Eine Freundin hat mir einen Text geschickt und ich denke, er sollte von möglichst vielen Menschen gelesen werden.
Am letzten Freitag hat Prof. Dr. Ines Geipel in Potsdam vor
der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von
Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen
Rechtsstaat im Land Brandenburg“ eine kurze Rede gehalten.
Der Sport in Brandenburg, eine geschlossene Gesellschaft
Herzlichen
Dank für die
Möglichkeit, hier, vor Ihnen, ein paar Sätze zur Aufarbeitung
des
DDR-Sportsystems und zum Transformationsprozess nach 1989 im
Land Brandenburg
sagen zu können. In meinen Augen wird Geschichte, werden
Umbruchsprozesse am
sinnfälligsten an konkreten Leben. Erlauben Sie mir deshalb, in
aller Kürze eines
vorzustellen. Das deshalb, weil an ihm der Sport der DDR, vor
allem aber seine
Nachgeschichte gleichermaßen symbolisch ablesbar sind.
Es
geht dabei um Birgit Uibel, die unmittelbar nach dem Mauerbau,
im Oktober 1961
in Belten, mitten im Braunkohleherz Vetschau, geboren wurde.
Vetschau, das hieß
eines der größten Kohlekraftwerke der DDR, in dem auch die
Eltern von Birgit
Uibel arbeiteten. Da die ältere Tochter sportlich talentiert
war, begann sie früh
mit dem Training. Als sie 14 war, wurde sie in die Kinder- und
Jugendsportschule in Cottbus aufgenommen. Mit 16 Jahren und
damit als
Minderjährige erhielt sie vom Cottbuser Chefarzt Bodo Krocker -
Mannschaftsarzt
der DDR-Leichtathletik, Bezirkssportarzt und Stasi-IM mit
Decknamen „Wartburg“,
ab 1981 auch IME, also im Status eines Experten-IMs - erstmals
männliche
Sexualhormone. Das Mauerkind Birgit Uibel lief mit Hilfe der
verabreichten Steroide
in die Langsprint-Spitze der DDR, wurde 1982 bei den
Europameisterschaften in
Athen Sechste im 400 Meter-Hürdenlauf und gehörte ab da zur
Weltspitze. 1981
machte sie ihr Abitur und heiratete. Trotz Einnahme der Pille
wurde Birgit
Uibel 1983 schwanger. Das Paar wollte das Kind, aber
Parteileitung und
Sportclubleitung entschieden anders. Schließlich kam vom
Verbandstrainer die
unmissverständliche Auflage, Birgit Uibel habe den
Schwangerschaftsabbruch in
der Berliner Charité vornehmen zu lassen. Der Eingriff erfolgte
umgehend. Nach
dem Abbruch wurde eine Hormonbehandlung angeordnet. Als Birgit
Uibel zum
zweiten Mal schwanger wurde, kam die prompte Order von Seiten
der Cottbuser
Clubleitung, den Sport an den Nagel zu hängen. Aufgrund der
zeitnahen doppelten
Hormondosierungen gestaltete sich die zweite Schwangerschaft als
kompliziert.
Das Kind wurde 1985 als Frühchen geboren, musste sieben Wochen
künstlich
beatmet werden. Da es sich auf der Intensivstation schwer
infizierte, kam es zu
körperlichen Behinderungen der Tochter. Die Sorge um das Kind,
das neue Leben
nach dem Sport, die unerkannten Dopingfolgen, eine aus dem Takt
gekommene Ehe –
die Jahre vor dem Mauerfall waren für Birgit Uibel nicht leicht.
Aber auch nach
1989 gelang es ihr nicht, das eigene Leben zu konsolidieren. Sie
studierte,
allerdings gab es zu der Zeit in Cottbus für sie keine Stelle.
1993 wurde die
Ehe geschieden. Die Tochter musste mehrfach operiert werden und
erhielt zwei
künstliche Hüftgelenke. Auch wurde Birgit Uibel selbst ernsthaft
krank. Leber,
Schilddrüsen und Psyche streikten.
