Samstag, 4. Mai 2019

Gelbwesten, AfDler, Brexeteers und andere Irritationen

Gelbwesten, AfD, Brexeteers und die Europawahl


...Wenn die klassischen Formen der sozial­politischen Auseinandersetzung nicht mehr funktionieren, dann entstehen eben andere, die radikaler und unvorher­sehbarer sind. Aber das ist das Werk unseres neoliberalen Regimes. (Louis)

Zu bestimmten, den genau richtigen Zeitpunkten stolpere ich in Bücher. Bücher, die ich dringend benötige, auch wenn das ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht wußte. 
Sie werfen sich mir in den Weg und verlangen, gelesen zu werden.
Und jede neue Produktion beginnt damit, dass ich Bücher sammle, manche zum Thema, manche drumherum, einige völlig abwegig. Verschieden viele, je nach Stück. Bei "Sie können Gott zu mir sagen" wurde es ein laufender Meter. Jetzt ist es "Hase Hase" und in diesem Herbst werde ich "Die Tage der Commune" inszenieren, eins von Brechts zärtlichsten Stücken, in dem die Familie Cabot, mehr oder weniger zufällig, Teil eines Aufstandes wird, einer Revolte gegen Ausbeutung und Unterdrückung, sie blüht auf und wird dann binnen Kurzem vollständig vernichtet. Es wird sicher einiges an Lektüre  zusammenkommen.

... ebenfalls sehr wichtig und bewegend ist die Tatsache, dass die Herrschenden sich fürchten. Sie haben Angst, und das ist wundervoll. Die Gewalt und die Zerstörungen machen der herrschenden Klasse Angst, sie teilen endlich die Erfahrung, die das Leben von so vielen Menschen permanent beherrscht.
https://www.republik.ch/2019/01/12/die-herrschenden-haben-angst-und-das-ist-wundervoll 
 
Also: Charles Townshend schreibt über Terrorismus, Florian Grams betrachtet die Pariser Commune aus neo-marxistischer Sicht, C.G. Jungs Archetypen sind immer wichtig. Proudhon, Marx, Zeitdokumente, die Brüder Goncourt, Rimbaud, ...
Aber auch Didier Eribon und Édouard Louis, die über ihre Kindheit in Arbeiterfamilien, ihren harterkämpften Ausbruch aus den ihnen unausweichlich erscheinenden engen Lebenswegen, ihre persönlichen Siege und schlußendlich über den Preis, den sie dafür gezahlt haben, schreiben. Zwei erwachsene Männer, Schriftsteller, Lehrer treffen auf ihre Väter, nun alt, Arbeiter, ohne Schulabschluß, zornig ob ihrer unerfüllten Träume, zerstört durch harte Arbeit und hartes Leben. Welche Möglichkeiten sind da unwiderruflich verloren gegangen. Jetzt schreibt Eribon über seine Mutter.

Édouard Louis und Didier Eribon
Wer sie beleidigt, beleidigt meinen Vater ...
Als ich die ersten Bilder der Gelbwesten sah, empfand ich einen Schock, der schwer zu beschreiben ist. Auf den Fotos zu den vielen Artikeln sah man Körper, die im medialen und öffentlichen Raum fast immer unsichtbar bleiben. Leidende Körper. Körper, die von der Müdigkeit und der Arbeit, vom Hunger, von der andauernden Demütigung durch die Herrschenden verwüstet sind, die gezeichnet sind von räumlicher und sozialer Ausgrenzung. Ich blickte in ausgemergelte Gesichter, sah gebeugte, gebrochene Menschen, schaute auf erschöpfte Hände. 

Der Mauerfall und meiner völligen Vorahnungslosigkeit bezüglich der Wiedervereinigung zweier einander mir gänzlich fremd scheinder Länder, hat bei mir 1990 zu einem erschrocken beschämten Rückzug aus der Politik geführt. Meine augenblickliche Lektüre repolitisiert mich. Macht mich wacher. Wach sein ist gut, aber was sehe ich, aufgeweckt? Esoterisches Geschwafel, Bösartigkeit verschiedenster Art, Empathiemangel, Hilflosigkeit, Hass, Wut, Identitätsgerangel.
Auf der einen Seite irritiert mich das ungenaue, verallgemeinernde Gerede über weiße Privilegien, auf der anderen, begreife ich, dass ich ein Besitzer eben dieser Privilegien bin.
What the fuck? Worüber reden wir überhaupt? Wer bin ich? Wofür bin ich? Für wen? Und warum?
Und dann begann ich über die anstehende Europawahl nachzudenken und fiel in mich zusammen, wie eine durchlöcherte Luftmatratze. Ich habe den Wahlomat zur Europawahl getestet, und er empfiehlt mir Volt zu wählen. What the Fuck? Von der Partei habe ich noch nie ein Wort gehört. Nachgeguckt, steht ganz unten auf der Liste. Klingt nett. Die Werbung ist liebenswürdig, handgemacht und aufmunternd nichtssagend. Vier Tierschutzparteien gibt es und eine für Gesundheit, eine für Liebe und eine für Frauen. Und welche ganz rechts, ganz links, ganz irgendwas. Manche sind so klein, dass man seinen Wahlzettel genausogut als Grußkarte verschicken könnte, die Großen sind so verfettet und ausgehöhlt, dass sie eigentlich nur noch PD oder U heißen sollten und keiner eine Karte von denen kriegen mag. Was wählen? Regen oder Traufe? Verfaulte Äpfel oder unreife Papayas? Chancenlos oder die Chance nicht verdienend?
Was wählen? Die verflixte Demokratie verlangt mir Teilnahme ab. Ich muß mich informieren, muß nachdenken, muß mich entscheiden. 
Die beste Ausrede ist immer, hat ja alles keinen Sinn, macht ja eh keinen Unterschied. Aber für diese Ausrede habe ich zu lang in einem Land gelebt, in dem eine Partei immer fast neunundneunzig (in Zahlen 99) Prozent aller Stimmen "gewann".
Ich leide keinen Mangel, aber viele andere tun es. Mangel an Geld, an Hoffnung, Zuversicht. Und einige auch Mangel an Hirn, Anstand und Mitgefühl. Aber das sind halt auch meine Mitbürger, berechtigt zu wählen, selbst wenn ich denke, sie sind zu ignorant und faul, um zwischen Nektar und Deck zu unterscheiden.
Was wählen?

