um dann in wenigen Stunden mit 
    Anderson einen schlichten, lyrischen Song mit einem Tonumfang von knapp über einer 
    Oktave zu schreiben.

    Lou Reed singt den auch: http://www.youtube.com/watch?v=RQsJK0voNRI 
    Und es gibt noch Chet Baker und Sarah Vaughn und Winston Marsalis und Frank Sinatra 
    und ...
  

Montag, 23. September 2013

Entweder - Oder - Weder - Noch


    SOWOHL ENTWEDER ALS WEDER ODER AUCH NOCH
      frühnhd. ein(t)weder, entweder, mnd. ēntwēder ‘einer von beiden’

      althochdeutsch: (h)wedar „welcher, einer von zweien“

      Weder ... noch, meint keines von zweien oder mehreren.
      Keine der Parteien wollte ich wirklich wählen. Weder die einen, noch die anderen.
      Entweder ... oder, meint eines von zweien oder mehreren.
      Für eine mußte ich mich entscheiden. Oder mit der Erststimme die einen und mit der 
      Zweiten die anderen.
      Sowohl ... als auch, meint beide oder alle.
      Und jetzt kriegen wir wohl sowohl die einen, als auch die anderen. Koalition. 

      Wie bedauerlich, da kann ich demokratisch wählen, und es wird keine 99,91 % 
      Ergebnisse geben, aber es bleibt mir, für mein Gefühl, nur die Wahl des kleineren 
      Übels. Regen oder Traufe. Gut, die FDP ist raus, erschreckend, die 'Alternative für 
      Deutschland' wäre beinahe drin, Mutti hat kräftg dazugewonnen und Peer freut sich 
      über einige kleine Prozente mehr in der Niederlage.

      WEDER GLÜCK NOCH STERN!

      Es war ein Narr! sprach mitleidslos die Welt,
      Ein Träumer! milderte die Nachbarschaft
      Und nur sein Herzfreund sprach: Er war ein Dichter!

      Vor seinem Krankenlager aber sass
      Die bleiche Schwester der Barmherzigkeit
      Und blickte sinnend auf ein Blatt Papier,
      Das gestern erst der flinke Telegraph,
      Mit seinen krausen Zügen überdeckt,
      Und nur mit Mühe konnte sie entziffern:
      »Ihr erstes Stück! Ein Sensationserfolg!
      Berühmt mit einem Schlag! Wir gratuliren!«
      Er aber, dem dies kleine Blatt Papier
      Die heissersehnte Botschaft künden sollte:
      Glück auf, nun hast du nicht umsonst gelebt –
      Er schlief und sah es nicht, denn er war todt.
      Der dunkle Winterabend warf sein Licht
      Kalt durch die zugefrornen Fensterscheiben
      Und spielte zitternd um ein Frauenbild,
      Das auf die bleiche Stirn des todten Dulders
      Unsäglich schön und mitleidsvoll herabsah.

      Darunter aber wand ein welker Kranz
      Sich grün um ein vergilbtes Atlasband;
      Drauf stand, voreinst von Freundeshand geschrieben, 

      Das Sprüchlein: Lorbeerbaum und Bettelstab!

      Arno Holz 1892
      
      -------------------------------------------------

      Bundestagswahl - Auszählungs-Ergebnisse um 8.30 Uhr am 23.9.2013 
      (Spiegel online) in %:

       Wahlbeteiligung: 71,5 (Die Welt sagt 73)


       CDU/CSU 41,5
       Zitat der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): "Feiern dürfen wir heute schon, 

       denn wir haben's toll gemacht."

        NICHTWÄHLER 28,5 (27)
        SPD 25,7
        FDP 4,8
        Linke 8,6
        Grüne 8,4
        Piraten 2,2
        AfD 4,7
        Sonstige 4,1

        ------------------------------------------------
 

       Jeder der folgenden zwölf Begriffe ist ein Synonym für Entweder-Oder:

       Alternation, antivalente Disjunktion, Antivalenz, ausschließende Disjunktion,   

       ausschließendes Oder, Bisubtraktion, exklusives ODER, kontradiktorischer
       Gegensatz, Kontrajunktion, Kontravalentor, Kontravalenz, vollständige Disjunktion

       --------------------------------------------------

ENTWEDER- ODER!

