Mittwoch, 31. Juli 2019

Almodovar - Leid und Herrlichkeit

 © Nico Bustos

Allein schon für die letzte Einstellung müßte der Film gepriesen und geehrt werden. Eine überraschende Wendung der schönsten Art. Zum Lobe der Kunst, zum Lobe des Lebens. Dolor y gloria!

Banderas spielt Almodovar, aber eben nicht nur und wie fein er spielt, mit dem Körper, der von Schmerzen geplagt wird, mit dem Gesicht, das er nach Belieben uralt oder kindlich-verstohlen aussehen lassen kann. Wie genau er wechselt von weinerlichem Selbstmitleid zu resignierter Selbstaufgabe, zu erwachender Überlebenshoffnung. In einer Szene telefoniert er mit einer alten Liebe, die vor seiner Tür steht, er schaut auf den ebenfalls älteren Mann und fühlt die Liebe zu ihm ganz akut, ganz tief.

Die Farben sind satt, fett, viel Rot gegen Weiß und dann das ganze Spektrum der psychedelischen Farben. Gegen Ende die gräßlichste vorstellbare grasgrüne Lederjacke, wenn eine Krebsdiagnose erwartet wird und das Überleben versprochen wird. 

Also Humor hat der Film auch noch. Was kann man mehr wollen? Selbst die manchmal ungelenken Übergänge bieten Vergnügen.

Da habe ich doch heute ein Kunstwerk erlebt. Meine Augen sind übervoll, das Hirn ganz wach und das Herz schlägt freudig.

Da ist sie, die grüne Jacke.



Aus: ÜBER DIE GEDULD 
Rainer Maria Rilke

Man muss Geduld haben

Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein. 

Sonntag, 28. Juli 2019

Meckerei über Lappalien

Ich möchte heute gern ein bisschen rummeckern und bitte euch um eine kleine Menge Mitgefühl, denn dieser Sommer war neben herrlicher Arbeit und erfreulichen Ferien, auch eine Malaise in Etappen.

Es begann im Juni mit einer größeren Anzahl von Gerstenkörnern, mal links, mal rechts, mal beidseitig, von denen eins sich zum rottriefenden Matschauge entwickelte und mich nächtens zum Besuch der Notfallambulanz in Rastatt veranlaßte. Nach zwei Stunden Wartezeit, es waren, außer mir noch 2, in Worten zwei, Patienten anwesend, erklärte mir der uninteressierteste Arzt, den ich jemals getroffen habe: "Das wird schon besser werden." Hat geholfen, schon aus Gnatz.

Am Premierenabend in Ötigheim beißt mich eine Zecke, verschwindet aber vollgefressen, bevor ich sie bemerken kann. Ein dickes, entzündetes Knie entwickelt sich, wird einem Arzt, diesmal ist es ein aufmerksamer, gezeigt, und hat drei Wochen Antibiotika-Einnahme zur Folge. 

In einem romantischen Kloster in Sienna entscheiden die anwesenden Flöhe, nur mich beißen zu wollen, auch mehrfach im Gesicht, sieht kleidsam aus. Immerhin habe ich dabei gelernt, dass man mit Hilfe eines tiefen Tellers gefüllt mit Wasser und Spülmittel, in den man eine brennende Kerze plaziert, Flöhe zum Suizid verführen kann. Sie sehen das Licht und ...

Meine Augen wieder klar, die Pillen fertig geschluckt, drei Flöhe gemordet und dann falle ich vom Fahrrad. Ganz abgesehen davon, dass meine Ellenbogen und Knie aussehen, wie die einer achtjährigen Rabaukin, habe ich mir auch eine Rippe geprellt. Das tut vielleicht blöd weh.

So, das war es - bis jetzt. Nix Schlimmes, nichts, das mich über mein Alter jammern ließe, nur doofer Schnumpelkram, wie es meine Mutter genannt hätte. Aber es nervt.

Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit.


Sonntag, 14. Juli 2019

KOTZEBUE IN PEITZ

30 Jahre theater 89
theater 89 – Stadtwärts! 
Zu Gast in der Mark: Fontane. 200 – Arbeitsgemeinschaft „Städte mit historischen Stadtkernen“

August Friedrich Ferdinand von Kotzebue - 220 Schauspiele hat er geschrieben, manche in nur zwei Tagen, er war um 1800 der bei weitem erfolgreichste deutsche Dramatiker, Goethe mochte ihn nicht, er starb durch die Messerattacke einen studentischen Attentäters und ist heute nahezu vergessen.

Trotz häufigen Theaterbesuchen über eine mittlerweile sehr lange Zeit, in Worten über fünfzig Jahre, hatte ich noch kein Stück von Kotzebue gesehen, der Name war mir irgendwie bekannt und vor zwei Jahren tauchte er, eher beiläufig in einem Monolog auf, den ich mit der unglaubliche Anika Mauer gearbeitet habe, nämlich "Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe" von Peter Hacks, einem hochbegabten Stalinisten und Dichter.

Die Tasse, übrigens, hat Goethe bemalt. Man könnte es herausspüren, selbst wenn man es nicht wüßte. Sie ist viel ungeschickter als die jedes Porzellanarbeiters in Ilmenau, so wie ja auch kaum eines seiner Theaterstücke nicht unwirksamer ist als das beiläufigste Stück des Herrn von Kotzebue. Goethe ist ein sehr eigenartiges Talent.