https://www.voltdeutschland.org/partei 

"Ich leide", kann man auf ganz verschiedene Weisen sagen. Eine soziale Bewegung ist der Moment einer Möglichkeit, dass Leidende etwas anderes sagen als: "Ich leide unter der Einwanderung und weil meine Nachbarin Sozialhilfe erhält." Dass sie sagen: "Ich leide unter denjenigen, die regieren. Ich leide am Klassensystem. Ich leide unter Emmanuel Macron und Édouard Philippe." Im Moment der sozialen Bewegung wanken alte Sprachmuster, kann die Sprache selbst subvertiert werden. Genau das sieht man seit einigen Tagen. Das Vokabular der Gelbwesten ändert sich. Anfangs hörte man nur von Benzinpreisen, manchmal auch von "Transferempfängern". Jetzt ändert sich der Ton. Es geht um Ungleichheit, höhere Löhne, Gerechtigkeit. (Louis)

https://www.zeit.de/kultur/2018-12/gelbwesten-frankreich-gesellschaft-sozialitaet-klassen-gewalt-edouard-louis

Donnerstag, 2. Mai 2019

Der Funktionär - „Ja, es war eine Illusion, aber ich möchte den Glauben nicht aufgeben.“

Klaus Gysi war dreimal verheiratet und diesen Ehen entsprangen sieben Kinder oder waren es acht? Wikipedia nennt nur zwei, Gregor und Gabriele. Wie unaufmerksam.
Klaus Gysi war Kommunist, oder Mitglied kommunistischer Organisationen, seitdem er mit 16 Jahren die Tötung eines streikenden Arbeiters durch die Berliner Polizei aus dem Fenster seiner elterlichen Wohnung beobachtet hatte. Eine Anekdote, die sich im Lauf der Jahre in eine Saulus/Paulus Erweckungsgeschichte verwandelte. Was sicher als tiefes Betroffenheitserlebnis begann, verbog sich, so wirkt es auf mich, zur Ausrede für jeden eingegangenen, eigentlich unerträglichen und unentschuldbaren Kompromiss. 
1940, als Kommunist mit jüdischen Vorfahren nach Frankreich geflohen, kehrt er auf Befehl der Partei, mit seiner ersten Frau Irene nach Berlin zurück und überlebte, wie auch immer, die schwarzen Jahre.
Klaus Gysi hat ein schönes Gesicht mit sinnlichem Mund und intelligenten Augen. Und dann sehe ich ihn in Sendungen des Fernsehens der DDR leere, dumme Worthülsen plappern, die Haltung ist intelektuell, der Inhalt nicht, er ist hohl, falsch, unwahr. 
Er war Leiter des Aufbau-Verlages nach Jankas Verhaftung, später Kulturminister - eine Karriere, zwar mit Absturzgefährdungen, aber eben doch eine Karriere, in der DDR, durch dick und immer dünner.
"Die Entwicklung des sozialistischen Menschen steht im Mittelpunkt unserer Arbeit." Solcher Mist in gutformulierten Varianten in Gesprächsrunden über viele Jahre. "Wie gut sich die Menschen entwickelt haben." Gysi ist Ulbrichts Liebling. "Wir arbeiten an einem Konzept für die Unterstützung der Entwicklung der Menschen." Gysi gerät, nach dem Sturz Ulbrichts in Schwierigkeiten. Unter Honecker wird er Botschafter in Italien, dann Staatssekretär für Kirchenfragen. Er hat die geladenen Kirchenvertreter scheinbar oft so zugetextet, dass sie vergaßen, ihre Anliegen vorzutragen.
Ein leiser, fast schmerzhaft spracharmer Film, Photos von Andreas Goldstein aus den 80ern und 90ern, manche unscharf, Ausschnitte aus Propaganda - aka Gesprächs-Sendungen des Fernsehens der DDR horrender Art wechseln sich ab, darunter ein wenig zu monoton und gelegentlich weinerlich Goldsteins Stimme...
Brasch, Gysi, Goldstein und und, eine Generation, mit bewunderungswürdigen Absichten angetreten, von den Zeitläuften gebeutelt und erschüttert, überlebt habend durch Aufgabe, all dessen, was sie ausmachte. „Ja, es war eine Illusion, aber ich möchte den Glauben nicht aufgeben.“ Was für ein schrecklicher Satz. Lieber die Lüge weiterglauben, als die Niederlage einzugestehen.
Über die Opfer die eine solche Lebenslüge forderte, spricht der Film nicht.
Ein sehr trauriger Film.

http://www.taz.de/!5584814/

Dienstag, 2. April 2019

Über die Schönheit ein Essay von Susan Sonntag

Über die Schönheit  
Neun Thesen - statt einer Definition 
von Susan Sontag  


1. Als Papst Johannes Paul II. im April zu den sexuellen Übergriffen katholischer Priester in den USA endlich Stellung nahm, sagte er vor den versammelten amerikanischen Kardinälen: „Ein großes Kunstwerk kann man verunstalten, doch seine Schönheit bleibt bestehen; und jede intellektuell redliche Kritik muss die Wahrheit dieses Satzes anerkennen. “Ist der Vergleich, den der Papst hier zwischen der katholischen Kirche und einem großen – also auch schönen – Kunstwerk zieht, nicht völlig verfehlt? Vielleicht nicht. Denn so abwegig er zu sein scheint, er gestattet es dem Papst, aus den abscheulichenVerfehlungen etwas zu machen, über das wir hinwegsehen können, das wir – wie die Kratzer auf einer alten Stummfilmkopie oder das Craquelé auf einem alten Gemälde – automatisch ausblenden. Der Papst liebt hehre Gedanken. Und als Begriff ist Schönheit seit eh und je ein probates Mittel, um Werturteilen Nachdruck zu verleihen. Dauer indes gehört nicht gerade zu den augenfälligen Merkmalen der Schönheit. Oft empfindet, wer Schönes betrachtet, jene Trauer, die uns in Shakespeares Sonetten begegnet. Traditionelle Feste zur Feier der Schönheit, zum Beispiel das Kirschblütenfest in Japan, sind unverkennbar von Schwermut umweht. Die erregendste Schönheit ist zugleich die flüchtigste, und es bedurfte etlicher Basteleien und Begriffsverrenkungen, um aus der Schönheit etwas Unvergängliches zu machen. Dabei erwies sich die Idee der Schönheit stets als so faszinierend, so stark, dass es einer Verschwendung gleichgekommen wäre, den Begriff allein zum Lob äußerlicher, oberflächlicher Schönheit zu benutzen. Ziel war, Raum zu schaffen für verschiedene Arten vonSchönheit, die sich, ihrem Wert und ihrer Unverwüstlichkeit entsprechend, in eine Rangordnung bringen ließen. Dabei wurde den metaphorischenSpielarten wie „geistige Schönheit“, „spirituelleSchönheit“ der Vorrang gegenüber all jenem eingeräumt, was die Umgangssprache als schön preist –nämlich das, was sinnliche Freude macht.

