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Freitag, 4. Oktober 2013

Tag der Republik - Unsere Hymne


Wir, ich meine, mich und all die anderen Deutschen, haben, soweit ich weiss, die peinlichste Hymne von allen denkbaren. Deutschland, und noch einmal wiederholt, Deutschland über ALLES? Über was? Über China? Über die Türkei? Überdrüssig? Übermütig? Überhaupt?
Hanns Eisler, der Komponist der DDRischen Hymne hat es auch nicht besser hingekriegt, und Johannes R. Becher, verkrampft und verwirrt, lieferte den öden, pseudo-optimistischen Text dazu. Brecht hat ein anderes Angebot gemacht, die Anekdote behauptet, er hätte erstmal "Wir sind ein Scheißvolk" vorgeschlagen - dies wurde nicht angenommen, warum wohl?
Was ist das - ein Volk? Mehrere Millionen Menschen, die sich, in Folge von zufällig entstandenen Konstellationen infolge der Völkerwanderungen, eine geographisch definierte Gegend teilen, eine Sprache? Nation bleibt ein Mysterium für mich. Ich liebe die deutsche Sprache, ich liebe einige Gegenden, die innerhalb des als Deutschland definierten Gebietes liegen. Aber liebe ich Deutschland? Was ist das überhaupt?
Ich mag es, wenn es Buletten, Bach und Büchner vage umschreibt. Aber ich stehe ihm völlig fremd gegenüber, wenn damit ein Recht auf ein Gebiet, eine Qualität gegenüber anderen Völkern definiert wird. Ich bin alles mögliche. Aus Berlin, jüdisch geprägt, deutsch sprechend, weiblich, anglophil. Ich habe Wurzeln in vielen Kulturen, in Hollywood Filmen und in englischen Krimis und deutschen Gedichten. Ich liebe thüringische Leberwurst und französische Croissants und sweet & sour pork.
Ich soll stolz ein Deutscher zu sein? Warum? Was ist meine anteilige Leistung daran? Ich bin stolz ein Jude zu sein? Ebenso.
Ich bin stolz. Auf was? Auf mich.

Kinderhymne

Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land

Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir's
Und das liebste mag's uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.

Bertolt Brecht

Das Lied der Deutschen, auch Deutschlandlied oder seltener Hoffmann-Haydn’sches Lied genannt, wurde von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben am 26. August 1841 auf der – seinerzeit britischen – Insel Helgoland gedichtet. Das Lied wurde am 5. Oktober 1841 auf dem Jungfernstieg in Hamburg erstmals öffentlich gesungen. Die Melodie stammt ursprünglich aus dem 1797 entstandenen Kaiserlied von Joseph Haydn, der offiziellen Volkshymne „Gott erhalte Franz, den Kaiser“ für den damaligen römisch-deutschen Kaiser Franz II. aus dem Haus Österreich. Später verwendete Haydn diese Melodie im zweiten Satz des Kaiserquartetts. Hoffmann von Fallersleben stellte durch die Verwendung der bekannten Melodie für den Kaiser eine Verbindung zum Alten Reich her. Im Mittelpunkt seines Liedes stand jedoch nicht mehr ein Monarch, sondern die Nation selbst.

Samstag, 21. September 2013

Die Theaterwohnung 3 - Dank an Heinrich Böll


Grad vor zwei Tagen, am Vorabend meines 55. Geburtstages, stehe ich gegen 21 Uhr im Souterrain eines typischen Bremer Hauses - alle Zimmer sind frisch und fröhlich renoviert, nur dieser Keller wurde  noch nicht erreicht, aber bereits vermietet - an mich. 
Obwohl schon weiß gestrichen, gibt es bisher nur Licht aus einer einsamen Wandlampe, an der gegenüberliegenden Wand ragen ziellos Kabel aus der Wand, eine weitere Leuchte bleibt desinteressiert dunkel. Kacheln sind schon ausgelegt, aber noch nicht angeklebt, die Fußbodenleisten harren ihrer baldigen Anbringung. Das Mobiliar besteht aus einem grünen Teppich, einem ebenso grünen Stuhl, einem halbfertigen Regal und einem Doppelbett, dieses allerdings liebevoll bezogen. IKEA - du weltumspannende Zauberfee. Das Fenster, zimmerbreit und wandhoch, schaut auf etwas, dass im nächsten Jahr, wenn die Bauarbeiten beendet sein werden, ein wunderschöner Garten wird. 
Und da stehe ich, beinahe ein halbes Jahrhundert plus fünf Jahre alt und bleibe ruhig und weine nicht. Dies wird meine Bleibe für die nächsten zwei Monate sein. 
Meine Fragen beantwortet die ganz zauberhafte und sehr junge Vermieterin mit einem vorsichtigen "Vielleicht sind Ihre Ansprüchen zu ...?". Und, weil ich ziemlich alt und entspannt und, mich selbst überraschend, humorvoll bin, antworte ich: "Nein, ich glaube, dass ist nicht wirklich das Problem." Ist das Zen, oder was? Übrigens, das versprochenen Internet funktioniert auch nicht.
Nun ist es drei Tage später und die Welt, oder zumindest meine Theaterwohnung schon viel bewohnbarer. Ich bin, dank einiger hilfreicher Kollegen, dankbare Besitzerin eines Tisches, einer Arbeits- und auch einer Nachttischlampe, das Internet funktioniert, und alles andere wird schon. Budjet, budjet, wie die Kollegen aus der lang untergegangenen UdSSR immer zu sagen pflegten. Und in meiner unmittelbaren Nachbarschaft gibt es einen preiswürdigen Käseladen und ein sehr gutes Fischgeschäft, und Bremen hat überhaupt mehrere Kinos und einige nicht-rauchfreie Kneipen und heute früh war der Himmel über dem zerrauften zukünftigen Garten zartrosa. UND, ja das UND macht die Sache rUND, die Proben haben ganz wunderbar begonnen. Ich schaue in wache, kritische und lustige Augen und die harterschwitzte Strichfassung der überwältigenden 200 000 Seiten Shakespeare trifft auf Interesse und Zustimmung.
What the fuck could I be complaining about?
Und ich erinnere mich plötzlich, dass ich vor vielen Jahren, irgendwann in der mittleren Pubertät, als ich praktisch alles Erreichbare von Heinrich Böll gelesen habe, mir eine kleine Bemerkung über das irische Sprichwort "Es hätte noch schlimmer kommen können" - "It could have been worse", tiefen Eindruck gemacht hat.