Was Goethen aber die größte Enttäuschung beschert hat, war sein närrischer Ehrgeiz in Betreff auf die menschliche Rasse überhaupt. Wie eifrig war er nicht, sie zur Humanität zu bekehren, nur war die Menschheit nicht eben so eifrig, ihm zu folgen. Herr von Kotzebue hat hierzu eine sehr treffende Anmerkung beigetragen. Früher, so sagte er, reichte es für uns Deutsche hin, Gemüt zu haben, heute muß es unbedingt Humanität sein.


Heute war ich erstmals im brandenburgischen Städtchen Peitz, habe erstmals einen Kotzebue und ebenfalls erstmals eine Sommertheater-Produktion des Theaters 89 gesehen. Peitz und das Elend der brandenburgischen Wirtschaft wäre ein eigenes Thema, aber gerade deshalb ist eine solche Unternehmung wie sie das Theater 89 initiert hat, besonders wichtig. Übrigens kam der Bürgermeister mit Frau und Tochter in vollständiger Renaissancekostümierung!
Die Truppe um Hans-Joachim Frank tourt seit sieben Jahren über den Sommer durch Brandenburg und seit drei Jahren, glaube ich, spielen sie speziell in den historischen Stadtkernen brandenburgischer Kleinstädte. "Die deutschen Kleinstädter" heißt das Stück in diesem Jahr und es passt wie die Faust auf das Auge. Die Leute kommen, erkennen sich wieder und lachen ohne Groll über sich selbst. Das Ding hat eine Boulevarhandlung, ein erstaunlich modern wirkendes Tempo, knappe spitze Dialoge und hier und da schlüpft es dann ganz mühelos ins Absurde.

Eine Mischung aus Profis und Laien, das Ensemble, spielt mit der Lust, die man fühlt, wenn man spürt, dass sich die Besucher ohne den Einsatz mieser Tricks großartig amüsieren. Also, wenn ihr Freilichttheater an schönen Orten mögt, nix wie hin.
 

"Die deutschen Kleinstädter" 
ein Lustspiel in vier Akten von Kotzebue
1802 in Wien uraufgeführt 
 

BESETZUNG

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Freitag, 12. Juli 2019

Mein Manifest - In Erwägung

In Erwägung, dass dies hier peinlich wirken kann, erkläre ich, dass ich immer noch auf unser Überleben in einer gerechteren Welt hoffe.

Ein Manifest ist, so sagt es Wiki, eine öffentliche Erklärung von Zielen und Absichten, dies ist meines.
Vor Kurzem habe ich einen Artikel gelesen: Cripping up – "Was problematisch daran ist, wenn Schauspieler ohne Behinderung Rollen mit Behinderung spielen" von Georg Kasch.
Cripping Up

Ich habe meine Verwirrung über die Gedanken, die dort notiert waren, auf Facebook zur Diskussion gestellt. 160 Kommentare folgten. Manche sehr klar, einige nicht so. Ich bin immer noch verwirrt, aber weiß jetzt besser warum. Eine seltene Erfahrung.

Zum Thema. In fast allen Diskussionen der letzten Zeit erlebe ich eine immer minutiöser formulierte Verteidigung immer enger gesteckter Grenzen von immer kleiner definierten Gruppen. Fast jeder ist gegen fast jeden. Aggressive Unversöhnlichkeit bei eigentlich, so würde ich meinen, ähnlichen angestrebten Zielen. Identität statt Solidarität. Rechthaberei statt gemeinsamer Suche nach Lösungen. Wenig Fragen, viele unerschütterliche Antworten.
 

In Erwägung, dass es akute, lebensbedrohliche Probleme gibt, die uns alle töten werden, wenn wir keine Lösung für sie finden. Probleme mit dem Klima, mit der abrupt veränderten Zusammensetzung unserer Gesellschaft, mit unseren erhofften ökonomischen Aussichten, mit der wachsenden Unversöhnlichkeit zwischen Links und Rechts und dem vagen Raum dazwischen, ja, sogar ganz persönliche Probleme mit dem Theater, das gerade im Nirgendwo zwischen Repräsentanz und altbekanntem Spiel verschwiemelt wankelt.

K. F. schrieb: Johanna, das können wir im Osten sozialisierten Menschen nicht wirklich verstehen, weil uns auch aus der eigenen Lebenserfahrung das "soziale Rollenspiel" so selbverständlich ist. Wir sind auch der Meinung, dass Kinderspiele, Spiele zur Aneignung von Sozialverhalten sind. Die aus Amerika herüberschwappenden Diskussionen (Kommunitarismus, Identitäre, Repräsentation) sind - bei einer Schulung in dialektischem Materialismus - zu verorten im Kampf bislang ausgegrenzter Minderheiten um Anteile am gesellschaftlichen Konsens. Du bist liberal-europäisch denkend, da spielt Empathie eine zentrale Rolle, auf der anderen Seite wird auch das schon als Übergriff / Cultural Appropiation zurückgewiesen. Es gibt bei den Kommunitaristen kein Als-Ob, sie definieren Spiel nicht als Spiel, sondern als Repräsentation vorhandener Strukturen. Da gibt es glaube keine Chance einer wirklichen Verständigung - zumal wir ja wirklich anerkennen müssen, dass der weisse Hegemon über Jahrhunderte ausgegrenzte Rassen oder Minderheiten oder Geschlechter nicht als Partnern auf Augenhöhe begegnet ist. Ganz schwieriges Thema...  