Die weniger „erhabene“ Schönheit von Gesicht und Körper ist nach wie vor der Schauplatz, wo wir das Schöne am häufigsten suchen. Aber es ist schwer vorstellbar, dass sich der Papst auf die Schönheit in diesem Sinne beruft, wenn er angesichts der sexuellen Belästigung von Kindern durch Geistliche und deren Vertuschung nach entlastenden Formulierungen sucht. Als besser geeignet erscheint da die „höhere“ Schönheit der Kunst. Denn auch wenn die Kunst eine Sache der Oberfläche und der sinnlichen Empfänglichkeit zu sein scheint, hat man ihr dennoch die Ehrenbürgerschaft im Bereich der „inneren“ (im Gegensatz zur „äußeren“) Schönheit angetragen. Schönheit, so scheint es, ist unwandelbar – zumindest wenn sie als Kunst daherkommt, also feste Form angenommen hat. Denn die Schönheit als ewige Idee, wird am ehesten in der Kunst verkörpert. Schönheit (wenn man das Wort in diesem Sinne verwenden will) liegt in der Tiefe, nicht an der Oberfläche; manchmal ist sie verborgen und gerade nicht offensichtlich; sie ist tröstlich, nicht verstörend; sie ist unzerstörbar wie in der Kunst, und nicht kurzlebig wie in der Natur. Schönheit – in ihrer erhabenen Spielart – ist dauerhaft. 

2. Die beste Theorie der Schönheit ist ihre Geschichte. Über diese Geschichte nachzudenken heißt: zu untersuchen, wie bestimmte Gesellschaften mit der Schönheit und ihrem Begriff umgegangen sind. Manchmal werden Gesellschaften von ihren Vorderleuten regelrecht darauf eingeschworen, sich einer für verderblich erachteten Flut neuer Schönheitsideale entgegenzustellen. Sie haben kein Interesse daran, den Schutzwall zu schwächen, den ihnen ein auf Anpreisung und Tröstung zielender Begriff von Schönheit bietet. Es überrascht nicht, dass dem Papst und der auf Bewahrung und Selbsterhaltung bedachten Institution, für die er spricht, ein derart auf Verklärung bedachtes Schönheitsideal so willkommen ist wie die Idee des Guten. Umgekehrt war es unvermeidlich, dass gerade die Schönheit sofort in Misskredit geriet, als vor fast hundert Jahren die auf dem Gebiet der „schönen“ Künste einflussreichen Kreise ihre drastischen Erneuerungprojekte in Angriff nahmen. Schönheit musste den Machern und Verkündern dieses Neuen als konservativer Maßstab erscheinen; Gertrude Stein meinte, wer ein Kunstwerk „schön“ nenne, erkläre es für tot. Schön bedeutet seither „bloß schön“ – es gibt kein schaleres, spießigeres Kompliment. Anderswo – wie denn auch nicht? – blieb die Schönheit allerdings unangefochten. Als der notorische Schönheitsliebhaber Oscar Wilde in „Der Verfall des Lügens“ schrieb: „Kein halbwegs kultivierter Mensch spricht heute noch von der Schönheit eines Sonnenuntergangs. Sonnenuntergänge sind ganz aus der Mode“ – da verfinsterten sich die Sonnenuntergänge zwar kurzfristig, erholten sich jedoch rasch von dieser Attacke. Nicht so die „Schönen Künste“, als ihnen die Forderung nach Modernität entgegenschallte. Dass die Schönheit aus dem Katalog der Wertmaßstäbe für die Kunst verschwunden ist, bedeutet ja nicht, dass niemand mehr an die Schönheit glaubt. Es bedeutet bloß: Niemand glaubt mehr an so etwas wie Kunst.

