Donnerstag, 4. Juli 2019

Etwas geschafft zu haben.

Ich habe es geschafft. Wir haben es geschafft. Ungefähr 500 Menschen, 20 Tiere, viele wunderbare Mitarbeiter, meine Schwester und ich haben es geschafft. Ich kann es kaum glauben und bin doch ungeheuer stolz. 

Sogar auf Nachtkritik wird gejubelt, die regionalen Zeitungen tun es auch. Es könnte nicht besser sein. Gänzlich ausverkauft sind wir trotzdem nicht. Doch eine gigantische Freiluftshow findet statt und bereitet den Spielern, den Zuarbeitenden und den Zuschauenden Vergnügen.

Zwischendurch jede Menge Krisen und sehr viele glückliche Momente. Erschöpfung, Überforderung und jede Menge Spaß. Und Freizeit in Ötigheim, einem Dorf mit 5000 Bewohnern, zwei Kneipen, einer Konditorei, einem Bäcker, einer Apotheke und Edeka und LIDL im Industriegebiet. Rastatt ist nur zehn Minuten entfernt, Baden-Baden zwanzig, Karlsruhe dreissig. 

Siebenundzwanzig Vereine haben sie hier. Chor, Tanz, Karneval, Instrumentalunterricht, das Angebot ist breitgefächert und viele sind in mehr als drei Vereinen. Ein Pfarrer hat das gegründet, er wollte, das Kultur, Kunst ein lebendiger Teil des örtlichen Lebens sein sollte. Bildung fürs Volk. Das Volk spielt fürs Volk. Volksbildung. 

Der Pfarrer, Herr Seyer wollte ans Theater, hat bei Reinhard hospitiert, auf ihrem Totenbett hat seine Mutter, ihm das Versprechen Pfarrer zu werden abgerungen, er gehorchte und begründete die VOLKSCHAUSPIELE. Er schrieb eine "Passion", Wilhelm Tell wurde oft aufgeführt. Die Bühnenteile sind nach den Orten des Stückes benannt: Rütli, Stauffacher-Haus, Hohle Gasse etc. und den Stücktext können hier viele vollständig auswendig. 
Der Faschismus wurde halbherzig überstanden. Der Pfarrer drehte einen Film, der ein Mißerfolg war, er starb vollständig verarmt. 

Aber dieses verrückte Erbe, ein Dorf, ein Großteil eines Dorfes im tiefen katholischen Schwarzwald, das theatersüchtig ist, Theater liebt, hat ihn überlebt. Noch heute ist der jeweilige örtliche Pfarrer Vorsitzender des Vereins.

Proben mit bisher unbekannten Schwerpunkten:
Wie reagiert das Stuntpferd auf laute Geräusche?
Wann muß die Kutsche, wo, losfahren, um pünktlich in der Mitte der 150 Meter breiten Bühne zu sein? Oh, der Kutscher hat sein Hörgerät vergessen!
Wie spielt man eine intime Szene für 3000 Menschen? 
Wir sprechen mit Mikrophon, also müssen wir uns deutlich bewegen, wenn wir reden, damit die Zuschauer wissen wer grad spricht.
Hier gilt nicht kleckern, sondern klotzen.
Wenn einer aus der Gruppe der Darsteller verhindert ist, wegen Urlaub, Geburtstag oder Beruf, wer ersetzt ihn? Da alle Darsteller Amateure, das heißt, andersweitig Berufstätige sind, ist das eine äußerst wichtige Frage.
Wenn zwölf gallopierende Pferde schnell wenden müssen, wie verhindert wir Unfälle mit herumwandernden Spielern?
Welches der vielen mitspielenden Kinder merkt sich das Stichwort für den Auftritt am besten? 
Der jüngste Mitspieler ist ein halbes Jahr alt, der älteste, das kann ich nur schätzen. Ein Über-Siebzigjähriger erzählt mir, dass er mit vier Jahren zum ersten Mal auf der Bühne stand. 
Der begabte Tänzer hat es am Knie, die drei älteren Damen im Volksbild können nicht mehr schnell laufen. Der Bass besteht nur noch aus fünf älteren Herren. 
Ein Chor von 90 Leuten will sich bewegen und will es auch nicht. Da ist Mutmachen nötig.

Luisa, meine Assistentin hatte, als Einzige den Überblick, Sebastian, mein Münchhausen, der einzige Profi, war der Vermittler, ich, die Zugezogene, habe mitgetanzt und vorgespielt und gute Laune verbreitet und tolle Leute kennengelernt, solche, die man im ursprünglichen Sinn des Wortes anständige Menschen nennt. Offen und interessiert, gesprächig und fleissig. Sie haben mich freundlichst aufgenommen.
 
Welch eine Gemeinschaft! Gespräche, Nachbarschaftshilfe, gemeinsames Essen, themenbezogene Picknicks werden herbeigetragen. Jeder kennt jeden. Nicht jeder mag jeden, aber das wäre auch unglaubwürdig. Eine lebendige soziale Struktur. Alte, sehr Alte und junge Menschen tun etwas miteinander und nehmen sich wahr.


















Alle Photos © Rainer Wollenschläger

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