Was
Mitte
der neunziger Jahre noch nach Lebenssuche aussah, glich zehn
Jahre später - nach
den erlittenen Deformationen im DDR-Sport - einer zweiten
seelischen
Enteignung. Hatte sich Birgit Uibel durch ihre klare Aussagen
beim Berliner
Dopingprozess aktiv an der Aufklärung des kriminellen DDR-Sports
beteiligt, wurde
sie, wie Freunde berichteten, in Cottbus, vor allem durch den
`inner circle`
des Cottbuser Sports, diskreditiert, ausgegrenzt und zunehmend
isoliert. Sie
sei immer wieder verleumdet worden, erzählte auch ihre Mutter.
Dazu kamen ständig
wechselnde Jobs, Schulden, Krankheiten, chronische
Klinikaufenthalte und
Alkohol, die ab da die Oberhand über ihr Leben gewannen. Der Tod
ist keine
einfache Faktizität. Birgit Uibel starb am 10. Januar 2010, mit
48 Jahren. Als
Todesursache steht in ihrem Totenschein: „keine“.
Ihr
Trainer
Siegfried Elle äußerte nach dem Tod seiner Athletin: „Wenn Frau
Uibel damals
Dopingmittel bekommen hat, dann hat sie davon gewusst. Ich
jedenfalls habe ihr
kein Doping verabreicht und fühle mich auch nicht schuldig.“ Der
dopingverabreichende Arzt Bodo Krocker, in Cottbus noch immer
ein
hochrenommierter Arzt, kann sich nicht einmal an seinen eigenen
Stasi-Namen
erinnern. Die Schlussfolgerung, er sei in der DDR IM „Wartburg“
gewesen, sei
total falsch, mutmaßte er in einem Interview. Er kenne diesen
Namen nicht und
möchte sich auch nicht dazu äußern. Sportclub-Chef von Cottbus
Dr. Werner
Bielagk, der 1982 zu „Belastungsverträglichkeit bei
Nachwuchssportlern“
promoviert hatte, besetzte nach 1990 Schlüsselfunktionen im
vereinten Sport des
Landes Brandenburg und wurde Leiter des Olympiastützpunktes
Cottbus/Frankfurt
sowie Vorsitzender des Landesausschusses Leistungssport im LSB
Brandenburg. In
einem Interview wusste er zu berichten: „Klar wurden
unterstützende Mittel eingesetzt,
aber das war immer eine Sache zwischen Trainer, Arzt und Athlet.
Vieles dazu
ist mir erst nach der Wende bekannt geworden.“ Und weiter: „Mit
der Gründung
des Landessportbundes Brandenburg brachten wir einen gut
funktionierenden
Leistungssport in den deutschen Sport ein.“
Wo
hätte
Birgit Uibel bei dieser Phalanx des Verleugnens, konkreter der
Lüge, bei all der
Abwehr von Verantwortung, dem Zynismus, der personellen
Kontinuität belasteter
Leute und dem sich daraus zwangsläufig ergebenden Filz Hilfe
erwarten können? Wer
hätte die Dynamik und Tragik ihres Lebens sehen und das multiple
Trauma
entsprechend wahrnehmen oder gar auffangen können? Noch im
Frühjahr 2011 kann
man die Verstorbene bei einem Internet-Werbeauftritt ihrer alten
Schule
ausfindig machen. Da heißt es: „1975 wurden die neuen Gebäude
eingeweiht, und
die Athleten dankten es in den folgenden Jahren mit
hervorragenden Leistungen
in den internationalen Sportarenen im Junioren- und
Erwachsenenbereich.
Leichathleten wie Rosemarie Ackermann, die als erste Frau der
Welt die 2 Meter
übersprang, Gloria Siebert, Karin Roßley, Birgit Uibel (†) [...] vertraten erfolgreich die Farben des
Sportclubs
Cottbus und brachten zahlreiche
Medaillen
von Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften mit nach Hause.“
Schwer
vorstellbar, dass Birgit Uibel gegen diese Art historischen
Etikettenschwindel
nicht Einspruch erhoben hätte. Der Eintrag wurde auf Nachfrage
gelöscht.