3. Auch als Schönheit noch ein unumstrittener Maßstab für den Wert von Kunst war, definierte man sie am liebsten indirekt, auf Umwegen. So brachte Lessing mit seiner Gleichsetzung von Schönheit und Harmonie eine zweite allgemeine Idee dessen, was vorzüglich oder erstrebenswert sei, ins Spiel. Da eine strenge Definition von Schönheit offenbar nicht existierte, nahm man an, es müsse, zumindest was die Kunst angeht, ein bestimmtes Organ oder eine bestimmte Fähigkeit für die Wahrnehmung der Schönheit (das heißt, des Werts) geben, den „Geschmack“; und außerdem einen Kanon von Werken, die von Leuten mit „gutem“ Geschmack für wertvoll befunden wurden. Denn in der Kunst, so glaubte man, fiel Schönheit – anders als im Leben – nicht notwendigerweise jedem ins Auge. Mit dem Geschmack verband sich allerdings das Problem, dass er auf privaten, unmittelbaren, widerruflichen Haltungen zur Kunst gründete. Mochten noch so viele ein Urteil teilen – die Übereinstimmung blieb stets begrenzt. Um diesem Mangel abzuhelfen, entwickelte Kant die Vorstellung von einer besonderen Fertigkeit, der „Urteilskraft“, die auf klar umrissenen allgemeinen und stets gültigen Prinzipien beruhen sollte; der Geschmack und die Vorlieben, die vor dieser Urteilskraft Bestand hatten, sollten Gemeinbesitz allersein. Aber auch der Kantschen Urteilskraft gelang es nicht, den „Geschmack“ nachprüfbar abzusichern und ihn auf diese Weise gewissermaßen zu demokratisieren. Die Schwachstelle: Prinzipiengeleitete Urteile lassen sich auf bedeutende Kunstwerke nur schwer anwenden, da sie mit ihnen nur sehr schwach und indirekt verbunden sind – anders als der geschmeidigere empirische Geschmack. Dem allerdings fehlt eine zuverlässige Legitimation heute noch mehr als im ausgehenden 18. Jahrhundert. Wessen Geschmack soll maßgeblich sein? Wer hat das Sagen? Mit dem Aufkommen des Relativismus im Bereich der Kultur gerieten die alten Rangordnungen immer mehr unter Druck, und die Definitionen von Schönheit wurden immer inhaltsärmer. Für Paul Valéry bestand das Wesen der Schönheit schließlich darin, dass sie sich nicht definieren ließ; Schönheit sei geradezu das „Unsagbare“.Noch einmal: In diesem Versagen des Schönheitsbegriffs spiegelt sich der Ansehensverlust, den die Urteilskraft selbst als interesselose oder objektive, nicht irgendwelchen privaten Interessen oder Zwecken dienstbare Instanz erleidet. Es spiegelt sich darin auch, wie bestimmte bipolare Diskurse innerhalb der Kunst in Misskredit geraten. Wer nicht bereit ist, etwas hässlich zu nennen, der kann auch nichts als schön bezeichnen, einerseits. Andererseits entstehen heute immer mehr Tabus, die es verbieten, etwas als hässlich zu bezeichnen. Zu alledem wächst der Widerstand gegen die Vorstellung von „gutem Geschmack“, das heißt gegen die Dichotomie von gutem und schlechtem Geschmack – außer wenn es darum geht, die Niederlage des Snobismus und den Triumph dessen zu feiern, was er einst herablassend als schlechten Geschmack abgetan hat. Die Vorstellung von gutem Geschmack gilt heute sogar als noch rückständiger als die Idee der Schönheit. Die strenge, schwierige „Moderne“ in Kunst und Literatur wirkt altmodisch – wie eine Verschwörung von Snobs. Innovation bedeutet mittlerweile nur noch Lockerheit – die populäre Kunst gibt grünes Licht für alles und jedes. Im kulturellen Klima der letzten Jahre, das die konsumorientierte Kunst begünstigt, hat das Schöne nur die Wahl, als Selbstverständlichkeit oder als Anmaßung empfunden zu werden. So wird gerade da, wo wir absurderweise von Kulturkämpfen sprechen, die Schönheit regelmäßig zum Prügelknaben gemacht. 

4. Einst lagen die Stärke und der Reiz der Schönheit schlicht darin, dass sie manchen Dingen eignete und anderen nicht: Sie war ein Unterscheidungskriterium. Schönheit gehörte zur Familie jener Begriffe, die Rang begründen. Und fügte sich von daher gut in eine Gesellschaftsordnung, die sich für Standes- und Klassenunterschiede wie für hierarchische Verhältnisse nicht entschuldigen zu müssen glaubte – und die das Recht, andere auszuschließen, als selbstverständlich in Anspruch nahm. Was einst ein Vorzug gewesen war, wurde mit der Zeit zur Belastung. Früher schien der Begriff der Schönheit verletzlich, weil er zu allgemein, zu locker, zu durchlässig war; nun zeigte sich, dass er zu vieles ausschloss. Diskriminieren, die Fähigkeit, Unterschiede zu machen und zu erkennen, war einst ein positiv besetzter Begriff; er verwies auf kultivierte Urteilsfähigkeit, auf hohe Maßstäbe und hohe Ansprüche. Später verkehrte er sich dann ins Negative, bedeutete nun Vorurteil, Dünkel, Blindheit gegenüber allem, was mit dem Eigenen nicht identisch war. Der kräftigste und erfolgreichste Angriff gegen die Schönheit wurde im Bereich der Kunst geführt: Schönheit und das Interesse an ihr seien restriktiv oder, im Zeitjargon, elitär. Unsere Empfehlungen können daher viel mehr einschließen, wenn wir nicht mehr sagen, etwas sei „schön“, sondern: es sei „interessant“. Wenn Leute ein Kunstwerk „interessant“ nennen, bedeutet das natürlich nicht unbedingt, dass sie es auch mögen (und schon gar nicht, dass sie es schön finden). Es bedeutet meistens nur, dass sie glauben, sie sollten es mögen. Oder zumindest, dass sie es „irgendwie“ mögen, obwohl es nicht schön ist. Zuweilen allerdings erspart das Wort „interessant“ aber doch nur die banale Feststellung, etwas sei schön. Die Fotografie war die erste Kunstform, in der „das Interessante“ triumphierte – von Anfang an: Die fotografische Sehweise machte buchstäblich aus Allem und Jedem einen möglichen Gegenstand für die Kamera. Das Schöne war so viel thematischem Raum nicht gewachsen, und geriet schon deshalb als Maßstab aus der Mode. Über die Aufnahme eines Sonnenuntergangs, eines schönen Sonnenuntergangs, sagte nun jeder, der über einen gewissen Sinn für sprachliches Raffinement verfügte: „Ja, dieses Foto ist interessant.“ 

5. Also gut: Was ist eigentlich interessant? Vor allem das, was zuvor nicht als schön (oder gut) galt; hier kommt ein Tabu ins Spiel. Die Kranken sind interessant, wie Nietzsche bemerkt hat; die Bösen ebenfalls. Das heißt: die Bewunderung gilt nun dem Originellen, nicht dem Wahrhaftigen; sie gilt der Grobheit, der Frechheit, der Normüberschreitung, nicht dem Respekt. Als Wertmaßstab fördert „das Interessante“ die Vorliebe für den Zusammenprall, nicht für die Harmonie; sein Gegenteil ist „das Langweilige“. Der Liberalismus sei langweilig, schrieb Carl Schmitt 1932 in „Der Begriff desPolitischen“ (und trat im Jahr darauf der NSDAP bei). Einer Politik, die liberale Grundsätze befolgt, fehlt es an Dramatik, an Stimmung, an Konflikt, während eine starke, autokratische Politik – auch wo sie in den Kriegf ührt – rasend „interessant“ ist. Das Interessante als Wertmaßstab begegnet also den Konsequenzen von Handeln oder von Kunst mit Geringschätzung. Wahrheit kommt dabei als Gesichtspunkt nicht einmal in Betracht. Das Interessante ist ein verbraucherorientiertes, auf die Ausweitung seines Geltungsbereichs bedachtes Konzept: Je mehr Dinge interessant werden, desto größer ihr Markt. Das „Langweilige“ steht für eine Leere, die auf eben dies Gegenmittel verweist: die leere, wahllos repetierte Beteuerung des „Interessanten“ – eine besonders unschlüssige Art von Realitätswahrnehmung. 