Aus dem IRISCHEN TAGEBUCH von Heinrich Böll

Passiert einem in Deutschland etwas, versäumt man den Zug, bricht man ein Bein, macht man Pleite, so sagen wir: Schlimmer hätte es nicht kommen können; immer ist das, was passiert, gleich das Schlimmste – bei den Iren ist es fast umgekehrt: bricht man hier ein Bein, versäumt man den Zug, macht man Pleite, so sagen sie: It could be worse – es könnte schlimmer sein: man hätte statt des Beines den Hals brechen, statt des Zuges den Himmel versäumen und statt Pleite zu machen, hätte man seinen Seelenfrieden verlieren können, wozu bei einer Pleite durchaus kein Anlaß ist. Was passiert, ist nie das Schlimmste, sondern das Schlimmere ist nie passiert: stirbt einem die geliebte und hochverehrte Großmutter, so hätte ja auch noch der geliebte und hochverehrte Großvater sterben können; brennt der Hof ab, die Hühner werden aber gerettet, so hätten ja auch noch die Hühner verbrennen können, und verbrennen sie gar: nun – das Schlimmere: daß man selbst gestorben wäre, ist ja nicht passiert. Stirbt man gar, nun, so ist man aller Sorgen ledig, denn jedem reuigen Sünder steht der Himmel offen, das Ziel mühseliger irdischer Pilgerschaft – nach gebrochenen Beinen, versäumten Zügen, lebend überstandenen Pleiten verschiedener Art.

 Unten

 Oben

Donnerstag, 5. September 2013

Theater hat auch VORFREUDE


Ich liebe Wiki! Sie hat oft die schönsten, weil trockensten Definitionen für fast alles, was ich kurz und bündig definieren möchte.

Heute also Vorfreude: Die Vorfreude ist eine Emotion, die durch die Erwartung eines künftigen, positiven Ereignisses gekennzeichnet ist. Sie wird durch das Eintreffen dieses Ereignisses beendet. Die Vorfreude geht sowohl semantisch als auch zeitlich der Freude voran. 

Manchmal geht sie auch der Enttäuschung voran und ich finde es ist gut, dass ich im
Vornherein nicht weiß, welches Gefühl folgen wird, denn sonst würde sie ja manches Mal Vorenttäuschung heißen, und das ist doch ein wirklich häßlich klingendes Wort.

Ich bin, ein Geschenk für das ich unendlich dankbar bin, ein 'das Glas ist doch nun wirklich halbvoll' Mensch. "Hätte immer noch schlimmer kommen können", "Da bin ich gerade noch einmal davon gekommen," "Das wird schon wieder" und ähnliche, durch nichts beweisbare, und doch wahrhaft gefühlte, hoffnungsvolle Phrasen und ein exzellent schlechtes Gedächtnis, erlauben es mir, auch in meinem nunmehr ziemlich hohen Alter, Vorfreude bis zum Exzess zu geniessen. Ja, wenn ich dann einmal wirklich enttäuscht werde, sitzt das tief und das sprichwörtliche Elefantengedächtnis ist dann wirklich eine Crux (Hier hilft Wiki wiedereinmal: Als experimentum crucis (lat. „Kreuzesversuch“) bezeichnet man in der Wissenschaftstheorie ein Experiment, dessen Scheitern die dem Experiment zugrunde liegende Theorie falsifiziert oder überwindet.), ist also ein Kreuz, das ich trage muß, damit mich meine Vorfreude nicht völlig den Boden der Realitäten verlieren läßt.

http://www.fr-online.de/natur/gedaechtnis-von-elefanten-der-elefant-vergisst-nie,5028038,16907966.html

Seit einem halben Jahr sitze ich nun, und, Gott sei Dank, nicht ich allein, sondern eine Freundin und ich, an einer Fassung  aller Königsdramen Shakespeares. Erst nur gelegentlich, dann, mit nahendem Abgabetermin, in immer größerer Dringlichkeit fast ganztägig. Grob siebenhundert Seiten wunderbarer Worte, bestürzender Gedanken und angefüllt mit einer historischen Personage, die mir und meiner Kollaborateurin den Kopf rauchen läßt.
(Versucht mal eine Zusammenfassung des Krieges der Rosen zu lesen, und dann, zehn Minuten später, das Gelesene zu wiederholen. Hoffnungslos. Der Mensch ist ein unzuverlässiges Ding und will sich nicht an die erhofften logischen Abläufe halten.)
Aber ich vorfreue mich auf die Proben. Freue mich darauf, Menschen, die ich bisher nur flüchtig kenne, mit diesem Wust zu konfrontieren. Freue mich darauf, wie sie meine Erwartungen übertreffen, unterlaufen, umgehen werden.
Vorfreude schönste Freude. Oder?


Sonntag, 1. September 2013

ERMUTIGUNG


     Gestern war ich, während der Langen Nacht der Museen, zum ersten Mal im 
     ehemaligen geheimen Staatssicherheits - Untersuchungsgefängnis in Berlin
     Hohenschönhausen. 
     Erst Großküche der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, dann Speziallager
     Nr. 3 der Sowjetischen Armee, ab 1946/47 zentrales Untersuchungs-
     gefängnis der sowjetischen Besatzungsmacht für Deutschland, wurde es 
     1951 von der Staatssicherheit übernommen, zunächst noch unter
     sowjetischer Kontrolle, ab 1953 selbstverwaltet. 
     Ich muß, auch wenn es nur der Besuch einer Gedenkstätte war, das Wort
     Grauen benutzen, ja, man weiß das alles längst und hat Freunde berichten
     gehört und Bücher gelesen, doch der Körper hat eine eigene Art Erfahrungen
     zu machen.
     Nachdem wir einem Rundgang-Führer entflohen waren, der versuchte den
     Schrecken durch schnoddriges und ungenaues Gequatsche zu bannen, sind
     wir zwei Stunden mit einem anderen durch die Gebäude gegangen, der
     mit unpathetischer Genauigkeit und respektvoller Empathie über das 
     Unerträgliche sprach.
     Er kam immer wieder auf die "Inszenierung" der Demütigung zu sprechen.