In Erwägung, dass es uns allen, die wir uns verschwommen oder widerwillig als "links" definieren, an die Kehle gehen wird, wenn die "Querfront der Verlierer" in rechtmäßigen Wahlen an die Macht kommt. Und das werden sie, wenn wir uns nicht in den Griff kriegen.
Wollen wir uns wirklich so kampflos, kopflos aufeinander, gegeneinander hetzen lassen?
 

In Erwägung, das es höchste Zeit ist, persönliche Verantwortung zu übernehmen, uns solidarisch zu verhalten, mit denen, die uns zumindest nicht unser Recht zu leben, wie wir wollen, gänzlich absprechen. 
Es gibt, auch unter uns, viele, die nach den einfachsten Lösungen suchen, nach den schrecklichen -  alle sollen raus, die anders sind, nicht weiß, nicht christlich, nicht heterosexuell, nicht irgendwas, was sie als "normal", so "wie es früher war" erkennen können. Weg mit den Irritationen. Weg mit denen, die meine Position, mein gewohntes Leben in Frage stellen. Weg mit ihnen. Wohin? Egal.


Nordkreuz
 

In Erwägung der enormen Probleme, für die wir bisher keine Lösung finden können - sollten wir nicht dringlichst nach unseren Gemeinsamkeiten suchen?
Wäre ich ein zynisches, manipulierendes Arschloch, würde es mich freuen, dass wir uns so leicht auseinander dividieren lassen. Das bin ich aber nicht.
 

In Erwägung, dass ich gerne lebe, wünschte ich, dass wir es besser ertragen würden, mit nervenden Widersprüchen zu leben, dass es uns wichtiger wäre, Gemeinsamkeiten zu finden, als einander besserwissend und selbstgerecht zu verurteilen. 
Ablehnung ist einfach. Bemühung um Verständnis kostet Mühe. Demut ist angebracht.

In Erwägung, dass es viele gibt, die mir mein Recht zu leben, wie ich es mag, absprechen, als ältere, jüdische Frau in einem nicht ökonomisch relevanten Beruf, aber auch euch, die ihr nicht der kranken Norm von ebenfalls verwirrten und nach leichten Antworten suchenden Mitbürgern, entsprecht. 

Lasst uns zuhören. Lasst uns, zu Gunsten der Zukunft, unsere banalen Widersprüche beiseite stellen und lasst uns darüber nachdenken, was wirklich wichtig ist, um unser aller Überleben zu ermöglichen.  


In Erwägung unsrer Schwäche machtet
Ihr Gesetze, die uns knechten solln.
Die Gesetze seien künftig nicht beachtet
In Erwägung, dass wir nicht mehr Knecht sein wolln.
    In Erwägung, dass ihr uns dann eben
    Mit Gewehren und Kanonen droht
    Haben wir beschlossen: nunmehr schlechtes Leben
    Mehr zu fürchten als den Tod.
b.b.

Montag, 8. Juli 2019

Mister Bojangels

Meine Lieblingslieder wechseln. Aber da ist eine unveränderbare Position, die mein Herz, mein Ohr nicht ändern können, nicht aufgeben wollen. Ein Walzer im 6/8 Takt, eine einfache Melodie, die immer auf eine Wortfolge hinstrebt: "Mister Bojangles, Mister Bojangles, Mister Bojangles dance". 

Wiki gibt die Inhaltsangabe so: In Ich-Form berichtet der Erzähler von einem silberhaarigen Mann in abgetragenen Kleidern und ausgetretenen Schuhen, den er in einer Gefängniszelle in New Orleans kennenlernt und der sich „Bojangles“ nennt. Der Mann blickt auf ein erlebnisreiches Leben zurück und scheint trotz der misslichen Lage bester Laune. Zur Unterhaltung der Anwesenden tanzt er in der Zelle einen Soft-Shoe-Stepptanz, bei dem er hoch in die Luft springt und die Hacken zusammenschlägt. Er erzählt, dass er fünfzehn Jahre lang durch die Südstaaten getingelt und bei Minstrel Shows und Jahrmärkten aufgetreten ist. Sein einziger Begleiter ist ein Hund gewesen, um den er noch zwanzig Jahre nach dessen Tod trauert. Nun tanzt er nur noch für Trinkgelder in Honky-Tonk-Kneipen, verbringt jedoch die meiste Zeit hinter Gittern, weil er trinkt. 

https://de.wikipedia.org/wiki/Mr._Bojangles 

Dieses Lied gesungen von einem one-eyed Negro Jew, einem jüdischen Neger mit Glasauge. Neger durch den Zufall der Geburt, Jude aus eigener Entscheidung, das Glasauge durch einen Unfall. Das Handicap liegt hoch. Sammy Davis Jr. gilt meine Verneigung, der ein kompliziertes Leben gelebt hat, bedrückt durch groben Rassismus, Angst vor erfahrener Armut und doch mit höchster Grazie.

https://www.youtube.com/watch?v=-Fju4UajL7g 

Sammy Davis Jr. - Wenn es einen Inbegriff von Coolness gibt, dann ist es er. Perfekter Minimalismus. Das rote Futter des Hutes! Bewegungen nur, wenn absolut notwendig, die Zigarette, ungeraucht, aber anwesend. Entspannt. Im Moment. Er zitiert Haltungen, ganz leicht, ohne Nachdruck. Nie wirkt er angestrengt, aber auch nie unterspannt. Er ist da. Er singt.


