Montag, 27. Juli 2015

Schnipsel aus Amsterdam

Niemand, der nicht schreibt, weiß, wie fein es ist, zu schreiben. Früher habe ich immer bedauert, nicht gut zeichnen zu können, aber nun bin ich überglücklich, daß ich wenigstens schreiben kann. Und wenn ich nicht genug Talent habe, um Zeitungsartikel oder Bücher zu schreiben, gut, dann kann ich es immer noch für mich selbst tun."
Anne Frank Tagebucheintrag, 4. April 1944
 
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Meine Schwester, die Lieblingsnichte und ich fahren sechs Stunden Zug, unsere Sitznachbarn, vier ziemlich nette junge Männer, ein Bankkaufmann, ein Krankenpfleger, keine Ahnung, was die anderen machen, fahren auch fürs Wochenende nach Amsterdam, für "ein bisschen Kultur zwischendurch, und um zu feiern". Ihre Rucksäcke sind fett gefüllt mit Bierdosen, Mixgetränken und Wodka. Bei der Ankunft am Mittag sind sie leicht und leer. Merkwürdiges Detail: mit Hilfe einer Kleinkamera mit Gurt, die sie an der Flasche befestigen, filmen sie ihre Gesichter während sie trinken. Alkoholselfies. Zum Erinnern bei Filmriß? 



Schiefe, noch schiefere, vorgebeugte, abgewinkelte, eingeklemmte, schmale, überbreite, jugendstilige, barocke, mittelalterliche, glasundstahlmoderne Häuser in grün, rot, gelb, beige, blau und jeder anderen denkbaren Farbe säumen die Grachten. Wunderschön. Das Wetter ist fies. Wir laufen trotzdem, stundenlang, gucken, essen, gucken, essen. Sehr gut.
Rembrandthaus, natürlich, und ein toller Vortrag über Pigmente und Farbherstellung von einer Malerin, die ihre Verachtung für Leute, die ihre Farben im Laden fix und fertig kaufen, kaum verbergen kann.

 Rembrandt Harmenszoon van Rijn Selbstporträt Radierung 1630

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Das Anne-Frank-Haus - anderthalb Stunden angestanden, in einer Schlange mit zumeist sehr jungen Menschen von überall her, die trotz stürmischem Wind und Niesel entspannt geduldig ausharren. Der langsame Gang durch die Gedenk-Stätte und obwohl ich schon hier war, erwischt es mich doch wieder. Welche hasserfüllte Vernichtung von Leben und Hoffnungen und Möglichkeiten auf der einen, welche Kraft und Sehnsucht und Schönheit auf der anderen Seite. Die Lieblingsnichte ist sehr still und schreibt, in Englisch, ihren Dank ins Gästebuch, unaufgefordert, wir sind nicht mal in der Nähe.
 

Es ist ein Wunder, dass ich nicht alle Hoffnungen aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unausführbar. Trotzdem halte ich an ihnen fest, trotz allem, weil ich noch immer an das Gute im Menschen glaube."
Anne Frank Tagebuch, Samstag 15. Juli 1944

Kurz vor dem Rausgehen, in einem Video mit Kommentaren verschiedenster Menschen - ein amerikanischer Jude in meinem Alter, erinnert sich mit seiner Schwester gelegentlich ein kleines Gedankenexperiment durchgespielt zu haben - "Wer würde uns verstecken, wenn es doch mal wieder so weit kommen sollte?" 
Wer?

Anne Frank starb wahrscheinlich im Februar 1945 im KZ Bergen-Belsen an Flecktyphus. Nur zwei Monate später, am 15. April 1945, wurde das Lager von britischen Soldaten befreit.

Überlebende singen ein jüdisches Lied, Ha-Tikwa, die Hoffnung.
https://www.youtube.com/watch?v=es4YLI2mFnQ 
Originalaufnahme der BBC von 1945

Solange noch im Herzen

eine jüdische Seele wohnt
und nach Osten hin, vorwärts,
ein Auge nach Zion blickt,

solange ist unsere Hoffnung nicht verloren,
die Hoffnung, zweitausend Jahre alt,
zu sein ein freies Volk, in unserem Land,
im Lande Zion und in Jerusalem!


Heute ist dies die Nationalhymne des Staates Israel. Ein schönes trauriges Lied. Welches Lied singen Palästinenser?

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