     Die Staatssicherheit hat sehr viel mit theatralischen Mitteln gearbeitet, und
     ihre Mitarbeiter haben regelrecht szenischen Unterricht gehabt. Wer hat 
     die unterrichtet? Theater des Grauens bekommt hier ein anderes, häßliches 
     Gesicht.
     Sicher, ich weiß, dass Geheimdienste zu vielen Orten und Zeiten, solche
     Methoden angewendet haben. Aber dies hier, war da, wo ich wohnte, in der 
     Zeit, in der ich lebte, Menschen angetan, mit denen ich das Land teilte, 
     auch Freunden, Liebsten.



ERMUTIGUNG


Du, laß dich nicht verhärten
in dieser harten Zeit.
Die allzu hart sind, brechen,
die allzu spitz sind, stechen
und brechen ab sogleich. 

Du, laß dich nicht verbittern
in dieser bittren Zeit.
Die Herrschenden erzittern
- sitzt du erst hinter Gittern -
doch nicht vor deinem Leid.

Du, laß dich nicht erschrecken
in dieser Schreckenszeit.
Das wolln sie doch bezwecken
daß wir die Waffen strecken
schon vor dem großen Streit.

Du, laß dich nicht verbrauchen,
gebrauche deine Zeit.
Du kannst nicht untertauchen,
du brauchst uns und wir brauchen
grad deine Heiterkeit.  

Wir wolln es nicht verschweigen
in dieser Schweigezeit.
Das Grün bricht aus den Zweigen,
wir wolln das allen zeigen,
dann wissen sie Bescheid

Wolf Biermann

Von der Website der Stiftung Gedenkstätte Hohenschönhausen über:
KURT MÜLLER 

Kurt Müller war einer der ranghöchsten kommunistischen Führer in Deutschland, die im Zuge der stalinistischen Säuberungen in der DDR in Haft kamen. 1903 in Berlin geboren, trat der gelernte Werkzeugmacher 1920 in die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ein, für deren Jugendverband er im In- und Ausland als hauptamtlicher Funktionär tätig war. 1932 wurde er als Mitglied einer angeblich "parteifeindlichen Gruppe" aller Funktionen enthoben und als Arbeiter in das sowjetische Autowerk Gorki verschickt. Nach seiner Rückkehr leitete er einige Monate die illegale Arbeit der KPD in Südwestdeutschland. 1934 wurde er durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) verhaftet und saß bis 1945 in verschiedenen Zuchthäusern und Konzentrationslagern ein, die letzten fünf Jahre im KZ Sachsenhausen. Nach seiner Freilassung wurde Müller stellvertretender Vorsitzender der KPD in Westdeutschland und kam 1949 in den ersten Deutschen Bundestag. Im März 1950 beorderte ihn die Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) nach Ost-Berlin und ließ ihn unter Missachtung seiner parlamentarischen Immunität vom DDR-Staatssicherheitsdienst verhaften. Er kam zunächst in die Untersuchungshaftanstalt in der Albrechtstraße in Berlin-Mitte, wo er zeitweise vom damaligen Staatssekretär im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Erich Mielke persönlich verhört wurde. Im August 1950 wurde er dem sowjetischen Ministerium für Staatssicherheit (MGB) übergeben und in deren zentrales Untersuchungsgefängnis in Berlin-Hohenschönhausen, das so genannte U-Boot, überführt. 1951 kam er schließlich in das neue sowjetische Zentralgefängnis in Berlin-Karlshorst. In monatelangen Verhören und unter Anwendung verschiedener Foltermethoden sollte Müller zu einem der Hauptangeklagten eines geplanten Schauprozesses in der DDR gemacht werden. Unter anderem sollte er zugeben, Agent der Gestapo gewesen zu sein und im Auftrag Trotzkis Terrorakte gegen Stalin und andere sowjetische Parteiführer vorbereitet zu haben. Außerdem sollte er erklären, Spionageaufträge Titos und des englischen und amerikanischen Geheimdienstes ausgeführt zu haben. Der Schauprozess wurde jedoch – unter anderem aufgrund von Stalins Tod – nicht durchgeführt. Ein Sondergericht in Moskau verurteilte Müller 1955 statt dessen per Fernurteil zu 25 Jahren Haft. Im Zusammenhang mit der Freilassung der letzten deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen durch die Sowjetunion konnte Müller einige Zeit später in die Bundesrepublik zurückkehren. In einem offenen Brief an den damaligen DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl prangerte er 1956 die unmenschlichen Haftbedingungen in Berlin-Hohenschönhausen an und forderte vergeblich seine Rehabilitierung sowie die Bestrafung der Verantwortlichen. 1957 trat er der SPD bei und arbeitete bis ins hohe Alter als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung. Kurt Müller starb 1990 in Konstanz. 

Brief Kurt Müllers 1956 an den DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl

"Meine Verhaftung am 22. März 1950 in Berlin und die gegen mich durchgeführten Maßnahmen der „Untersuchung“, wie der Strafvollstreckung, stellen Verbrechen dar. Dieser Verbrechen haben sich Funktionäre des Staatsapparates und andere schuldig gemacht."





Donnerstag, 29. August 2013

Ein Waffenstillstand mit dem Tod


 Die Einschläge kommen näher -
Für die Fast-Alten unter uns

Lebensfreude ist das subjektive Empfinden der Freude am eigenen Leben, 
sagt Wiki, ich sage, dass ich unbeschreiblich gern lebe oder, in den Worten von 
Groucho Marx:
Ich habe vor ewig zu leben, oder bei dem Versuch zu sterben.

I intend to live forever, or die trying.

Wie seltsam, dass wir meist nur im plötzlichen, erschreckenden 
Erleben der Endlichkeit, oder brutaler formuliert, wenn jemand stirbt, 
den wir lieb haben, über den durchaus zufälligen Fakt unseres
 "Immer-noch-am-leben-seins" nachdenken. 
Wieviele Kompromisse würden wir sonst nicht eingehen?
Wieviel mehr würden wir küssen?
Wieviele kleinliche Auseinandersetzungen würden wir überspringen? 
Wieviel mehr würden wir lachen, bzw. weinen? 
Wieviel mehr Liebe würden wir versprühen und wieviel konsequenter 
wären wir in unseren Entscheidungen gegen etwas? 