Was
allen
Geschädigten des Systems, egal, ob sie aus politischen Gründen
aus dem
DDR-Sport rausgeschmissen wurden, ob sie im Gefängnis saßen oder
Opfer
politischen Dopings wurden, aktuell schwer zu schaffen macht,
ist der bis heute
ausgebliebene Mentalitätsbruch im Landessport und damit auch der
unübersehbare
Mangel jedweden Satisfaktionsbedarfs. Der Kanute Thomas Kersten,
1974 wegen
vermeintlicher „politischer Unehrlichkeit“ in übler Weise aus
dem
Armeesportclub Potsdam geworfen, bringt es im Gespräch auf den
Punkt: „An wen
soll ich mich denn mit meiner Geschichte heute wenden? An den
Trainer, den Landessportbund,
die lokalen Medien, die Politik? Die spielen doch alle auf
amnestisch.“
In der Stasi-Akte über Thomas Kersten
berichtet sein
ehemaliger Trainer Dieter Krause als IM „Reiner Lesser“. Ebenso
Auswahl-Coach
Klaus Weber aus Cottbus alias IM „Bruno Baum“, der nach 1989,
vom BMI bezahlt,
den Strömungskanal in Potsdam betreute. Daneben findet sich aber
auch Günther
Staffa als IM „Schade“, heute tätig als Geschäftsführer Sport im
Landessportbund. Dass noch immer ein seltsam verzahntes
Stasi-Organigramm im
Sport Brandenburg aktiv ist, gehört längst zur Doppelhypothek
des deutschen
Sports vor und nach 1989, belastet aber auch die Landespolitik.
Ein
Organigramm, das wann aufgeklärt wird? Warum nicht eine seriöse
personelle
Überprüfung im LSB-Präsidium und in den Präsidien der
Landesfachverbände, an
den Ausbildungseinrichtungen des Sports sowie der Trainer,
Funktionäre und
Mediziner.
Und
die
Medien? Erinnert sei kursorisch an zwei Symbolfälle: an den
ORB-Sportchef und
späteren ORB-Chefredakteurder dann Sportkoordinator der ARD
wurde, an Hagen
Boßdorf alias „Florian Werfer“ sowie an Manfred Mohr, ehemaliger
Stasi-Hauptmann, später freier Sportreporter bei der „Märkischen
Allgemeinen
Zeitung“. Doch auch ohne die Negativlegenden ist ein
funktionierender kritischer
Sportjournalismus in Brandenburg bis auf Weiteres eine
Black-Box. Das musste
auch Thomas Kersten erfahren, als er im Frühjahr 1993 mit seinem
Rausschmiss aus
dem ASK an die Öffentlichkeit ging. Horst Sperfeld, schon zu
DDR-Zeiten
Sportjournalist des regionalen SED-Blattes, schrieb unter dem
Titel „Schmieriges“
in der MAZ: „Muss Thomas Kersten selbst noch eine Gräuel-Story
draufsetzen? Kein
Abtrainieren, keine medizinische Betreuung – von einem Tag zum
anderen, so
seine Geschichte. Kaum vorstellbar. Würde ein Leistungssportler
nach hartem
Training so plötzlich aufhören, könnte er dies kaum ohne schwere
gesundheitliche Schäden überstehen.“ Aktuelle
Sportberichterstattung unter dem MAZ-Ressortleiter
Jens Trommer lebt vom konsequenten Einfühlungsversäumnis
gegenüber den Opfern
wie von der seltsam ungetrübten Weitererzählung der ruhmvollen
DDR-Ära. Stücke
über die Berliner Doping-Prozesse, investigative Recherchen zum
Landessport? Fehlanzeige.
Fehlanzeige
für
die Malträtierten aber auch in der Politik. Bis auf Manfred
Kruczek, eine
hochengagierte Instanz in der Potsdamer Bürgerrechtsbewegung, so
berichten die
Opfer, wären keine Gegenüber zu erkennen, die sich für ihre
Belange interessierten,
geschweige denn einsetzten. Ende 1990 hatte Thomas Kersten vom
Deutschen
Kanu-Sport-Verband ein unverbindliches Entschuldigungsschreiben
erhalten: „Das
neu gewählte Präsidium und die Delegierten des
„Außerordentlichen
Verbandstages“, hieß es in ihm, „bekräftigten Deine vollständige
moralische
Rehabilitierung. In ihrem Namen bitten wir Dich um
Entschuldigung für
erlittenes Unrecht.“ Das war`s. Ein pathetischer Schlussstrich
unter einen
ausgelöschten Lebenstraum. Sieht so echte Rehabilitierung aus?