I knew a man Bojangles and he’d danced for you
In worn out shoes
With silver hair, a ragged shirt, and baggy pants
The old soft shoe
He jumped so high, jumped so high
Then he lightly touched down I met him in a cell in New Orleans 
I was down and out
He looked to me to be the eyes of age
as he spoke right out
He talked of life, talked of life, he laughed
clicked his heels and steppedHe said his name “Bojangles” and he danced a lick
across the cell
He grabbed his pants and spread his stance,
Oh he jumped so high and then he clicked his heels
He let go a laugh, let go a laugh
and shook back his clothes all around Mr. Bojangles, Mr. Bojangles
Mr. Bojangles, dance He danced for those at minstrel shows and county fairs
throughout the south
He spoke through tears of 15 years how his dog and him
traveled about
The dog up and died, he up and died
And after 20 years he still grievesHe said I dance now at every chance in honky tonks
for drinks and tips
But most the time I spend behind these county bars
’cause I drinks a bit
He shook his head, and as he shook his head
I heard someone ask him please
Mr. Bojangles, Mr. Bojangles
Mr. Bojangles, dance.

Tel Aviv On Fire - Ein wirklich witziger Film

Sameh Zoabihat einen überraschend guten Film gemacht: Tel Aviv On Fire.
 
Würde es Gelegenheiten geben, dass Israelis und Palästinenser sich auf Augenhöhe begegnen und sich vielleicht sogar mögen, würde das so manches Weltbild zerschlagen.
Sameh Zoabihat 
 
 
Die Geschichte eines jungen palästinensischen Mannes, zu lang, zu dünn, zu unentschlossen. Seine große Liebe hat er verloren, weil er ihr gesagt hat, er fühle sich bei ihr, wie ein Fisch im Toten Meer. Und nun existiert er so vor sich hin und arbeitet bei der Produktionsfirma seines Onkels als Zuständiger für die hebräischen Dialoge.
Diese Firma produziert eine Soap-Opera, ein täglich gesendetes Melodrama über das Schicksal einer palästinensischen Spionin hin- und hergerissen zwischen ihrer Pflicht als Spionin und der Liebe zu einem jüdischen General namens Jehuda. 
Und diese Serie schauen auch israelische Frauen, trotz ihres unübersehbaren Antisemitismus, weil es halt um Liebe geht. 
Ein israelischer Grenzoffizier mit Hang zur Dramatik und einer der Serie verfallenen Ehefrau kommt ins Spiel und der Irrsinn des Nahost-Konfliktes verwandelt sich vor meinen Augen in den Irrsinn des cineastischen Melodramas mit Ausflügen in die absurde Farce.
Wunderbar, grauenhaft und auch traurig und sehr sehr witzig.
Hier ist Leid kein Druckmittel, sondern Teil von Biographien, Feindschaften sind altbekannt und hindern die Protagonisten doch nicht daran, zum eigenen Vorteil zusammenzuarbeiten. Und die Liebe besiegt wirklich alles, selbst die Macht der anonymen Geldgeber der Produktionsfirma.
Ich wünschte, ein deutscher Filmemacher hätte den Mut und die Leichtigkeit einen solchen politischen Film zu drehen. "Four Lions" von Chris Morris wäre vergleichbar. 
Große Politik, unlösbare Konflikte auf erkennbare Höhe gebracht, nicht durch Verkleinerung, sondern durch Betrachtung der Kontrahenten als unterschiedliche Menschen.
 
Wiki nennt Humor die Begabung eines Menschen, der Unzulänglichkeit der Welt und der Menschen, den alltäglichen Schwierigkeiten und Missgeschicken mit heiterer Gelassenheit zu begegnen. Diese Begabung haben wir, die deutschen Menschen eher nicht so, besonders das Ding mit der Gelassenheit fällt uns schwer. Weil wir ja selbst so sehr leiden, bleibt uns wenig Raum für das Interesse an den Kümmernissen anderer nichtdeutscher Menschen.

nordbuzz: Ihr vorheriger Film „Under the Same Sun“ befasste sich aber auch mit dem, was Palästinenser und Israelis den „Konflikt“ nennen.

Zoabi: Die meisten meiner Arbeiten haben mit dem Konflikt zu tun, aber ich nähere mich dem anders an, als man vielleicht erwarten würde. Ich interessiere mich nicht für die Geschichten, die man in den Nachrichten normalerweise hört, über leidende Palästinenser, die Besatzung oder Bombardierungen. Ich bin mehr an den Figuren interessiert. An den Menschen, die ihr normales Leben führen, das im Kino aber fast nie vorkommt. Die Situation zwischen Palästinensern und Israelis ist, wie sie ist. Und die Menschen müssen damit zurechtkommen. Aber damit akzeptieren beide Seiten auch, dass es immer Gewalt geben wird. Niemand spricht aber darüber, dass beide Seiten auf eine bessere Zukunft hoffen. Jeder will einfach nur ein normales Leben. Und darum geht es mir in meinen Filmen.

nordbuzz: Man hätte natürlich „Tel Aviv on Fire“ auch vollkommen ernst erzählen können.