Wir wären dann vielleicht aber auch unmenschlich, denn unsere 
Ignoranz der eigenen Sterblichkeit gegenüber macht uns wohl 
überhaupt lebensfähig. In jedem Moment zu leben im Bewusstsein, 
dass es gleich, morgen oder übermorgen zu Ende sein könnte, 
verhinderte vielleicht all die herrlichen, hoffnungsvollen, 
wenn auch gegen jede Vernunft, und deshalb überraschenden 
Idiotien, die uns zu Menschen macht, oder? 
Eine Freundin, die ungehöriger und ungerechter Weise, 
ganz jung sterben musste, hat mich, schon sehr geschwächt, 
am Kragen gepackt und mir eingetrichtert: 
Wage es nicht, das Leben nicht zu geniessen. Wage es nicht! 
Das Lied weiter unten, gesungen von Nina Simone, war ihr Lieblingslied.

Le bonheur de vivre (The Joy of Life) 1905-06
Henri Matisse
© Barnes Foundation, Merion, PA  

HIER KOMMT DIE SONNE

Hier kommt die Sonne und ich sage:
Es ist gut.
Kleiner Liebling, es war ein langer und einsamer Winter.
Kleiner Liebling, es scheint Jahre her zu sein, seit sie hier war,
Hier kommt die Sonne und ich sage:

Es ist gut.
Kleiner Liebling, das Lächeln kehrt auf die Gesichter zurück.
Kleiner Liebling, es scheint Jahre her zu sein, seit es hier war,
Hier kommt die Sonne und ich sage:
Es ist gut.
 Kleiner Liebling, ich fühle, das Eis schmilzt langsam.
Kleiner Liebling, es scheint Jahre her zu sein, seit es hell war,
 

Hier kommt die Sonne und ich sage:
Es ist gut.
Hier kommt die Sonne und ich sage:
Es ist gut.
  Es ist gut.  

HERE COMES THE SUN

Here comes the sun (doo doo doo doo)
Here comes the sun, and I say
It's all right

Little darling, it's been a long cold lonely winter
Little darling, it feels like years since it's been here
Here comes the sun
Here comes the sun, and I say
It's all right

Little darling, the smiles returning to the faces
Little darling, it seems like years since it's been here
Here comes the sun
Here comes the sun, and I say
It's all right

Sun, sun, sun, here it comes
Sun, sun, sun, here it comes
Sun, sun, sun, here it comes
Sun, sun, sun, here it comes
Sun, sun, sun, here it comes

Little darling, I feel that ice is slowly melting
Little darling, it seems like years since it's been clear
Here comes the sun
Here comes the sun, and I say
It's all right

Here comes the sun
Here comes the sun, and I say
It's all right
It's all right


 George Harrison gestorben am 29. November 2001

Here Comes The Sun wurde zu der Zeit geschrieben, 
als die Arbeit bei Apple so wurde, als müssten wir 
wieder zur Schule gehen und Geschäftsleute sein; 
all diese Rechenschaftsberichte unterschreiben, 
unterschreibe dies‘ und ‚ unterschreibe das‘. 
Irgendwie scheint es, als ob der Winter in England 
niemals endet, wenn der Frühling kommt, 
hast du das wirklich verdient. 
Eines Tages beschloss ich, meine Arbeit bei Apple 
einfach zu ‚schwänzen‘ und ging zu Eric Claptons Haus: 
[…] Die Befreiung, all diese dämlichen Buchhalter 
nicht zu sehen, war wunderbar, 
und ich ging mit einer von Erics akustischen Gitarren 
durch den Garten und schrieb  
Here Comes The Sun.

George Harrison, 1980

Sonntag, 25. August 2013

Horoskope und solcher Mist


Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich erträumen lässt. 
Aus: Hamlet von William Shakespeare

Das ist eines der schnell herbeigezerrten Zitate, die auch scheinbar vernünftige Menschen nutzen, bzw. mißbrauchen, um ihren irrationalen Glauben (wobei sie Glauben gern als den neuesten Stand der nur noch nicht akzeptierten "Wissenschaft" verbrämen) an Astrologie, chinesische Tierkreiszeichen, indianische Baumhoroskope, Haarwäschen in Abhängigkeit von der Mondphase, Tarotaussagen über den günstigsten Zeitpunkt für Hochzeiten oder das nächste Großreinemachen, Handlinieninformationen über die zu erwartende Anzahl des Nachwuchses und ähnlichen Mumpitz, zu untermauern.


Ich, und circa 580 000 000 andere Menschen (580 Millionen bei einer geschätzen Weltbevölkerungszahl von 7.000.000.000 = sieben Milliarden) sind nun also Jungfrauen, was nichts, aber auch gar nichts mit dem Zustand unseres Hymens, aber angeblich alles mit der Konstellation der Sterne zum Zeitpunkt unserer Geburt und ihrer jetzigen Aufstellung zu tun hat, die, so wird behauptet, unsere charakterliche Veranlagung, die Wahrscheinlichkeit unseres zufriedenen oder unzufriedenen Gemütszustandes in den nächsten vierzehn Tagen; und überhaupt unser Wesen in genauester Weise bestimmen soll. Quatsch. Quatsch. und noch ein drittes Quatsch.