Zu alt schon für die Knabenspiele,
Zu jung noch für der Männer Rath,
Sehnt sich mein Herz nach einem Ziele,
Verlangt mein Geist nach einer That.


O Schicksal, flicht mir in die Haare
Ein Lorbeer- oder Myrthenblatt!
Ich bin der faden Flegeljahre
Schon längst von ganzer Seele satt.


Zu frischer That, zu kühnem Wagen,
Ergeht ein hoher Ruf an mich.
Wach' auf, mein Herz! denn es will tagen,
Schlag' mir zum Siege, oder - brich!

Richard Glass 1809-1883

 
     Während 1990 noch 82,2 Prozent der Wähler bei der Bundestagswahl ihre Stimme  
     abgaben, waren es bei der Wahl nach der Großen Koalition 2009 nur noch 70,8 
     Prozent. Am höchsten war die Wahlbeteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik 
     im Jahr 1972, damals lag sie bei 91,1 Prozent. (rp online) 

Sonntag, 22. September 2013

Asche klebt an unseren Füssen - Elena Chizova


Ein guter Artikel:
Neue Zuercher Zeitung
22. August 2013

Asche klebt an unseren Füssen

Russland wird noch heute von Leuten regiert, die aus den kalten Tiefen des Sowjetsystems kommen. Von Elena Chizhova


Am 19. August 1991 wurde in der Sowjetunion der Versuch eines Staatsstreichs unternommen. Zu den zauberhaften Klängen von «Schwanensee» warf man uns zurück in die sowjetische Vergangenheit. In der Nacht zum 20. August (niemand von uns war schlafen gegangen) meldete das Fernsehen: Panzer im Anmarsch auf Leningrad. In dem Augenblick betrat ich mit einem Tablett voller Teegeschirr den Raum. Mir zitterten die Hände, Tassen und Untertassen flogen auf den Boden. Ich kroch auf den Knien herum und sammelte die Scherben auf. Und in dieser Position vernahm ich: Um zehn Uhr morgens würde auf dem Schlossplatz eine Kundgebung stattfinden. Während ich wieder aufstand, fasste ich einen Entschluss: Ich muss da hin. Damals war ich im dritten Monat schwanger. Heute ist meine Tochter stolz darauf, dass sie ebenfalls teilgenommen hat an dieser Protestkundgebung, als einhunderttausend Menschen auf den zentralen Platz der Fünfmillionenstadt strömten.

Die Vergangenheit ruhen lassen?

Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre wurden Hunderte Bücher und Aufsätze publiziert, die das menschenverachtende Wesen des Systems enthüllten. Artikel 6 der Verfassung, in dem die uneingeschränkte Macht der KPdSU und ihrer Ideologie festgeschrieben war, wurde für gesetzwidrig erklärt. Sämtliche Träume der Intelligenzia schienen sich zu verwirklichen. In den neunziger Jahren debattierte man über die Sowjetunion wie über etwas längst Vergangenes. Die Stimmen ihrer Apologeten liess man als Tribut an den Pluralismus gewähren: In einem freien Land hat jeder Mensch das Recht, seinen Standpunkt zu äussern. Es gab im Übrigen auch Stimmen, die eine offene und öffentliche Gerichtsverhandlung gegen die KPdSU forderten, ähnlich den Nürnberger Prozessen. Diese Idee fand keine breite Unterstützung, vielmehr setzte sich ein anderer Gedanke durch: Man soll die Vergangenheit ruhen lassen, schliesslich hat die Geschichte ihr Urteil bereits gefällt. Unsere Aufgabe war eine andere - einen Bogen um diesen Haufen Staub zu machen.

