Samstag, 21. September 2013

Die Theaterwohnung 3 - Dank an Heinrich Böll


Grad vor zwei Tagen, am Vorabend meines 55. Geburtstages, stehe ich gegen 21 Uhr im Souterrain eines typischen Bremer Hauses - alle Zimmer sind frisch und fröhlich renoviert, nur dieser Keller wurde  noch nicht erreicht, aber bereits vermietet - an mich. 
Obwohl schon weiß gestrichen, gibt es bisher nur Licht aus einer einsamen Wandlampe, an der gegenüberliegenden Wand ragen ziellos Kabel aus der Wand, eine weitere Leuchte bleibt desinteressiert dunkel. Kacheln sind schon ausgelegt, aber noch nicht angeklebt, die Fußbodenleisten harren ihrer baldigen Anbringung. Das Mobiliar besteht aus einem grünen Teppich, einem ebenso grünen Stuhl, einem halbfertigen Regal und einem Doppelbett, dieses allerdings liebevoll bezogen. IKEA - du weltumspannende Zauberfee. Das Fenster, zimmerbreit und wandhoch, schaut auf etwas, dass im nächsten Jahr, wenn die Bauarbeiten beendet sein werden, ein wunderschöner Garten wird. 
Und da stehe ich, beinahe ein halbes Jahrhundert plus fünf Jahre alt und bleibe ruhig und weine nicht. Dies wird meine Bleibe für die nächsten zwei Monate sein. 
Meine Fragen beantwortet die ganz zauberhafte und sehr junge Vermieterin mit einem vorsichtigen "Vielleicht sind Ihre Ansprüchen zu ...?". Und, weil ich ziemlich alt und entspannt und, mich selbst überraschend, humorvoll bin, antworte ich: "Nein, ich glaube, dass ist nicht wirklich das Problem." Ist das Zen, oder was? Übrigens, das versprochenen Internet funktioniert auch nicht.
Nun ist es drei Tage später und die Welt, oder zumindest meine Theaterwohnung schon viel bewohnbarer. Ich bin, dank einiger hilfreicher Kollegen, dankbare Besitzerin eines Tisches, einer Arbeits- und auch einer Nachttischlampe, das Internet funktioniert, und alles andere wird schon. Budjet, budjet, wie die Kollegen aus der lang untergegangenen UdSSR immer zu sagen pflegten. Und in meiner unmittelbaren Nachbarschaft gibt es einen preiswürdigen Käseladen und ein sehr gutes Fischgeschäft, und Bremen hat überhaupt mehrere Kinos und einige nicht-rauchfreie Kneipen und heute früh war der Himmel über dem zerrauften zukünftigen Garten zartrosa. UND, ja das UND macht die Sache rUND, die Proben haben ganz wunderbar begonnen. Ich schaue in wache, kritische und lustige Augen und die harterschwitzte Strichfassung der überwältigenden 200 000 Seiten Shakespeare trifft auf Interesse und Zustimmung.
What the fuck could I be complaining about?
Und ich erinnere mich plötzlich, dass ich vor vielen Jahren, irgendwann in der mittleren Pubertät, als ich praktisch alles Erreichbare von Heinrich Böll gelesen habe, mir eine kleine Bemerkung über das irische Sprichwort "Es hätte noch schlimmer kommen können" - "It could have been worse", tiefen Eindruck gemacht hat.

Aus dem IRISCHEN TAGEBUCH von Heinrich Böll

Passiert einem in Deutschland etwas, versäumt man den Zug, bricht man ein Bein, macht man Pleite, so sagen wir: Schlimmer hätte es nicht kommen können; immer ist das, was passiert, gleich das Schlimmste – bei den Iren ist es fast umgekehrt: bricht man hier ein Bein, versäumt man den Zug, macht man Pleite, so sagen sie: It could be worse – es könnte schlimmer sein: man hätte statt des Beines den Hals brechen, statt des Zuges den Himmel versäumen und statt Pleite zu machen, hätte man seinen Seelenfrieden verlieren können, wozu bei einer Pleite durchaus kein Anlaß ist. Was passiert, ist nie das Schlimmste, sondern das Schlimmere ist nie passiert: stirbt einem die geliebte und hochverehrte Großmutter, so hätte ja auch noch der geliebte und hochverehrte Großvater sterben können; brennt der Hof ab, die Hühner werden aber gerettet, so hätten ja auch noch die Hühner verbrennen können, und verbrennen sie gar: nun – das Schlimmere: daß man selbst gestorben wäre, ist ja nicht passiert. Stirbt man gar, nun, so ist man aller Sorgen ledig, denn jedem reuigen Sünder steht der Himmel offen, das Ziel mühseliger irdischer Pilgerschaft – nach gebrochenen Beinen, versäumten Zügen, lebend überstandenen Pleiten verschiedener Art.

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3 Kommentare:

  1. Et hätt noch immer jot jejange...

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  2. Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende...
    Oscar Wilde

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  3. Anne Mechling-Stier schrieb:

    Bei meinen sieben Bitterfelder Tanten hiess das immer: "Nichts Schlimmes dauert zehn Jahre!"...

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