6. Schönheit kann ein Ideal anschaulich machen, als etwas Vollkommenes. Sie kann aber auch auf Grund ihrer Identifikation mit Frauen (genauer gesagt: mit der Frau) die bekannte Ambivalenz auslösen, die auf die uralte Herabsetzung des Weiblichen zurückgeht. Vieles von dem, was die Schönheit in Misskredit bringt, lässt sich nur vor dem Hintergrund des Gegensatzes zwischen den Geschlechtern verstehen. Auch Misogynie mag zuweilen im Spiel sein, wenn es darum geht, Schönheit ins Metaphorische und damit über die Sphäre des „bloß“ Weiblichen, des Unernsten, des Trügerischen hinaus zu „heben“. Frauen werden ihrer Schönheit wegen zwar angebetet. Doch wegen der Sorgfalt, die sie auf die Herstellung oder Bewahrung dieser Schönheit verwenden, werden sie zugleich mit Herablassung gestraft. Schönheit ist „Theater“, es geht um Gesehen- und Bewundertwerden, und mit dem Wort Schönheit assoziiert man Schönheitsindustrie, Schönheitssalons, Schönheitsprodukte und das ganzeTheater weiblicher Oberflächlichkeit ebenso leicht wie die Schönheit der Kunst oder der Natur. Wie sonst sollte man die Assoziation der Schönheit – das heißt: der Frauen – mit der Dummheit erklären? Wer sich um die eigene Schönheit kümmert, läuft Gefahr, dass man ihm Narzissmus und Oberflächlichkeit vorwirft. Man denke an all die Synonyme für Schönheit, angefangen bei „niedlich“ und „hübsch“, die erst transponiert werden müssen, ehe sie sich auf Männer anwenden lassen. Auch wenn sich Wörter wie „stattlich“oder „gut aussehend“ nicht anders als das Wort „schön“ auf die äußere Erscheinung beziehen, wirken sie nüchterner, weniger überschwänglich. 

7. Im Allgemeinen hält man Schönheit für eine ganz und gar „ästhetische“ Kategorie, wodurch sie nach Meinung vieler auf Kollisionskurs mit dem Ethischen gerät. Doch selbst in ihrer unmoralischen Spielart kommt die Schönheit nie nackt daher; in die Zuschreibung von Schönheit mischen sich stets auch moralische Wertvorstellungen. Das Ästhetische und das Ethische waren ursprünglich keineswegs Gegensatzpole, wie Kierkegaard und Tolstoi behaupteten, sondern das Ästhetische selbst galt als quasi-moralisches Projekt. Seit Platon taucht immer wieder die Frage nach dem angemessenen Verhältnis des Guten zum Schönen auf, das sich aus dem Wesen der Schönheit selbst ergeben soll. Die übliche Art, Urteile über das Schöne als moralische Urteile zu etablieren, folgt dem alten Verfahren, das die Schönheit in ein binäres Konzept verwandelt, sie also in eine „innere“ und eine „äußere“, eine „höhere“ und eine„niedere“ Schönheit aufspaltet. Aus der Sicht Nietzsches oder Oscar Wildes mag das unangemessen sein, aber mir scheint es unvermeidlich. Und die Weisheit, die einem aus einer intensiven, lebenslangen Beschäftigung mit dem Ästhetischen zufließt, ist, so behaupte ich, durch keine andere Form von Ernsthaftigkeit zuersetzen. Die verschiedenen Definitionen von Schönheit kommen ja einer plausiblen Bestimmung von Tugend und erfüllter Humanität mindestens so nah wie alle Versuche, das Gute auf dem direkten Weg zu definieren.

8. Der Schönheitsbegriff gehört zur Geschichte der Idealisierung, die ihrerseits in die Geschichte des Trostes gehört. Aber Schönheit tröstet nicht immer. Die Schönheit von Gesicht und Gestalt quält, wühlt auf, unterjocht; sie ist herrisch – und weckt den Wunsch nach Beherrschung: Menschliche wie künstlich gemachte Schönheit lösen Besitzphantasien aus. Unser Modell vom interesselosen Wohlgefallen knüpft dagegen an die Schönheit der Natur – einer fern liegenden, allumfassenden, nicht zu besitzenden Natur. Im russischen Winter des Jahres 1942 schrieb ein deutscher Soldat in einem Brief: „Das schönste Weihnachten, das ich je erlebt habe, nur ausuneigennützigen Empfindungen bestehend, ohne kitschiges Drumherum. Ich war allein unter einem riesigen, mit Sternen übersäten Himmel, und ich kann mich erinnern, wie mir an der eisigen Wange eine Träne herunterlief, keine Schmerz- und keine Freudenträne, sondern eine Träne des Gefühls, ausgelöst durch dieses innige Erleben...“ Anders als die oft flüchtige Schönheit ist die Fähigkeit, sich von der Schönheit überwältigen zulassen, erstaunlich robust. Sie widersteht gröbsten Ablenkungen; der Krieg vermag sie so wenig auszulöschen wie die sichere Aussicht auf den eigenenTod. 