Zu Beginn der 2000er Jahre aber zeigte sich, dass die Asche, die nach Jahrhunderten der Sklaverei und Jahrzehnten des Terrors zurückgeblieben war, an den Füssen haftete. Unter dem einlullenden Gerede darüber, dass ein Rückfall in die sowjetische Vergangenheit unmöglich sei, kamen Leute an die Macht, die in den Tiefen des Systems erzogen worden waren. Für sie ist die Geschichte des Landes nicht das Feld einer historischen Schlacht von Lüge und Wahrheit, sondern eine Geheimdienstoperation mit dem Ziel, die Macht zu bewahren und das Privateigentum zu mehren. Im Unterschied zu ihren Vorgängern, den Mitgliedern der August-Junta, zittern ihnen nicht die Hände und läuft ihnen nicht die Nase. Das KGB, ihre Alma Mater, hat ihnen effizientes Handeln beigebracht. Schritt für Schritt ist es ihnen gelungen, vieles von dem, was die Geschichte, so schien es, für immer verworfen hatte, zu restituieren: Zensur im Fernsehen, unehrliche Wahlen, die absolute Vorherrschaft einer einzigen politischen Partei.

Und nun, da sie glauben, die Gegenwart im Griff zu haben, nehmen sich die jetzigen Machthaber die Geschichte vor, und zwar zuallererst die ideologische Beeinflussung der Kinder. Ihre Pläne beziehen auch diejenigen ein, die noch nicht geboren sind: Schliesslich werden sie nach dem neuen Einheits-Lehrbuch für Geschichte lernen müssen - eine Idee, die Putin persönlich geäussert hat. Aus meiner Sicht ist das eines der gefährlichsten Projekte des Kremls. Unter dem leeren Geschwätz davon, man werde die besten Historiker als Mitverfasser beiziehen, erblickt ein halbsowjetischer Wechselbalg das Licht der Welt, der die Sowjetunion in einer einzigen Gestalt erscheinen lässt: die Grossmacht, die im Zweiten Weltkrieg gesiegt und Gagarin in den Kosmos geschickt hat. Über alles andere, namentlich über die Massenrepressionen der Stalinzeit, wird es vorsichtig heissen: Es gab Auswüchse, aber keine besonders schlimmen . . .

Vergleicht man mit den Lehrbüchern meiner Generation, ist das schon ein gewaltiger Schritt nach vorn. Im Unterschied zu den künftigen russischen Schülern sind wir in einem historischen Vakuum aufgewachsen. Unsere Eltern redeten mit uns nicht über die sowjetische Vergangenheit. Dieses Thema war tabu. Aus Furcht vor unseren geschwätzigen Zungen behielten die Familien ihre Erinnerungen, ihre Gedanken und Ängste für sich. Mein Vater hat sich nur ein einziges Mal «verplappert», 1980. Damals lag er nach einer schweren Operation auf der Intensivstation. Als ich zu ihm kam, war er noch unter dem Einfluss der Narkose. Nachdem er die Augen aufgeschlagen und mich erkannt hatte (er nannte mich beim Namen), versuchte er sofort, seine Benommenheit zu überwinden, und befahl mir plötzlich: «Stell dich an die Tür. Berija hat seine Leute schon losgeschickt. Lass niemanden rein.» Ich sagte: «Keine Angst, ich stelle mich gleich an die Tür. Sie kommen nicht rein. Ich lasse niemanden durch.» Er nickte: «Gut.» Er glaubte mir und schlief wieder ein.

Die Schrecken der sowjetischen Geschichte entdeckten wir selbst. Manchmal, wie in meinem Fall, mithilfe der Lehrer. Es gab nicht viele, aber es gab sie - Lehrer, die dem sowjetischen Einheits-Lehrbuch zu widersprechen wagten, wenn auch natürlich nicht während des Unterrichts. Ich bin überzeugt, solche Lehrer finden sich auch heute. Allerdings haben dieses Glück nicht alle Kinder. Viele müssen sich auf sich selbst verlassen.

