"Man hat manchmal die Empfindung, als hätten uns unsere Väter, ... uns, den Spätgeborenen, nur zwei Dinge hinterlassen: hübsche Möbel und überfeine Nerven. Die Poesie dieser Möbel erscheint uns als das Vergangene, das Spiel dieser Nerven als das Gegenwärtige. Von den verblaßten Gobelins nieder winkt es mit schmalen weißen Händen und lächelt mit altklugen Quattrocento-Gesichtchen; aus den weißlackierten Sänften von Marly und Trianon, aus den prunkenden Betten der Borgia und der Vendramin hebt sichs uns entgegen und ruft: »Wir hatten die stolze Liebe, die funkelnde Liebe; wir hatten die wundervolle Schwelgerei und den tiefen Schlaf; wir hatten das heiße Leben; wir hatten die süßen Früchte und die Trunkenheit, die ihr nicht kennt.« Es ist, als hätte die ganze Arbeit dieses feinfühligen, eklektischen Jahrhunderts darin bestanden, den vergangenen Dingen ein unheimliches Eigenleben einzuflößen. Jetzt umflattern sie uns, Vampire, lebendige Leichen, beseelte Besen des unglücklichen Zauberlehrlings! Wir haben aus den Toten unsere Abgötter gemacht; alles, was sie haben, haben sie von uns; wir haben ihnen unser bestes Blut in die Adern geleitet; wir haben diese Schatten umgürtet mit höherer Schönheit und wundervollerer Kraft als das Leben erträgt; mit der Schönheit unserer Sehnsucht und der Kraft unserer Träume. Ja alle unsere Schönheits- und Glücksgedanken liefen fort von uns, fort aus dem Alltag, und halten Haus mit den schöneren Geschöpfen eines künstlichen Daseins, mit den schlanken Engeln und Pagen des Fiesole, mit den Gassenbuben des Murillo und den mondänen Schäferinnen des Watteau.
Bei uns aber ist nichts zurückgeblieben als frierendes Leben, schale, öde Wirklichkeit, flügellahme Entsagung. Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung. Wir schauen unserem Leben zu; wir leeren den Pokal vorzeitig und bleiben doch unendlich durstig: denn, wie neulich Bourget schön und traurig gesagt hat, der Becher, den uns das Leben hinhält, hat einen Sprung, und während uns der volle Trunk vielleicht berauscht hätte, muß ewig fehlen, was während des Trinkens unten rieselnd verlorengeht; so empfinden wir im Besitz den Verlust, im Erleben das stete Versäumen. Wir haben gleichsam keine Wurzeln im Leben und streichen, hellsichtige und doch tagblinde Schatten, zwischen den Kindern des Lebens umher.
Wir! Wir! Ich weiß ganz gut, daß ich nicht von
der ganzen großen Generation rede. Ich rede von ein paar tausend
Menschen, in den großen europäischen Städten verstreut. Ein paar davon
sind berühmt; ein paar schreiben seltsam trockene, gewissermaßen
grausame und doch eigentümlich rührende und ergreifende Bücher; einige,
schüchtern und hochmütig, schreiben wohl nur Briefe, die man fünfzig,
sechzig Jahre später zu finden und als moralische und psychologische
Dokumente aufzubewahren pflegt; von einigen wird gar keine Spur
übrigbleiben, nicht einmal ein traurig-boshaftes Aphorisma oder eine
individuelle Bleistiftnotiz, an den Rand eines vergilbten Buches
gekritzelt.
Trotzdem haben diese zwei- bis dreitausend
Menschen eine gewisse Bedeutung: es brauchen keineswegs die Genies, ja
nicht einmal die großen Talente der Epoche unter ihnen zu sein; sie sind
nicht notwendigerweise der Kopf oder das Herz der Generation: sie sind
nur ihr Bewußtsein. Sie fühlen sich mit schmerzlicher Deutlichkeit als
Menschen von heute; sie verstehen sich untereinander, und das
Privilegium dieser geistigen Freimaurerei ist fast das einzige, was sie
im guten Sinne vor den übrigen voraushaben. Aber aus dem Rotwelsch, in
dem sie einander ihre Seltsamkeiten, ihre besondere Sehnsucht und ihre
besondere Empfindsamkeit erzählen, entnimmt die Geschichte das Merkwort
der Epoche..."
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze 1–3. Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 174-185,479-480.
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze 1–3. Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 174-185,479-480.
Hugo von Hofmannsthal 1910 auf einer Fotografie von Nicola Perscheid