Zoabi: Ja, darüber habe ich aber nie nachgedacht. Das ist einfach nicht mein Stil, ich mag Humor. Ich bin mit etwas groß geworden, das man als „Ghetto-Humor“ bezeichnen könnte. Wenn man das Gefühl hat, dass die Welt gegen einen ist und alles zerbricht, dann muss man das mit Humor nehmen, da man sonst nicht weitermachen könnte. Palästinenser sind sehr lustige Leute. Amüsant ist, dass ich häufig höre, mein Humor sei sehr jüdisch. Teil dieses Humors ist es, sich umzingelt zu fühlen. Das ist dasselbe Gefühl, das Palästinenser haben. Jüdische Filmemacher transportieren oft diesen Humor, dass die Welt und die Realität sich gegen einen verschwören. Es ist wichtig, als Palästinenser Humor im Alltag zu finden, weil das Leben sonst einfach zu traurig wäre. 
nnn

Freitag, 5. Juli 2019

Lotte Laserstein

Die Berlinische Galerie ist ein guter Ort, um eine bestimmte Art von Bildern anzuschauen. Die Räume sind großzügig, licht, kühl, aber nicht kalt, irgendwie ein sanfter, zurückhaltender Ort. Installationen, Malerei des letzten Jahrhunderts, Photographien habe ich hier gesehen. Aber es ist interessant sich vorzustellen, wie Alte Meister, Caravaggio oder Rembrandt oder El Greco hier wirken würden. Wäre der Kontrast der weißen großen Räume förderlich oder zu krass? 
Caravaggio habe ich bisher immer nur in schlecht beleuchteten Palazzi oder vierfach gehängten Sälen in altehrwürdigen Sälen gefunden. Ich konnte nie richtig gut sehen und das verstärkte das wunderbare Mysterium der Bilder für mich noch.

Heute. Im ersten Raum eine Installation von realities: united. 
Ein nicht sehr großes Video zeigt Starkregen in einem Innenraum mit baumähnlichen Säulen, am Boden bilden sich eigenwillige Wasserströmungsmuster, Lautsprecher an den drei übrigen Raumseiten verströmen das erwartete Geräusch dazu. Ich liebe Regen, er ist poetisch in vielfältiger Art, aber auf der Bühne kommt er selten vor, zu schwierig, zu nass, zu teuer. Ich denke gerade über ein Regen-Projekt nach, mal sehen, was daraus wird.

https://www.design-museum.de/de/diskurs/interviews/detailseiten/realitiesunited.html

Dann Lotte Laserstein. Abend über Potsdam hatte ich vor einiger Zeit zum ersten Mal gesehen und es war mir im Hirn geblieben. 
Geboren am 28. November 1898 in Preußisch Holland im ostpreußischen Oberland und gestorben mit 94 Jahren am 21. Januar 1993 in Kalmar, Schweden. Eine dieser deutschen Biographien mit dem 33er Bruch, gerade auf dem Weg zur öffentlichen Anerkennung, einer Einzelausstellung bei Gurlitt, guten Verkäufen, mußte sie fliehen, nach Schweden. Die zurückgebliebene Mutter starb im KZ, die Schwester überlebte im Untergrund und sie selbst schloß eine Scheinehe, um die schwedische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Sie malte Auftragsporträts, hielt sich über Wasser, nach dem Krieg reiste sie viel. "Wiederentdeckt" wurden ihre Bilder in den späten 80ern des letzten Jahrhunderts. Sie hat es also wenigstens noch miterlebt.

Frauen, Gesichter, Körper, Haltungen. Vereinzelt Männer. Immer wieder Selbstporträts. Eine Serie davon, ein bisschen Andy-Warhol vorempfunden, das gleiche Gesicht, mit unterschiedlichen Kopfbedeckungen, wahrscheinlich nur eine Übung fürs Studium, aber verblüffend modern. Es gibt einen wiedererkennbaren Stil, aber auch immer wieder Ausbrüche, die dann verworfen oder integriert werden. Und drei Menschengruppen, Abend über Potsdam 1930, alle wirken bedrückt, unsicher, verstört, ein Hund schläft unterm Tisch. Drei Männer in wildem Gespräch, die Wand voll Schatten, die Körper angespannt, 1933. Vier Emigranten sitzen zusammen, fremd, verloren.

Ob es von meiner Großmutter auch solche Bilder geben könnte? Nur dass sie, in allen Nöten, noch zwei kleine Kinder und einen anstrengenden Mann zu versorgen hatte? Ihre Mutter starb 1927, die Schwester 1934, der Vater im KZ.

Mein Liebling, ein russisches Mädchen, Emigrantin in Berlin


Eine Reihe von Selbstporträts






Donnerstag, 4. Juli 2019

Etwas geschafft zu haben.

Ich habe es geschafft. Wir haben es geschafft. Ungefähr 500 Menschen, 20 Tiere, viele wunderbare Mitarbeiter, meine Schwester und ich haben es geschafft. Ich kann es kaum glauben und bin doch ungeheuer stolz. 

Sogar auf Nachtkritik wird gejubelt, die regionalen Zeitungen tun es auch. Es könnte nicht besser sein. Gänzlich ausverkauft sind wir trotzdem nicht. Doch eine gigantische Freiluftshow findet statt und bereitet den Spielern, den Zuarbeitenden und den Zuschauenden Vergnügen.