9. Die Schönheit der Kunst steht, Hegel zufolge, über der Naturschönheit, weil sie von Menschen gemacht und ein Werk des Geistes ist. Aber auch die Wahrnehmung von Naturschönheit geht auf die Traditionen von Bewusstsein und Wahrnehmung, auf Kultur und, mit Hegel zu reden, auf Geist zurück. Die Reaktionen auf die Schönheit in der Kunst und die auf Naturschönheit stehen in einer Wechselbeziehung. Die Kunst lehrt uns nicht nur, die Natur auch gezielt wahrzunehmen, (wie Wilde es im Hinblick auf Dichtung und Malerei formulierte – heute setzt vor allem die Fotografie die Maßstäbe der Naturschönheit). Sondern das Schöne erinnert uns auch an die Natur als solche, an das, was jenseits des Menschlichen und des Gemachten liegt; sie weckt und vertieft damit unser Bewusstsein von der Fülle der Wirklichkeit, die uns umgibt: der unbelebten ebenso wie der belebten. Ein erfreuliches Nebenprodukt dieser Einsicht, wenn es denn eine Einsicht ist: Schönheit gewinnt so ihre Festigkeit zurück, ihre Unausweichlichkeit als Urteilsmaßstab, dessen jeder Mensch bedarf. Nur so kann er begreifen, was ihn anzieht und mit Bewunderung erfüllt. Bloß konkurrierende Begriffe wirken dagegen lächerlich. Stellen Sie sich vor, jemand würde sagen: „Dieser Sonnenuntergang isti nteressant.“

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Sonntag, 24. März 2019

Ein guter Tag

Mein Sonntag. 
Viel zu früh aufgewacht, am Computer Patience gespielt und im Fernseher Law & Order geguckt, dann Eier mit Speck gegessen und erstmal weitergeschlafen. Später auf dem Weg zu einer Verabredung schenkt mir eine Fremde auf meine Bitte um Feuer ihr Feuerzeug. Im Cafe mit einer Freundin ein schweres Thema besprochen und keine Lösung gefunden. In der Nationalgalerie Bilder von Caspar David Friedrich angeguckt, wunderschön der Mönch am Meer, befreit vom Schutzschmutz aus 150 Jahren. Zitat der Saalaufsicht: "Die Restauratorin hat acht Schichten mit einem Wattetupfer entfernt, die vier Jahre waren nicht vergeudet." In einem kleinen Restaurant lese ich mich in einem ebenfalls kleinen Buch fest, will es dem Wirt abkaufen und bekomme es ebenfalls geschenkt, Antoine de Saint-Exupérys Beschreibung seiner Reise nach den USA im Kriegsjahr 1940, eine notwendige Atempause zwischen seinen Einsätzen als Pilot der französischen Luftwaffe. 
Abends in den völlig ausverkauften Kammerspielen "Black Maria" von René Pollesch. Ohne je gekokst zu haben, stelle ich mir vor, dass das sich ähnlich anfühlen könnte, nur das man sich hier Worte einhilft, statt weißem Puder. Viele Themen, viele Behauptungen, die immer wieder in Frage gestellt und dann wiederholt werden. Widersprüche, Heftigkeiten, Verwirrungen. Selten Bon Mots, wenig Ironie, Gott sei Dank, Nachdenken, Gedanken werden gedacht und verworfen oder aus gänzlich anderer Position verteidigt.
Die Unsichtbarkeit des weißen heterosexuellen Mannes ist ein verstörendes Bild, er ist so sehr allgegenwärtig, das man seine ständige Anwesenheit als Hauptakteur nicht befragt, er wird nicht mehr als das gesehen, was er ist, eine von vielen Möglichkeiten. Repräsentation: Vertretung einer Gesamtheit von Personen durch eine einzelne Person oder eine Gruppe von Personen, nennt das Wiki.

Der Anteil von Frauen und Männern an der Weltbevölkerung ist ungefähr gleich. Derzeit leben etwa 3,82 Milliarden Frauen und 3,89 Milliarden Männer auf der Erde. 
(Fünf Fragen - fünf Antworten)

Black Maria. So nannte man das 1893 gebaute erste Filmstudio der Welt. Das Schwarz der Dachpappe, aus der es gebaut war, und seine Enge erinnerte an die schwarz lackierten Gefangenentransporter, lahme Pferdekutschen, die man "Black Maria" nannte nach dem damals berühmtesten Rennpferd. Das Haus stand auf Rollen, denn sein Dach, das man öffnen und schließen konnte, folgte der Sonne.

Ein freudiger, rasend schneller und verspielter Theater-Diskurs. Es sprechen: ein Goldgräber in Alaska, der amerikanische Träumer, Filmemacher, Abbilder und Abgebildete, die, die man sieht und die, die im Dunklen bleiben, sie reden frenetisch über Vergessen und Erinnern, auch sich an den Text erinnern, Über Anschussfehler und den KNACKS. Der Knacks, die Verletzung, die verändert, aber kein Drama erzeugt, nur alles verändert, ohne dramentauglich zu sein. Sie reden über eigentlich Alles. Mein Kopf raucht. 
Eine hochkonzentrierte Souffleuse begleitet schützend den prall sprachgefüllten Abend. Wie lernt man solchen Text?
Astrid Meyerfeldt, die ich eigentlich nicht mag, war großartig. Die anderen in unterschiedlicher Weise auch. Franz Beil ist meine Neuentdeckung.
Zweimal hinreißende Bilder, das Bühnenbildhaus aus Teerpappe mit Lämpchen als Bolzen dreht sich zur Sonne hin, die Sonne ist ein Scheinwerfer. Später, in einer runden Trommel mit Sehschlitzen sieht man die Phasen der Bewegung eines gallopierenden Pferdes, Es sieht aus wie Film, ist aber noch Photographie, diese Bilder werden dann auf das sich drehende Bühnenhaus projeziert, fliegende Pferde!
War das ein guter Abend? Für mich war es so. Aber viele Kritiken beschreiben Ermüdung durch Wiederholung. Vielleicht ist es gut, wenn man nicht zu oft ins Theater geht?

Josef Maria Eder, Professor an der Technischen Hochschule in Wien, schreibt 1884:“Die Muybridge’schen Aufnahmen der Pferde werfen alle bisherigen Theorien über den Kopf. So erhebt sich beispielsweise ein galoppierendes Pferd nicht zuerst mit den Vorder−, sondern mit den Hinterbeinen vom Erdboden. Ebenso sind in einem Moment seine Beine alle nach allen Richtungen gegen den Erdboden gestemmt, wie wenn es störrig wäre, und gleich darauf schwebt es in der Luft und hat alle Beine unter den Bauch gezogen. Mit einem Worte, alle unsere Vorstellungen und Darstellungen von der Bewegung des Pferdes waren von Anfang bis zu Ende falsch.”



Bildfolge eines galoppierenden Rennpferds. Serienfotografie von Eadweard Muybridge, erstmals veröffentlicht 1887 in Philadelphia.

Wiki:
Die Black Maria (englisch für Schwarze Maria) war das erste kommerzielle Filmstudio der Welt. Es wurde im Jahr 1892 von dem Filmpionier William K. L. Dickson auf dem Gelände von Thomas Alva Edisons Laboratorien in West Orange, New Jersey, erbaut und diente von 1893 bis 1901 als Produktionsstätte für die Filme der Edison Manufacturing Company.