Gewiss, der Mond hat Einfluss auf das Wasser auf unserem Planeten. Warum? Weil zwischen der Erde und dem Mond und übrigens auch zwischen der Sonne und der Erde Gravitationskräfte wirken, nachweisbare, wissenschaftlich untersuchbare Anziehungskräfte.
Hat der Mond also auch Einfluss auf Fruchtwasser und die Hirn-und Rückenmarksflüssigkeit? Möglicherweise, aber auch der wäre physikalisch zu untersuchen und wahrscheinlich zu vernachlässigen. Aber warum sich der Mühe unterziehen Ursachenforschung zu betreiben, wenn man es doch so leicht gemacht bekommt mit esoterischem Gewaber? So bin ich, ich kann nicht anders, frag die Sterne.
Ich gestehe ein, dass auch ich sinnlosen Aberglauben folge: Pfennige zu finden, versetzt mich in Glückszustände, sie werden dreimal bespuckt und dann über die linke Schulter für den nächsten glücklichen Finder weggeworfen, beim Stolpern mit dem linken Fuß, zwingt mich mein Kinderglauben zum Zurückgehen auf den Stolperpunkt. Aber, und dieses Aber ist wesentlich, ich weiss doch in jedem Moment, dass ich glaube, was nicht stimmt. Deshalb Aber - Glaube. Es ist Unsinn, ABER ich GLAUBE es. Oder? Es ist ein Spiel, dass ich mit mir selber spiele, und ist für niemanden unterhaltsam oder wichtig als für mich.

Es macht mich wütend, wenn ich halbgegarten mystischen Quark als Offenheit für die Wunder der Welt serviert bekomme. Es macht mich auch wütend, wenn Leute ihre Nationalität, Herkunft, Geschlechtszugehörigkeit, sexuellen Präferenz oder eben Sternenkonstellation, also ihre ihnen bei der Geburt mitgegebene, und also geschenkte Voreinstellung, als Beweis ihrer tieferen Empfindsamkeit, größeren Glaubhaftigkeit, wahreren Erdverbundenheit, kurz ihrer Überlegenheit benutzen. Nicht alle Frauen sind a priori  ... als alle Männer, nicht alle Schwulen sind ... als alle Heterosexuelle, nicht alle Indianer sind tiefer im Verbund mit Mutter Erde als alle Friseure in Cincinatti, nicht alle Jungfrauen sind ordnungsliebend und die meisten Zwilling sind auch keine Zwillinge, nichts ist immer und bei allen einfach besser. Die Wahrheit ist, lästigerweise, immer konkret! Wir sind verschieden, damit müssen wir uns abfinden, ob ein bestimmter Punkt in einem von uns besser oder schlechter ist, als in einem anderen, läßt sich nur in konkreten Situationen herausfinden.
Meine Hoffnung für den morgigen Tag und das, was ich tue, um sie wahr werden zu lassen, muß gegen gesellschaftliche Gegebenheiten, soziale Vorurteile und meine eigene Verfassung gewinnen, also laßt wenigstens die weitentfernten und zutiefst uninteressierten Sterne aus der Sache raus. Es ist hart genug wie es ist.

Dame auf dem Rücken liegend?

Stephen Fry hat, als er gefragt wurde, welches Sternzeichen er denn sein würde, wenn er sein eigenes Sternkreiszeichen wählen könnte, geantwortet:
Skepsis. Ich bin ein echter Skeptiker, geboren unter dem edlen Zeichen der Skepsis, dem Zeichen des Menschen, der absolut und ohne Einschränkungen weiß, dass Astrologie, der mistigste Mistes ist, den es je gab. Es ist eine sinnloser Irrglaube, der nicht einmal den Vorteil hat, ein harmloses Vergnügen  zu sein. Es ist schädliche Langeweile.  Schädlich für den menschlichen Geist, schädlich für die Würde und den Zauber des wirklichen Universums und die wirkliche Kraft des Geistes, selbst zu denken. Ich hasse Astrologie mit einer Intensität, die fast erschreckend ist. 

Apropos Mumpitz: Wiki schreibt:
Mit Mumpitz war ab dem 17. Jahrhundert eine Schreckgestalt oder auch Vogelscheuche gemeint. Das Wort leitet sich ursprünglich von „Mummelputz“ und „Mombotz“ ab und verbindet die beiden Wörter vermummen und (hessisch) Boz oder Butzemann (eine Kinderschreckfigur). Beim Mumpitz handelt es sich um eine Schreckgestalt für Toren.
Der Begriff erschien dann auf der Berliner Börse seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für „erschreckende Gerüchte“ oder „schwindelhaftes Gerede“.

Sonntag, 18. August 2013

Das Internet, ein Buddelkasten, eine Schatztruhe, eine Schlangengrube!


Da ich mich augenblicklich durch eine große Menge Shakespeare grabe, durch einen halben Meter bedruckten Papiers in etwa, und auch gerne verstehen will, was ich da lese, fürs Erste nur erstmal die historischen Fakten, dann natürlich auch noch Vieles mehr und Anderes und Tieferes, benötige ich Hilfsmittel, Dokumente, Bilder, anderer Menschen Meinungen - und ich finde sie, zu Hauf, im Internet, wobei ich immer wieder bemerke, dass die Genauigkeit meiner Fragen die Qualität der Antworten bestimmt, die mir besagtes Internet zur Verfügung stellt. 
Wie die meisten digitalfixierten Menschen, höre ich mich gelegentlich auf das Internet schimpfen. Es lenkt ab, saugt Zeit und Aufmerksamkeit, verführt zu einem schnellen, oberflächlichen Gefühl von Bescheidwissen. Stimmt, und ist doch nicht Schuld des Internets, sondern wohl doch die meines, leicht ablenkbaren Hirns und meines Hangs zum Trödeln. 
Aber gerade jetzt, wo ich leidenschaftlich und überpenibel (Ich bin jüdischer Preusse, was soll ich machen?) und äußerst neugierig nach mittelalterlichen Originaldokumenten, obskuren Dramen des 16. Jahrhunderts und Blogs von Menschen, die sich damit amüsieren, alle Shakespeare-Stücke zu lesen und darüber öffentlich nachzudenken, suche, begreife ich wiedereinmal, welch ein Wunderwerk das weltweite Netz ist. Da setzen sich Leute irgendwo, oft an geographisch benachteiligten Orten, hin und schreiben mittelalterliche Stücke ab, Bibliotheken digitalisieren ihre Bestände, das Google Books Library Project scannt unermüdlich Bücher zu unserer Verwendung, Museen gewähren digitale Rundgänge durch ihre Räume, Chatrooms streiten um die Ethymologie seltener Worte. Wenn man lange und gründlich genug sucht, findet man für fast jede noch so seltsame Frage, jemanden, der sich intensiv genau damit beschäftigt und willig und befähigt ist, sie zu beantworten.
Shakespeare mag jetzt etwas speziell sein, aber eben dasselbe gilt auch für Liebhaber von Motorrad-Sondermodellen, Sammler von Nippesfiguren der 60er Jahre, Fans von kurzlebigen Boybands, Migräneopfer, Freunde der Musik des Rokkoko und Menschen mit nicht weitverbreiteten sexuellen Vorlieben (Stell dir vor, du lebst in einer Kleinstadt in Oklahoma oder Franken und stehst darauf, Dich als Kuscheltier zu verkleiden, ja, das gibt es, habe ich bei CSI gesehen, wie einsam mußt du dich fühlen - aber im Netz kannst du Gleichgesinnte finden.) 