Die Angst in den Augen

Natürlich skizziere ich hier das schlimmste Szenario, an dessen Erfolg ich, ehrlich gesagt, nicht glaube. Man kann den Geist der Freiheit, der Ende aus der Flasche entwich, nicht mehr zurücktreiben. Das wissen auch die heutigen Machthaber. Nicht von ungefähr stand im Herbst und Winter 2011, als Tausende Bürger aus Empörung über die Wahlfälschungen bei den Duma-Wahlen auf die Strasse gingen, in ihren kalten, metallgrauen Augen die ANGST. Nicht die Angst, die meinen Vater und Millionen seiner und meiner Mitbürger gequält hatte. Ihre tief in den Genen steckende Angst war eine Erinnerung an die Repressionen; diese hier war das Gespenst eines unrühmlichen Endes.

Die Tatsache, dass viele Menschen der älteren und mittleren Generation der sowjetischen Vergangenheit und einer «starken Hand» nachtrauern, ist leicht zu erklären. Die alles durchdringende Korruption, die das heutige Regierungssystem zusammenhält, die bestechlichen Gerichte, die ungeheure Diskrepanz zwischen den Reichsten und den Ärmsten - kaum jemand begreift, dass die Wurzeln dieser «Pflänzchen» in die sowjetische Vergangenheit oder sogar noch weiter zurückreichen. Aber auch junge Menschen empfinden Nostalgie nach der Sowjetunion. Natürlich bei weitem nicht alle. Manche spüren die Anzeichen einer zunehmenden Sowjetisierung und ziehen es vor, in den Westen auszureisen; andere entschliessen sich in der Hoffnung auf bessere Zeiten zum Bleiben, und es bedrückt mich, wenn ich daran denke, dass manche dieser Kinder auf der Anklagebank sitzen werden, auf der Chodorkowski und Lebedew ebenso sassen wie die jungen Frauen von Pussy Riot.

Wieder andere (glaubt man den Umfragen, sind es ziemlich viele) spielen, begleitet vom Gemunkel der Grosseltern, die von den sowjetischen Greueln aus unterschiedlichen Gründen nicht betroffen waren, ein Computerspiel mit dem Titel «Das Leben in der Sowjetunion». In diesem virtuellen Raum, den sie für die sowjetische Vergangenheit halten, herrscht «Freundschaft unter den Völkern», hier floriert «die Fürsorge der Partei für den einfachen Menschen». Grosse Bücher werden geschrieben und bedeutende Filme gedreht. In dem Spiel gibt es nicht die Option herauszufinden, um welchen Preis das geschieht. Es gibt keine leeren Ladentische, keinen Eisernen Vorhang, keine stumpfsinnigen Parteiversammlungen, keine Denunzianten, keine Verzweiflung und keine Machtlosigkeit angesichts dessen, dass dein Leben offenkundig schon gelaufen ist - alle wichtigen Entscheidungen treffen diejenigen für dich, deren sorgfältig retuschierte Gesichter von den Feiertags-Plakaten herunterblicken. Die heutigen Herrscher stammen von ihnen ab. Sie, die Mitglieder der «inneren Partei» (wenn man an Orwell denkt), empfinden zivilen Dissens als persönliche Beleidigung und unternehmen alles Mögliche, um zu einer Vergangenheit zurückzukehren, wo man diejenigen, die nicht einverstanden waren, an einer Hand abzählen konnte: Sie reanimieren die alten sowjetischen Mythen, sie kokettieren mit dem «einfachen Volk» und hetzen es gegen die Intelligenzia auf, sie manipulieren Wahlergebnisse, sie tauschen die Plätze wie in einer billigen Jahrmarktsposse.