Freitag, 15. März 2019

Pappplakat & Regisseuse

Vorausgeschickt: ich liebe das Wort Pappplakat und einstmals wurde Flußschiffahrt mit zwei f geschrieben, nur zwei f, weil halt ein Vokal auf den Konsonanten folgte, aber jetzt müssen wir Flussschifffahrt schreiben, weil es diese alte Rechtschreibregel nicht mehr gibt. 
Ich mag die Idiotien unserer Sprache, und ich bin hin- und hergerissen, natürlich muß und wird sich diese Sprache verändern. Aber sollte sie sich nicht natürlich verändern?

Der Sprachpurismus des 17. und 18. Jahrhunderts versuchte, aus damals durchaus ehrenwerter nationaler Gesinnung heraus, die deutsche Sprache vor Überfremdung zu retten. Das brachte uns großartige Worterfindungen aber auch alberne Ersatzlösungen. Der Gesichtserker für die Nase ist darunter wohl nur eine satirische Überhöhung.

Ich teutscher Michel
Versteh schier nichel,
In meinem Vatterland
Es ist ein schand.
Man thuet jetz reden
Als wie die Schweden
In meinem Vatterland
Es ist ein schand.

Ein jeder Schneyder
Will jetzund leyder
Der Sprach erfahren sein
Vnd redt Latein:
Welsch vnd Frantzösisch
Halb Japonesisch
Wann er ist voll und doll
Der grobe Knoll.
...
Ihr fromme Teutschen
Man solt euch beutschen
Daß jhr die Muettersprach
So wenig acht.
Ihr liebe Herren
Das heißt nit mehren
Die Sprach verkehren
Zerstöhren. 


https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Sprachpurismus 

1901 entschied die Orthographischen Konferenz Thür und Thal künftig ohne dem h nach dem t zu schreiben, aber Theater und Thron behielten ihr h, weil sie Fremdwörter waren, oder weil, wie es eine Anekdote berichtet, der Kaiser auf dem h in seinem Thron bestand. 
Die letzte Rechtschreibreform 1996 brachte uns Stängel von Stange stammend, anstatt dem bis dahin üblichen Stengel, aber Eltern blieben Eltern, obwohl sie von den Älteren hergeleitet eigentlich Ältern sein müßten.
Die Zeit und die Entwicklung der Gesellschaft und der Technologie tuen unaufgeregt auch ihr Ding, einige Wörter sterben aus, neue entstehen, Fremdwörter sind irgendwann nicht mehr als solche erkennbar, Anglizismen stehlen sich ein.

Ich verstehe den Wunsch nach gendergerechter (geschlechtsgerechter) Sprache zutiefst, aber Student*innen läßt sich schwer sprechen und Mensch*innen zerstört ein Wort um das uns englischsprechende Mensch*innen beneiden, weil sie nur das ungelenke human being haben. Der Mensch, das Mensch - Büchners Woyzeck benutzt beides. Andererseits haben es die englischsprechenden Menschen respektive Menschinnen leicht, sie haben mit ihrem "the" einen genderunbelasteten Artikel.

In unserem Sprachbereich wütet jetzt ein wahrhaft böser Streit um das generische Masculinum.

Das generische Maskulinum ist eine Gruppe von Substantiven maskulini generis, die benutzt werden, wenn man keinen Bezug auf das natürliche Geschlecht haben möchte.

Der Bäcker, die Person, der Mensch, die Sonne, der Mord, die Rettung, der Frieden, das Kind, die Liebe, der Tod, die Krankheit, die Heilung, die Gerechtigkeit, der Hass. 

Beim Schreiben geht es ja noch irgendwie, aber wie spreche ich gendergerecht? Student - Synkope - * - innen? Das klingt wie Schluckauf.
Ich selbst bin Regisseur, Regisseurin, Regisseuse? Wer, was, bin ich? 

https://www.zeit.de/2018/23/gendergerechte-sprache-rechtschreibung-duden-binnen-i-sternchen/seite-3 

Dienstag, 12. März 2019

Hissa Hilal - eine Stimme hinter dem Schleier

«Das Böse sehe ich funkeln in den Augen der Fatwas / Wenn ich die Wahrheit enthülle, kriecht das Monster aus seinem Versteck.» 

Gestern beim Rumzappen auf diese faszinierende Dokumentation gestossen. Ihr findet sie in der 3 Sat Mediathek. 
Fesselnd, bestürzend, Augen öffnend.
Das Portrait einer saudi-arabischen Dichterin, Portrait einer Frau von der wir nur die Augen sehen dürfen, selbst ihre Augenbrauen müssen bedeckt bleiben. 
Sie hat bei einer großen Poesie-Talentshow in Abu Dhabi, "Poet der Millionen", in der arabische Länder den dichtenden Superstar suchen, als einzige Frau teilgenommen und den dritten Platz belegt. Das Publikum saß übrigens, getrennt nach Geschlecht, in zwei verschiedenen Sälen.
Bitte unbedingt ansehen.

Hissa Hilal - eine Stimme hinter dem Schleier

Sonntag, 3. März 2019

Jetzt gleich, sofort, nicht erst morgen.