Als ich beschlossen hatte für ein Jahr nach Kanada zu gehen, um dort zu unterrichten, wollte ich mein Englisch verbessern, indem ich Geschichten schrieb, in Englisch, und eine zauberhafte Frau aus Pensacola, Florida hat sie für mich korrigiert, einfach so, aus Freundlichkeit.
Und deshalb hier, von mir, ein kleines JUCHUH, dass es das www gibt.



Anthrocon 2010 Pittsburg

Die Anthrocon ist die weltweit größte Convention der Furry-Bewegung und findet jährlich im Juni oder Juli in Pittsburgh, Pennsylvania statt.
Wiki sagt: Furry (engl. pelzartig, mit Pelz besetzt oder mit Pelz bekleidet) ist der Sammelbegriff für eine internationale Interessen-Gruppierung, die an anthropomorphen Tieren in Schrift, Bild und Ton interessiert ist. Dies reicht vom typischen Werwolf bis hin zu tierischen Cartoon- und Comicfiguren.

Montag, 5. August 2013

Respekt und Terror


Bevor meine Mutter mich mit 17 in die damals noch recht enge Welt schickte, gab sie mir einen Satz, sozusagen als Rettungsanker, mit: "Was immer Menschen miteinander tuen, solange alle Beteiligten damit einverstanden sind, ist niemals unmoralisch".
Das klingt simpel und trifft genau. Keine Vorurteile, keine Urteile - Respekt als existentielles Lebensmotto. Ich muß nicht verstehen, aber ich muß auch nicht darüber urteilen, was Andere tun. Und ich muß mich dem Urteil Anderer nicht unterwerfen. Meine Mutter ist eine kluge Frau.
Die Verführung ist stark, die eigene Lebensweise, als die beste aller möglichen anzusehen. Aber, nix da.  Wiki sagt: eine respektvolle Haltung schließt bedenkenloses egoistisches Verhalten aus. Bedenken sind etwas Gutes, ich be-denke, was der Andere wünscht, begehrt, braucht. Und ich gehe dabei nicht von meinen Wünschen, Vorlieben und Geschmäcklichkeiten aus, sondern bemühe mich, dass heißt, ich gebe mir Mühe, strenge mich an, sein Universum zu achten, ihm Beachtung und Aufmerksamkeit zu schenken.
Rußlands Regierung hat sich gegen einen respektvollen Umgang mit einem Teil seiner Bevölkerung entschieden. Ob Mann mit Mann, Frau mit Frau oder wer auch immer mit wem auch immer er begehrt, Sex hat, geht aber den Staat nichts an. Gibt es Gewalt, muß er einschreiten. Wird Macht mißbraucht, ebenfalls. Aber ansonsten soll er sich um den Zustand der Straßen, Schulen, Krankenhäuser kümmern, Mörder verhaften, Kindergärten bereitstellen und sich ansonsten nicht in unser Leben mischen. 
Wenn wir also nächstes Jahr nach Sotschi zur Olympiade fahren und uns einreden, dass ein kurzzeitiges Aussetzen, ein Pausieren, ein Ein-Auge-Zudrücken unseres Demokratieverständnisses, uns nicht beschädigt, dann verlieren wir jede Glaubwürdigkeit, die wir uns möglicherweise erarbeitet heben. 
Ein Boykott? Wäre Kontaktabbruch nicht sogar konterproduktiv? Ich erinnere mich, wie wichtig und spannend in der DDR Begegnungen mit Leuten aus der anderen Welt waren. Frischluft. Und eine Absage ginge auf Kosten der Sportler, die hart trainieren und für Höchstleistungen nur ein kleines Alters-Zeitfenster haben. Also ein Kompromisslösung. Und was wäre das?

Aber schweigendes Hinnehmen, widerspruchsloses opportunistisches Abknicken finde ich unerträglich und gefährlich. Ja, gefährlich, weil wir grundsätzliche Rechte für disponibel erklären, und wenn wir damit erst einmal anfangen, können wir nicht sicher sein, wo es endet, oder?  


Das Gesetz hat die Menschen nicht um ein Jota gerechter gemacht; gerade durch ihren Respekt vor ihm werden auch die Wohlgesinnten jeden Tag zu Handlangern des Unrechts." 
Henry David Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat

Ein wirklich gut geschriebener Artikel zum Thema:
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/silke-burmester-ueber-homophobie-und-die-winterspiele-in-sotschi-a-914547.html

Donnerstag, 25. Juli 2013

Gefühle - It's not dark yet but It's getting there - Noch ist es nicht dunkel, aber bald


It's not dark yet but It's getting there - Noch ist es nicht dunkel, aber bald.
Bob Dylan 

GEFÜHL in Wiktionary:
Das subjektive Erleben von Erregung und hirnchemischer Aktivität
oder gefühlsmäßiger Zustand
oder Einschätzung, die nicht auf Überlegung beruht
oder Intuition, die Fähigkeit, bestimmte Dinge ohne viel Nachdenken richtig einzuschätzen
oder Sinneswahrnehmung des Tast-, Temperatur-, Druck-, Schmerz- oder Gleichgewichtssinnes


Gefühle.
  