Die Politik in
Brandenburg hat ihre Sorgfaltspflicht gegenüber dem Sport seit
1990 sträflich
vernachlässigt, nicht nur gegenüber den Opfern, sondern
insbesondere auch in
der Frage der Evaluierung der Landesfachverbände. Nach dem Ende
der
juristischen Aufarbeitung im Jahr 2000 konnten Altlasten
stillschweigend in die
Strukturen zurückrudern und jüngere Leute generieren, die recht
unverblümt
einem neuen Chauvinismus Ost frönen. Auf diese Weise hat sich
der Sport in
Brandenburg zu einem Biotop, zu einer geschlossenen
Gesellschaft, entwickelt,
der Sieg, Medaillen und Rekorde über alles geht.
Die
eigentlich drängende Frage jedoch bei aller Schadensbilanz ist,
ob die Zugriffs-
und Verzweckungskonzepte des DDR-Sports mittlerweile tatsächlich
der
Vergangenheit angehören. Wurde hier der klare Bruch gemacht und
wirklich neues
Land gewonnen? Auf der Suche nach einer Antwort auf die
Nachlassregelung im
Hinblick auf die Begabtenlandschaft DDR muss der Weg
zwangsläufig noch einmal
an die Lausitzer Sportschule Cottbus führen, da, wo Birgit Uibel
einst ihr
Abitur machte. Dort, wie in Potsdam und Frankfurt/Oder, an den
drei
„Eliteschulen des Sports“ Brandenburgs, wird seit einigen Jahren
mit aller
Verve und ordentlich viel Geld das „Brandenburgische Modell“
oder auch das
System „struktureller Verkopplungen“ umgesetzt, wie einer der
geistigen
Ziehväter des Konzepts, Prof. Albrecht Hummel, Prorektor und
Inhaber der Professur
für Sportpädagogik und –didaktik an der TU Chemnitz, in einem
Interview in der
DOSB-Presse, 47/2010 konstatiert. Da es „zu viele
Reibungsverluste“ in Sachen
Talentförderung für den Spitzensport gegeben habe, sollte „die
bisherige
Mischstruktur von Schule und Verein, das additive Nebeneinander
von Schule und
Leistungssport“ aufgehoben werden. „Das bedeutet:
Leistungssportliche Inhalte
werden vollständig in die Schule und das schulische
Unterrichtsgeschehen
einbezogen. Das leistungssportliche Training findet also
vollständig im Kontext
der Institution Schule statt ... Eine bestimmte
leistungssportlich betriebene
Disziplin wird somit zu einem Unterrichtsfach, grundsätzlich wie
Deutsch oder
Mathematik.“
Schule
als
genuiner Trainingsort? Das Gutachten von Dr. Jutta Braun hat in
aller
Eindrücklichkeit auf die aktuelle Renaissance der Kinder- und
Jugendsportschulen
hingewiesen. Es ist dünnes Eis, auf dem sich das
hochambitionierte Projekt der Brandenburger
„Eliteschulen des Sports“ mit seinen vielen Lehrertrainern
bewegt. Dünn
deshalb, weil im Hinblick auf die derangierten DDR-Konzepte, die
zu viele Hartz
IV-Bezieher und bergeweise seelischen und körperlichen Notstand
wie etwa im
Fall Birgit Uibel produziert haben, keine ausreichend klare
inhaltliche Abgrenzung
und glaubwürdige Transparenz auszumachen ist. Und welchen Sinn
auch machen die
sogenannt neuen „Bildungsverständnisse“ und Konzepte, wenn sie
ein weiteres Mal
zu Lasten der Schule und damit zu Lasten von Lebensperspektiven
hochmotivierter
Begabungen gehen?
Birgit Uibel 30.10.1961 - 10.1. 2010