Zwischendurch jede Menge Krisen und sehr viele glückliche Momente. Erschöpfung, Überforderung und jede Menge Spaß. Und Freizeit in Ötigheim, einem Dorf mit 5000 Bewohnern, zwei Kneipen, einer Konditorei, einem Bäcker, einer Apotheke und Edeka und LIDL im Industriegebiet. Rastatt ist nur zehn Minuten entfernt, Baden-Baden zwanzig, Karlsruhe dreissig. 

Siebenundzwanzig Vereine haben sie hier. Chor, Tanz, Karneval, Instrumentalunterricht, das Angebot ist breitgefächert und viele sind in mehr als drei Vereinen. Ein Pfarrer hat das gegründet, er wollte, das Kultur, Kunst ein lebendiger Teil des örtlichen Lebens sein sollte. Bildung fürs Volk. Das Volk spielt fürs Volk. Volksbildung. 

Der Pfarrer, Herr Seyer wollte ans Theater, hat bei Reinhard hospitiert, auf ihrem Totenbett hat seine Mutter, ihm das Versprechen Pfarrer zu werden abgerungen, er gehorchte und begründete die VOLKSCHAUSPIELE. Er schrieb eine "Passion", Wilhelm Tell wurde oft aufgeführt. Die Bühnenteile sind nach den Orten des Stückes benannt: Rütli, Stauffacher-Haus, Hohle Gasse etc. und den Stücktext können hier viele vollständig auswendig. 
Der Faschismus wurde halbherzig überstanden. Der Pfarrer drehte einen Film, der ein Mißerfolg war, er starb vollständig verarmt. 

Aber dieses verrückte Erbe, ein Dorf, ein Großteil eines Dorfes im tiefen katholischen Schwarzwald, das theatersüchtig ist, Theater liebt, hat ihn überlebt. Noch heute ist der jeweilige örtliche Pfarrer Vorsitzender des Vereins.

Proben mit bisher unbekannten Schwerpunkten:
Wie reagiert das Stuntpferd auf laute Geräusche?
Wann muß die Kutsche, wo, losfahren, um pünktlich in der Mitte der 150 Meter breiten Bühne zu sein? Oh, der Kutscher hat sein Hörgerät vergessen!
Wie spielt man eine intime Szene für 3000 Menschen? 
Wir sprechen mit Mikrophon, also müssen wir uns deutlich bewegen, wenn wir reden, damit die Zuschauer wissen wer grad spricht.
Hier gilt nicht kleckern, sondern klotzen.
Wenn einer aus der Gruppe der Darsteller verhindert ist, wegen Urlaub, Geburtstag oder Beruf, wer ersetzt ihn? Da alle Darsteller Amateure, das heißt, andersweitig Berufstätige sind, ist das eine äußerst wichtige Frage.
Wenn zwölf gallopierende Pferde schnell wenden müssen, wie verhindert wir Unfälle mit herumwandernden Spielern?
Welches der vielen mitspielenden Kinder merkt sich das Stichwort für den Auftritt am besten? 
Der jüngste Mitspieler ist ein halbes Jahr alt, der älteste, das kann ich nur schätzen. Ein Über-Siebzigjähriger erzählt mir, dass er mit vier Jahren zum ersten Mal auf der Bühne stand. 
Der begabte Tänzer hat es am Knie, die drei älteren Damen im Volksbild können nicht mehr schnell laufen. Der Bass besteht nur noch aus fünf älteren Herren. 
Ein Chor von 90 Leuten will sich bewegen und will es auch nicht. Da ist Mutmachen nötig.

Luisa, meine Assistentin hatte, als Einzige den Überblick, Sebastian, mein Münchhausen, der einzige Profi, war der Vermittler, ich, die Zugezogene, habe mitgetanzt und vorgespielt und gute Laune verbreitet und tolle Leute kennengelernt, solche, die man im ursprünglichen Sinn des Wortes anständige Menschen nennt. Offen und interessiert, gesprächig und fleissig. Sie haben mich freundlichst aufgenommen.
 
Welch eine Gemeinschaft! Gespräche, Nachbarschaftshilfe, gemeinsames Essen, themenbezogene Picknicks werden herbeigetragen. Jeder kennt jeden. Nicht jeder mag jeden, aber das wäre auch unglaubwürdig. Eine lebendige soziale Struktur. Alte, sehr Alte und junge Menschen tun etwas miteinander und nehmen sich wahr.


















Alle Photos © Rainer Wollenschläger

Montag, 1. Juli 2019

WAITING FOR THE BARBARIANS

Ich hatte den Namen Constantine Peter Cavafy noch nie gehört, stieß auf ihn in einem Essay über Popkultur und war überrascht. In Alexandria geboren, hat er zeitweise in Liverpool, Konstantinopel und irgendwo in Frankreich gelebt und sich dann für ein Leben in Alexandria als Beamter im ägyptischen Staatsdienst des ausgehenden 19. Jahrhunderts entschieden. 
Kühle weht einem entgegen, Ironie und eine ganz unsentimentale Melancholie. Die Strenge in der Form kann ich aus den Übersetzungen nur vermuten. 
Ein kleiner Fund.
Was ich für Gedichte verpasse, weil ich so wenig Fremdsprachen verstehe! 