Ein Mysterium. Was fühle ich? Was fühle ich wirklich und wahrhaftig? Was fühle ich, weil ich denke, dass ich es fühlen sollte? Was fühle ich, weil es passend oder schick finde, so zu fühlen? Was erlaube ich mir zu fühlen? Was verbiete ich mir? Was unterscheidet mein Denken von meinem Fühlen? Welches der Zwei ist richtiger, wahrer, echter? Ist da ein qualitativer Unterschied? Kann ich meinen Gefühlen vertrauen? Meinem Denken? Fremderwartungen, Eigenbild, Feigheiten und der gewöhnliche Mangel an Empathie kochen da oft ein wirres Süppchen von eitlen Abwehrhaltungen und selbstverliebten Gefühligsduseleien. "Die Wahrheit liegt zwischendrin.", wie Ionesco so schön sagt. 
"Ja, aber wenn ich das so empfinde, dann ist es halt so!" 
Sind unsere Gefühle oder, das was wir dafür halten, immer die glaubhafteste Meßlatte unseres zwischenmenschlichen Verhaltens. Haue ich meinen Mitmenschen meine Gefühle vor die Füße, um sie fernzuhalten? Sie klein zu machen? Fühle ich oder entwickle ich Abwehrmechanismen? Ein "wahrhaftes" Gefühl, um mal "ehrlich" zu sein, kann auch ein maskiertes Verdrängungsinstrument sein, eine Waffe, um den anderen in seine Schranken zu verweisen, ein Selbstlob, um sich nicht ins eigene ungeliebte Gesicht schauen zu müssen. Oder? Eine Kollegin kam nach einer von ihr in tiefem Liebeskummer durchweinten Premiere, in der alle anderen Spieler, ich darunter, nur versuchten ihre Tränen zu überspielen, zu mir in die Garderobe mit dem mitfühlenden Satz: "Sei froh, dass Du nicht so sensibel bist wie ich!" Ich, ein relativ ungewalttätiger Mensch, verspürte das heftige Bedürfnis, ihr eins in die Fresse zu klatschen. Wo genau liegt die Grenze zwischen egozentrischem Verfolgen der eigenen rücksichtslosen Bedürfnisse und dem hilflosen Ausgeliefertsein gegenüber den Unerträglichkeiten der Welt? Wieviel Erbarmen haben wir für uns selbst übrig, wie viel für andere?

Gefühlsduselei: (übertriebene) Emotionalität, (übertriebene) Emotionen, Gefühlsduselei (umgangssprachlich

Erbarmen:
starke innere Anteilnahme am Leid oder an der Not anderer, verbunden mit dem Drang, ihnen zu helfen oder sie zu trösten

Das Folgende ist auch gefühlt, Gott erbarme sich unser:


Das Lied von der Rache
Heran, heran! – Die Kriegstrompeten schmettern.
Heran! Der Donner braust! –
Die Rache ruft in zack'gen Flammenwettern
Der deutschen Rächerfaust!

Heran, heran zum wilden Furientanze,
Noch lebt und glüht der Molch!
Drauf, Brüder, drauf mit Büchse, Schwert und Lanze,
Drauf, drauf mit Gift und Dolch!

Was Völkerrecht? – Was sich der Nacht verpfändet,
Ist reife Höllensaat.
Wo ist das Recht, das nicht der Hund geschändet
Mit Mord und mit Verrat?

Sühnt Blut mit Blut! – Was Waffen trägt, schlagt nieder!
's ist alles Schurkenbrut!
Denkt unsres Schwurs, denkt der verrat'nen Brüder
Und sauft euch satt in Blut!

Und wenn sie winselnd auf den Knien liegen
Und zitternd Gnade schrei'n -
Laßt nicht des Mitleids feige Stimme siegen,
Stoßt ohn' Erbarmen drein!

Und rühmten sie, daß Blut von deutschen Helden
In ihren Adern rinnt –
Die können nicht des Landes Söhne gelten,
Die seine Teufel sind.

Ha, welche Lust, wenn an dem Lanzenknopfe
Ein Schurkenherz zerbebt
Und das Gehirn aus dem gespalt'nen Kopfe
Am blut'gen Schwerte klebt!

Welch Ohrenschmaus, wenn wir bei Siegesrufen,
Vom Pulverdampf umqualmt,
Sie winseln hören, von der Rosse Hufen
Auf deutschem Grund zermalmt!

Gott ist mit uns! – Der Hölle Nebel weichen,
Hinauf, du Stern, hinauf!
Wir türmen dir die Hügel ihrer Leichen
Zur Pyramide auf!

Dann brennt sie an, – und streut es in die Lüfte,
Was nicht die Flamme fraß,
Damit kein Grab das deutsche Land vergifte
Mit überrhein'schem Aas!

Theodor Körner: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1893, S. 120-121.

"Ick finde ja den kopf insgesamt viel wichtiger als das herz, sonst hätt ick ja nirgends nen platz fürs gefühl aber fürs jefühlige is mir dit hirn zu schade. die können gern eher so am arsch." Mireille Adieu

Sonntag, 21. Juli 2013

Burgund 5 - Vézelay


Die Landschaft ist lieblich, die Hügel sanft, das Gras satt, die Heuhaufen riesig, auf einem Berg eine Kirche aus schwerem Sandstein, zu groß, zu arrogant, den Sandstein hat die Zeit gegraut, Moos läßt ihn fleckig erscheinen - drumherum viele unregelmäßige kleine und größere Häuser, in touristenorientierter Zeit voll mit Boutiquen und Läden für vezelaynische Zehenwärmer, Tassenuntersetzer und Topflappenhalter, aber die Häuser sind auch alle noch bewohnt. 
Das fällt mir hier in Burgund auf, was nicht einfällt, wird nicht abgerissen, es wird an-und umgebaut, aber das Alte bleibt ein Teil des Neuen und das macht, dass die Dörfer und Kleinstädte ihre lange Geschichte ganz organisch weiterleben. Es wurde hier schon lange gelebt, einst so, heute anders, aber beides gehört halt zusammen. Das Alte wird nicht auf Neu geputzt und das Neue protzt nicht mit Neon und Stahl.  