Mir scheint, ich kann ihre Gedanken lesen, schliesslich sind sie mehrheitlich in meinem Alter. Wir sind im selben Land aufgewachsen. Freilich sind sie im Gegensatz zu denjenigen, die 1991 auf die Strasse gingen, die perfekte Verkörperung des Typus Sowjetmensch, wie er sich zum Ende der Breschnew-Ära herausgebildet hatte. Ihr Bewusstsein ist deformiert von der sowjetischen Ideologie, die zum Katzbuckeln und zur Lüge nötigte. Wenn ich ihre Reden höre, frage ich mich nie, ob sie die Wahrheit sagen. Sogar wenn sie die Wahrheit sagen, lügen sie - in den neunziger Jahren, als sie die sowjetische Vergangenheit «aufrichtig» anprangerten, ebenso wie heute, wenn sie der Grösse dieser Vergangenheit Hosianna singen und unsere Kinder verführen. Sie haben keine Ideale, keine unverbrüchlichen Werte - weder «westliche» noch «östliche». Aber sie haben pragmatische Ziele.

Ich sage meiner Tochter: Schau genau hin, es ist ganz einfach. Es scheint nur so, als trügen sie westliche Designermode. In Wirklichkeit haben sie ihre durchtrainierten Körper in Anzüge aus der Fabrik «Bolshevichka» gekleidet. Es scheint nur so, als dufteten sie nach teurem Parfum. In Wirklichkeit riechen sie nach sowjetischer Pestilenz - da bleibt nur noch, sich die Nase zuzuhalten. Es scheint nur so, als benutzten sie iPhones und iPads - sie und ihre Anhänger (die Mehrheit der Bevölkerung, die «dafür» stimmt) leben im sowjetischen Mittelalter, und da gibt es keine Gadgets.

Wir, die Minderheit, die «dagegen» stimmt, haben eine historische Niederlage erlitten - das höre ich in der letzten Zeit immer häufiger. Blickt man zurück auf die neunziger Jahre, muss man zugeben, dass diese Worte ein Körnchen Wahrheit enthalten: Im Unterschied zu den heutigen russischen Machthabern waren wir «ineffiziente Manager» - in der Euphorie der Freiheit, die über uns hereingebrochen war, stiessen wir keinen Espenpfahl in den sowjetischen Sarg. Heute verstehe ich, dass ein Land, in dem, wie man bei uns sagt, «die eine Hälfte gesessen und die andere sie eingesperrt hat», dafür weit mehr Zeit benötigt als fünfundzwanzig relativ demokratische Jahre.

Es mag anmassend klingen, aber wenn ich am Schreibtisch sitze, scheint mir zuweilen, ich würde von neuem auf dem Platz stehen und meine Kinder verteidigen. Aber mir tun auch die anderen leid - diejenigen, die an eine «sowjetische Zukunft» glauben. Wenn ihnen diese Pestilenz schon nicht erspart bleibt, so hoffe ich zumindest, dass sie nicht die schwerste Form von Sowjetnostalgie durchmachen müssen.


Elena Chizhova, 1957 geboren, lebt als Schriftstellerin in St. Petersburg. Sie ist Direktorin des Petersburger PEN. Ihre bisher acht Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, 2009 erhielt sie den angesehenen russischen Booker-Preis für ihren Roman «Die stille Macht der Frauen» (dtv 2012). - Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.