WARTEN AUF DIE BARBAREN

Worauf warten wir, versammelt auf dem Marktplatz?

Auf die Barbaren, die heute kommen.

Warum solche Untätigkeit im Senat?
Warum sitzen die Senatoren da, ohne Gesetze zu machen?

Weil die Barbaren heute kommen.
Welche Gesetze sollten die Senatoren jetzt machen?
Wenn die Barbaren kommen, werden diese Gesetze machen.

Warum ist unser Kaiser so früh aufgestanden?
Warum sitzt er mit der Krone am größten Tor der Stadt
Hoch auf seinem Thron?

Weil die Barbaren heute kommen
Und der Kaiser wartet, um ihren Führer
zu empfangen. Er will ihm sogar eine Urkunde
Überreichen, worauf viele Titel
Und Namen geschrieben sind.

Warum tragen unsere zwei Konsuln und die Prätoren
Heute ihre roten, bestickten Togen?
Warum tragen sie Armbänder mit vielen Amethysten
Und Ringe mit funkelnden Smaragden?
Warum tragen sie heute die wertvollen Amtsstäbe,
Fein gemeißelt, mit Silber und Gold?

Weil die Barbaren heute erscheinen,
Und solche Dinge blenden die Barbaren.

Warum kommen die besten Redner nicht, um wie üblich
Ihre Reden zu halten?

Weil die Barbaren heute erscheinen,
Und vor solcher Beredtheit langweilen sie sich.

Warum jetzt plötzlich diese Unruhe und Verwirrung?
(Wie ernst diese Gesichter geworden sind.) Warum leeren
Sich die Straßen und Plätze so schnell, und
Warum gehen alle so nachdenklich nach Hause?

Weil die Nacht gekommen ist und die Barbaren doch nicht
Erschienen sind. Einige Leute sind von der Grenze gekommen
Und haben berichtet, es gebe sie nicht mehr, die Barbaren.

Und was wird nun aus uns ohne Barbaren?
Diese Leute waren eine Art Lösung.  


 
Übersetzt aus dem Griechischen Robert Elsi. Und von mir leicht verändert.
Aus: Das Gesamtwerk Amman Verlag 1997

 
WAITING FOR THE BARBARIANS

By C. P. Cavafy 
Translated by Edmund Keeley
What are we waiting for, assembled in the forum?

The barbarians are due here today.

Why isn’t anything going on in the senate?
Why are the senators sitting there without legislating?

Because the barbarians are coming today.
What’s the point of senators making laws now?
Once the barbarians are here, they’ll do the legislating.

Why did our emperor get up so early,
and why is he sitting enthroned at the city’s main gate,
in state, wearing the crown?

Because the barbarians are coming today
and the emperor’s waiting to receive their leader.
He’s even got a scroll to give him,
loaded with titles, with imposing names.

Why have our two consuls and praetors come out today
wearing their embroidered, their scarlet togas?
Why have they put on bracelets with so many amethysts,
rings sparkling with magnificent emeralds?
Why are they carrying elegant canes
beautifully worked in silver and gold?

Because the barbarians are coming today
and things like that dazzle the barbarians.

Why don’t our distinguished orators turn up as usual
to make their speeches, say what they have to say?

Because the barbarians are coming today
and they’re bored by rhetoric and public speaking.

Why this sudden bewilderment, this confusion?
(How serious people’s faces have become.)
Why are the streets and squares emptying so rapidly,
everyone going home lost in thought?

Because night has fallen and the barbarians haven't come.
And some of our men just in from the border say
there are no barbarians any longer.

Now what’s going to happen to us without barbarians?
Those people were a kind of solution.

Geschrieben 1898 und veröffentlicht 1904.

Constantine Peter Cavafy, auch bekannt als Konstantin oder Konstantinos Petrou Kavafis; geboren am 29. April 1863 – gestorben am 29. April 1933 war ein ägyptisch-griechischer Poet, Jurnalist und Beamter.

Mittwoch, 19. Juni 2019

2 x Trommeln in der Nacht

Für "nachtkritik" geschrieben und dort erstveröffentlicht.


DIE LETZTE REVOLUTION IST LANGE HER

„Von meinen ersten Stücken ist die Komödie „Trommeln in der Nacht“ das zwieschlächtigste.“
Bertolt Brecht in „Bei der Durchsicht meiner ersten Stücke“ 1953

„Trommeln in der Nacht“, ursprünglich „Spartakus“ - geschrieben 1919,
der Erste Weltkrieg, der noch nicht Erster heißt, ist gerade verloren worden, die Novemberrevolution zwingt Deutschland in die parlamentarische Demokratie, Brecht ist 21 Jahre alt.

Wenn ich heute an Revolution denke, dann eher an ihre malignen Auswüchse, den Terror der Jahre 1793/94, Stalins Massenmorde, als an die Zustände, die den Aufstand nötig machten. Ist solche Not außerhalb meiner Vorstellungskraft?

Ich gehe manchmal auf eine Demo oder unterschreibe eine Petition, das geht übrigens heutzutage auch in dem für das Ende des Stückes so wichtigen Bett. Widerspruch ohne Gefährdung. Perfekt. Banal.