VÉZELAY


Ein Haus, ein Vorhof und ein Baum - und sehr viel Zeit


Vézelay ist eine französische Gemeinde mit 447 Einwohnern im Département Yonne in der Burgund. Die größte Kirche des Ortes ist die Basilika Sainte-Marie-Madeleine, ursprünglich gebaut im romanischen Stil. Nach einem ersten Brand, 1120, der über tausend Pilger das Leben kostete, wurde sie im Stil der Frühgotik wiederaufgebaut, nach dem nächsten Brand war man schon in der Spätgotik angekommen. Die Bauzeit erstreckte sich also in etwa vom Jahr 1120 bis ins Jahr 1260. Immer blieb etwas Altes stehen und das "Neue" wurde hinzugefügt. Stilmix nennt man das heute. Hügel und Kirche von Vézelay zählen seit 1979 zum UNESCO-Weltkulturerbe.  
Quelle für die Zahlen - Wiki 

DIE BASILIKA SAINTE-MARIE-MADELEINE



„Kurz nach Fertigstellung des Langhauses erlebte Vézelay den Höhepunkt seiner Geschichte: Ostern 1146 ruft Bernhard von Clairvaux auf Geheiß Papst Eugens III. vor einer riesigen Menschenmenge, die die Kirche nicht fassen kann und sich daher auf dem Hang südlich der Kirche versammelt hat, im Beisein von König Ludwig VII., der Königin Eleonore von Aquitanien und der Großen des Reiches zum Zweiten Kreuzzug auf. Mehr als ein halbes Jahrhundert später, 1190, treffen sich in Vézelay die Könige Philippe-Auguste und Richard Löwenherz mit ihren Armeen zum Dritten Kreuzzug nach Palästina ... Vézelay wird nicht nur Sammelort der Pilger, sondern auch der Ritter aus ganz Europa. 1166 flüchtet hier Thomas Becket vor der Verfolgung des englischen Königs, der hl. Franziskus von Assissi gründet hier 1217 seine erste Niederlassung in Frankreich.“
Klaus Bußmann: Burgund





Zwischen den Bewohnern der Stadt und den "Betreibern" der Kirche und des ihr zugehörigen Klosters gab es immer wieder Schwierigkeiten, die Frondienste waren zu hart, die Steuererhöhungen für Neu- und Wiederaufbau zu hoch -
ein Reiseführer, der ganz offensichtlich von der katholischen Kirche lektoriert, und möglicherweise auch finanziert, wurde, beschreibt das so: " Aufgrund der andauernden Konflikte flüchtet Abt Ponce um 1155 mit seinen Mönchen zum König und bittet um Schutz. Die Bürger müssen auf ihre Gemeinschaft verzichten."
Sie werden verjagt und dann muß man auf sie verzichten, schöner kann man das nicht umschreiben.
Die katholische Kirche hat hier offensichtlich auch heute noch eine große Gegenwärtigkeit, zum Beispiel habe ich große Gruppen Halbwüchsiger in sehr kleidsamen Pfadfinderuniformen nach Vezelay wallfahren gesehen und die bekommen dann einen abschließenden Gruppengottesdienst geboten. Das geht wie am Fließband, eine Gruppe raus, die nächste rein. Erinnert mich ungut an die Fahnenappelle meiner DDR-Jugend.




MARIA AUS MAGDALA - Apostelin der Apostel - Die Namensgeberin der Kirche


...Und es begab sich darnach, daß er reiste durch Städte und Dörfer und predigte und verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes; und die zwölf mit ihm, zwei dazu etliche Weiber, die er gesund hatte gemacht von den bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, die da Magdalena heißt, von welcher waren sieben Teufel ausgefahren... Lukas 8
Maria Magdalena ist die Schutzpatronin der Frauen, der Verführten, der reuigen Sünderinnen, der Schüler, Studenten und Gefangenen, der Winzer, Weinhändler, Handschuhmacher und Friseure. Und sie sie wird gegen Gewitter, Ungeziefer und Augenleiden angerufen. Was für eine Mischung! Um ihre Überreste, sprich Reliquien, wurde und wird hart gekämpft. 
Gute Reliquien machen zahlreiche Pilger und ergo gute Geschäfte. Insofern sind die magdalenischen Gebeine, die in der Krypta der Kirche lagern, lebenswichtig für die Ökonomie der Stadt und werden nicht öffentlich in Zweifel gestellt. Ob sie je nach Frankreich gekommen ist und wenn, wo sie gestorben und begraben wurde, ist Gegenstand vieler Bücher und wird hier nicht weiter kommentiert. Aber es wird behauptet, dass alle Splitter vom Kreuz Jesu zusammengenommen, ausreichen würden, die Berliner Mauer wieder herzustellen und es wird auch gesagt, dass ganze Regionen ihren wirtschaftlichen Aufschwung dem zufälligen, glücklichen Auffinden einzelner Teile berühmter Heiliger zu danken haben.

Drei (Frauen) hatten ständig Umgang mit dem Herrn: seine Mutter Maria, seine Schwester und Magdalena, die „seine Gefährtin“ genannt wird. Denn „Maria“, so heißt seine Schwester; und seine Mutter heißt so; und seine Gefährtin heißt so.
Nag-Hammadi-Codex II,3 Vers 32











DIE MYSTISCHE MÜHLE


Fast jede Säule ist mit Gleichnisbildern geschmückt, während langer Predigten sicher eine willkommene Ablenkung, wie Fernsehgucken beim Bügeln.


Säulenkapitell zw.1125 und 1140

Ein Mann im kurzen Gewand schüttet Korn in eine Mühle, während ein anderer, bekleidet mit einer weißen Toga, das Mehl auffängt. In der ersten Gestalt muss man Moses sehen; im Korn, das er in die Mühle schüttet, das Gesetz des Alten Testamentes, das er von Gott am Berg Sinai erhalten hat. In der Mühle, die das Korn mahlt, wird symbolisch Christus dargestellt (das Rad ist mit einem Kreuz bezeichnet). In dem Menschen, der das Korn auffängt, wird der Apostel Paulus gezeigt, und im Mehl selbst das Gesetz des Neuen Bundes, die neue Gerechtigkeit. Das Gesetz des Moses enthielt zwar die Wahrheit, aber es war eine verborgene Wahrheit, so verborgen wie das Mehl im Korn. Erst durch das Opfer Christi am Kreuz ist es in dieses Mehl verwandelt worden, das man in sich aufnehmen kann, indem man es zu Brot weiterverarbeitet: und das ist das neue Gesetz des Evangeliums Jesu Christi. (geo-reisecommunity)