1972 in einem Ruderboot auf einem See im Brandenburgischen, meine erste Liebe hatte mir eine Kassette geschenkt, "Thick As A Brick" von Jethro Tull, erst Jahre später erfuhr ich mehr über Ian Anderson und seine Angewohnheit auf einem Bein stehend Querflöte zu spielen. Den Kassettenrekorder hatte ich kurz zu vor zur Jugendweihe geschenkt bekommen, er war aus dem Westen. 
Geduld mußte ich haben. 
Ein Film lief im Fernsehen oder im Kino, nur dann wenn er lief. Nicht meine Lust zählte, sondern das Programm des Ost oder West Fernsehsenders, bzw. des Kinobetreibers, Angebot und Nachfrage wurden zusätzlich ungemein verschärft und eingeschränkt durch die gnadenlosen, geschmacksfreien Zensurbehörden der DDR. Ich konnte eine Musik hören, wenn sie im Radio lief, oder ich die Platte im Besitz hatte oder einen Mitschnitt. Ich konnte einen Film sehen, wenn er im Fernsehen lief oder, eher selten, in einem Kino der DDR.
Ende der 70er kaufte meine Mutter einen VHS-Player und brachte Kassetten mit, wenn sie zu ihrem Bruder in die USA fuhr. Meine erste Erinnerung ist "Der Pate" Teil 1, ich verliebe mich in Al Pacino. Ein wenig später in Donald Sutherland's "Casanova". Diese dicken schwarzen Video-Kassetten waren mein Schatz und meine Einstiegsdroge in die Gewohnheit der Ungeduld. 
Noch 2003 in Rostock mußte ich, man mag es kaum glauben, bis zu 5 Minuten warten, bis ein Lied heruntergeladen war und der nächste Teil einer geliebten Serie lief wirklich nur einmal in der Woche.
Geduld. 
Oder sollte ich es Vorfreude nennen? Instant gratification, sofortige Befriedigung ist jetzt angesagt. Und ich bin ein Ungedulds-Junkie. Will alles jetzt und sofort sehen und hören.
Das "Game of Thrones" so lange braucht, um die letzte Staffel zu produzieren, finde ich darum großartig. Ich muß warten. Ein guter Entzug.
Ich benötige Geduld.
Gut für mich. 
Auf etwas warten zu müssen, etwas zu erwarten, erhöht mein Interesse. Gibt ihm einen Wert.


Freitag, 1. März 2019

Essen in Senftenberg

Vorausgeschickt: ich inszeniere gerade ein französisches Stück in dem außerordentlich viel gegessen wird. Ich weiß nicht, ob euch schon mal aufgefallen ist, wie in Stücken und Filmen aus Frankreich wirklich und wahrhaftig gegessen wird, während Nahrungsaufnahme in deutschen Produktionen meist Mittel zu irgendeinem künstlerischen Zweck oder beiläufiges Nebenbei ist und in US-Produktionen von außerordentlich dünnen Darstellern undefinierte Salate auf Tellern hin- und hergeschoben werden und nach dem Geschiebe die Gabel im vagen Irgendwo zwischen Teller und Mund der zerbrechlichen, meist weiblichen, Darstellerin verharrt, während sie ihre Probleme besprechen.

Essen als notwendiges Übel, als Bedrohung des perfekten Körpers, als Genuss, als Bestandteil des Lebens oder sogar als Teil der menschlichen Kommunikation.

Gedankensprung nach Brandenburg.
Laut Aussage des Statistischen Bundesamtes lag die Einwohnerzahl von Senftenberg 2015  bei 24.625 Menschen. Da es jährlich weniger werden, mögen es jetzt vielleicht noch 23.000 sein. Der Braunkohlebergbau, Stolz und Ernährer dieser Gegend, ist verschwunden, die Umgestaltung zum Naherholungsgebiet noch in der Entwicklung. 

Soweit das große Ganze, nun zum kleinen Persönlichen.
Auch wenn meine Theaterwohnung ein durchaus angenehme Küche vorweisen kann, möchte ich doch hin und wieder zwischen Probe und Probe nur schnell etwas essen gehen. Aber wo? Das Angebot ist überschaubar, ich, als verwöhnter Berliner, würde sagen, mit einem kurzen & kurzsichtigen Blick.
Fast immer verfügbar: zwei Dönerläden, ein asiatischer Imbiss, ein Grieche, ein Inder, der vermischt Asiatisches anbietet und der klassisch deutsch-irische Pub, halt der übliche globalisierte Fastfoodmansch. "Geraldine" die feine Konditorei öffnet um Eins und schließt um sechs Uhr, die andere Konditorei hat fettere, aber auch sehr gute Torten und beide servieren einen guten "Strammen Max". Im Reformhaus gibt es Fischsuppe, aber nur bis halb Drei, die schicke "Drogerie" ist ok, aber recht teuer für alle Tage, der tolle von Albanern geführte Italiener auch. 
Alles hausgemacht! Heute um 13.00 beim Mittagstisch "Wild wie Sau", gibt es keine Bratkartoffeln, weil die Burger noch vorbereitet werden müssen und Eier für Schnitzel Hamburger Art sind auch keine mehr da. Aber ich könnte Sahnenudeln haben.
ABER! Aber REWE hat von 7 bis 24 Uhr geöffnet und ist gut sortiert.
Morgen bin ich wegen Schauspielerüberbeschäftigung probenfrei und also zuhause, dann gibt es selbstgemachtes Schnitzel mit Speckbohnen!
 







Sonntag, 24. Februar 2019

Hase Hase

Zweiunddreissigmal das gleiche Stück in dichter Folge, davor zwei Monate täglich nicht immer leichte Proben. Ein höchst eigenartiges Erlebnis, en suite hatte ich vorher noch nie gespielt, meist Repertoire, ein Stück zwei- oder dreimal im Monat, wenn es fett kam, war ich in acht oder zehn verschiedenen Stücken, hatte also etwa 25 Vorstellungen im Monat. Diesmal sechs Tage die Woche Hase Hase, am Sonntag um 16 Uhr, sonst pünktlich um 20 Uhr. 1000 meist ältere Leute, die, zumindest, in der Menge, beseelt wirkten. 
Und du spielst. 
Ein Kollege hat Liebeskummer, die Grippe geht um, dein Rücken schmerzt, das Wetter wechselt, die zentrale Rolle wird umbesetzt, 
du spielst. 
Heute war gut, gestern war besser, du spielst. 
Die neue Mama hat ein unsicheres Verhältnis zum Text, du spielst. 
Ein Zuschauer lebt während Deines Monologes seinen Bronchialkatarrh aus und Du spielst, anstatt ihn in Deinen Text einzubauen. "Mein Gott, mach, das der Husten dieses Mannes besser wird."
Regie gibt Dir einen gesicherten Raum, du und die Spieler "spielen" Möglichkeiten durch. Die genaueste Möglichkeit wird gesucht und gelegentlich gefunden. 
Spielen ist dem Jetzt ausgeliefert. Es ist "live". Du bezahlst in bar. Das ist die Lust und die Leistung.
Kathi, Anna, Nelly, Markus, Raphael, Marek, Pierre, Alexandra, Florian, Philippe, Nathu, Susanne - wir haben es gut gemacht. Zuverlässig und leidenschaftlich, gemeinsam und individuell.