Nach der Niederschlagung des Spartakusaufstandes wurden Liebknecht und Luxemburg erschossen und im Landwehrkanal entsorgt.

Die Uraufführung fand am 29. September 1922 an den Münchner Kammerspielen statt, die Inszenierung wurde drei Monate später für das Deutsche Theater übernommen und nach erfolglosen sechs Vorstellungen abgesetzt. Immerhin hat Brecht bei dieser Arbeit die Weigel kennengelernt. Worüber die wohl gestritten haben?

Ich habe zweimal dasselbe Stück gesehen, nur die letzten zehn Minuten unterschieden sich, zweimal hellwach geschaut, meine Augen und Ohren und mein Hirn hatten viel zu tun, das Herz schlug meist gleichmäßig.

Es beginnt ganz vorsichtig, weniger als Nachgestaltung der Inszenierung von 1922, mehr als Lauschen auf Echos, Überprüfen der alten Worte, Vergleichen der Konstellationen. Das Bühnenbild zitiert das Damalige, die Kostüme sind neutral schwarz, das Sprechen ist tastend.

Wilde Sprache, trunkene Wörter, fiese Pointen, ich verstehe, warum Brecht das Stück Komödie nannte.

Alle Konzentration ist hier auf die Familie und den in sie einbrechenden Kragler gerichtet. Was den Abend aber gerade nicht privatisiert, sondern den Riss zwischen bürgerlicher Idylle in Gefahr und dem irgendwo im Off stattfindendem Aufstand krasser zeichnet.

Wunderbare Momente. Wenn Kragler sich die schwangere Anna über die Schulter wirft und sie, zum Gesang von „Ob sie ihre Lilie noch hat“, dies in eine romantische Hebefigur verwandelt. Wenn die vom Kirschschnaps gelöste Mutter in leicht verkrampften Ausdruckstanz verfällt. Wenn neonröhrenbeladen Türme herunterschweben und die Szenerie ins Futuristische zwingen.

Wiebke Puls, die Mutter, verdient einen eigenen Beitrag. Kein Wort ohne Gedanken, der Körper ein Instrument, klug und schön, ganz im Moment und immer Herrin der Lage. Und sie ist groß, und genießt es. All the Power to her!

Mit dem Vierten Akt verändert sich der Zugriff völlig. Die Revolution ist da, auf der Bühne, aber sie findet nicht statt. Statt dessen ein Sprechgesang, die aufrührerischen Texte gesprochen wie Erinnerungen aus der Zukunft, die Szenerie erinnert an Kubricks „2001“, das chorische Sprechen schwillt an und gipfelt in einem grandiosen Popsong, U2 fordert den Weltfrieden.

Aufforderungen zum Umsturz, revolutionäre Empörung sind peinlich, ironischer Abstand muss genommen werden. Ein lautes Jein ist sicherer, als eine klare Haltung.

Anna, die ihrem Geliebten in die Schlacht gefolgt ist, unterbricht die Show und lenkt die Aufmerksamkeit auf uns, die wir dasitzen und uns als politisch denkende Menschen empfinden.

Akt Fünf, die Entscheidung - im Original von Brecht beendet Kragler seine Teilnahme an der Revolution und zieht sich mit seiner Anna ins Bett zurück. In dieser Fassung wird Anna von einem Mitglied des Chores gekillt, erweist sich aber als Mitträgerin des Happyends als untötbar und das Paar liefert uns eine höhnische Absage an jedwede politische Aktivität. „ Mein Fleisch soll im Rinnstein verwesen, dass eure Idee in den Himmel kommt? Seid ihr besoffen?“

Der Variant am zweiten Abend: Kragler tötet die insistierende Liebende mit eigener Hand und entscheidet sich für den Kampf. „Glotzt nicht so romantisch“ bekommt da einen ganz neuen, harten Sinn.

Ich, pubertär-unüberlegte Stalinistin, Anarchistin im Familienkampf und heute, ja was bin ich heute, vorsichtig mit meinen Gewissheiten und atheistische Humanistin, habe keine Antwort, keine Entscheidung parat. Aber immer noch hat das Wort Revolution eine sinnliche Verlockung, wahrscheinlich nur, weil ich weiß, dass ich sie nicht mehr erleben werde. Ich bin ein Feigling. Und was sind Sie?

An beiden Abenden wurde am Ende so getan, als würde das Bühnenbild zerhackt, funktioniert nicht, finde ich, wenn ich gleichzeitig sehe, wie die fest getischlerten Teile von den Bühnenarbeitern in Sicherheit gebracht werden. Hätte ich nicht gebraucht. Es war davor schon zu Ende erzählt.

Vielleicht ist das für Manchen hier von Interesse, Striche, Szenenumstellungen, geschlechtsunabhängige Rollenbesetzungen gehen sowieso, auch früher schon.
Und dann kam eine Anfrage für eine Zweifach-Inszenierung von „Trommeln in der Nacht“, den einen Abend der originale Schluss, am anderen der genau entgegengesetzte, gebaut aus Notizen, die Brecht, unzufrieden mit der eigenen Arbeit, niedergeschrieben hatte. ich fragte mich zwar, wer wohl zweimal ins Theater ginge, nur wegen eines veränderten Endes, aber das ging mich schlussendlich nichts an.
Ein spannender Abend. Das sage ich selten. Zwei spannende Abende.
Und jetzt gehe ich ins Bett.