Samstag, 21. September 2013

Die Theaterwohnung 3 - Dank an Heinrich Böll


Grad vor zwei Tagen, am Vorabend meines 55. Geburtstages, stehe ich gegen 21 Uhr im Souterrain eines typischen Bremer Hauses - alle Zimmer sind frisch und fröhlich renoviert, nur dieser Keller wurde  noch nicht erreicht, aber bereits vermietet - an mich. 
Obwohl schon weiß gestrichen, gibt es bisher nur Licht aus einer einsamen Wandlampe, an der gegenüberliegenden Wand ragen ziellos Kabel aus der Wand, eine weitere Leuchte bleibt desinteressiert dunkel. Kacheln sind schon ausgelegt, aber noch nicht angeklebt, die Fußbodenleisten harren ihrer baldigen Anbringung. Das Mobiliar besteht aus einem grünen Teppich, einem ebenso grünen Stuhl, einem halbfertigen Regal und einem Doppelbett, dieses allerdings liebevoll bezogen. IKEA - du weltumspannende Zauberfee. Das Fenster, zimmerbreit und wandhoch, schaut auf etwas, dass im nächsten Jahr, wenn die Bauarbeiten beendet sein werden, ein wunderschöner Garten wird. 
Und da stehe ich, beinahe ein halbes Jahrhundert plus fünf Jahre alt und bleibe ruhig und weine nicht. Dies wird meine Bleibe für die nächsten zwei Monate sein. 
Meine Fragen beantwortet die ganz zauberhafte und sehr junge Vermieterin mit einem vorsichtigen "Vielleicht sind Ihre Ansprüchen zu ...?". Und, weil ich ziemlich alt und entspannt und, mich selbst überraschend, humorvoll bin, antworte ich: "Nein, ich glaube, dass ist nicht wirklich das Problem." Ist das Zen, oder was? Übrigens, das versprochenen Internet funktioniert auch nicht.
Nun ist es drei Tage später und die Welt, oder zumindest meine Theaterwohnung schon viel bewohnbarer. Ich bin, dank einiger hilfreicher Kollegen, dankbare Besitzerin eines Tisches, einer Arbeits- und auch einer Nachttischlampe, das Internet funktioniert, und alles andere wird schon. Budjet, budjet, wie die Kollegen aus der lang untergegangenen UdSSR immer zu sagen pflegten. Und in meiner unmittelbaren Nachbarschaft gibt es einen preiswürdigen Käseladen und ein sehr gutes Fischgeschäft, und Bremen hat überhaupt mehrere Kinos und einige nicht-rauchfreie Kneipen und heute früh war der Himmel über dem zerrauften zukünftigen Garten zartrosa. UND, ja das UND macht die Sache rUND, die Proben haben ganz wunderbar begonnen. Ich schaue in wache, kritische und lustige Augen und die harterschwitzte Strichfassung der überwältigenden 200 000 Seiten Shakespeare trifft auf Interesse und Zustimmung.
What the fuck could I be complaining about?
Und ich erinnere mich plötzlich, dass ich vor vielen Jahren, irgendwann in der mittleren Pubertät, als ich praktisch alles Erreichbare von Heinrich Böll gelesen habe, mir eine kleine Bemerkung über das irische Sprichwort "Es hätte noch schlimmer kommen können" - "It could have been worse", tiefen Eindruck gemacht hat.

Aus dem IRISCHEN TAGEBUCH von Heinrich Böll

Passiert einem in Deutschland etwas, versäumt man den Zug, bricht man ein Bein, macht man Pleite, so sagen wir: Schlimmer hätte es nicht kommen können; immer ist das, was passiert, gleich das Schlimmste – bei den Iren ist es fast umgekehrt: bricht man hier ein Bein, versäumt man den Zug, macht man Pleite, so sagen sie: It could be worse – es könnte schlimmer sein: man hätte statt des Beines den Hals brechen, statt des Zuges den Himmel versäumen und statt Pleite zu machen, hätte man seinen Seelenfrieden verlieren können, wozu bei einer Pleite durchaus kein Anlaß ist. Was passiert, ist nie das Schlimmste, sondern das Schlimmere ist nie passiert: stirbt einem die geliebte und hochverehrte Großmutter, so hätte ja auch noch der geliebte und hochverehrte Großvater sterben können; brennt der Hof ab, die Hühner werden aber gerettet, so hätten ja auch noch die Hühner verbrennen können, und verbrennen sie gar: nun – das Schlimmere: daß man selbst gestorben wäre, ist ja nicht passiert. Stirbt man gar, nun, so ist man aller Sorgen ledig, denn jedem reuigen Sünder steht der Himmel offen, das Ziel mühseliger irdischer Pilgerschaft – nach gebrochenen Beinen, versäumten Zügen, lebend überstandenen Pleiten verschiedener Art.

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