Hartmann Schedel, Liber Chronicarum, Detail: Totentanz Holzschnitt von Michel Wolgemut und Wilhelm Pleydenwurff gedruckt bei Anton Koberger, Nuernberg 1493
Eindrücke aus dem Theater
Für mich ist das wichtigste in einer Tragödie der sechste Aufzug:
die Auferstehung vom Schlachtfeld der Bühne,
das Zupfen an den Perücken, Gewändern,
das Entfernen des Dolchs aus der Brust,
das Lösen der Schlinge vom Hals,
der muntere Auftritt in einer Reihe
mit dem Gesicht zum Parkett.
Verbeugung, einzeln, gemeinsam:
die weiße Hand auf der Wunde des Herzens,
die Knickse der Selbstmörderin,
das Nicken geköpfter Häupter.
Verbeugungen paarweise:
die Wut Arm in Arm mit der Sanftmut,
das Opfer blickt selig ins Auge des Henkers,
Rebell und Tyrann gehen friedlich nebeneinander.
Der Tritt der Ewigkeit mit der Spitze des goldnen Pantoffels.
Das Fortfegen der Moral mit der Krempe des Hutes.
Die unverbesserliche Bereitschaft, alles zu wiederholen.
Der Einzug im Gänsemarsch der früher Verstorbenen,
im zweiten, im vierten Akt, auch zwischen den Akten.
Die wunderbare Rückkehr der spurlos Verschollnen.
Zu denken, dass sie geduldig hinter Kulissen warteten,
immer noch kostümiert,
ohne sich abzuschminken,
rührt mich stärker als alle Tiraden des Dramas.
Wahrhaft erhaben aber ist das Fallen des Vorhangs
und was man noch durch den unteren Spalt sieht:
da hebt eine Hand die Blume eilig vom Boden,
dort eine andere das liegengelassene Schwert.
Erst dann erfüllt sich die unsichtbare dritte
ihre Verpflichtung:
sie schnürt mir die Kehle.
Wislawa Szymborska
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