Donnerstag, 21. Juni 2018

Das Kopftuch

Artikel 4 des Grundgesetzes

(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin
Vom 27. Januar 2005 


Präambel: Alle Beschäftigten genießen Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Keine Beschäftigte und kein Beschäftigter darf wegen ihres oder seines Glaubens oder ihres oder seines weltanschaulichen Bekenntnisses diskriminiert werden. Gleichzeitig ist das Land Berlin zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichtet. Deshalb müssen sich Beschäftigte des Landes Berlin in den Bereichen, in denen die Bürgerin oder der Bürger in besonderer Weise dem staatlichen Einfluss unterworfen ist, in ihrem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis zurückhalten.

§ 1: Beamtinnen und Beamte, die im Bereich der Rechtspflege, des Justizvollzugs oder der Polizei beschäftigt sind, dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Das gilt im Bereich der Rechtspflege nur für Beamtinnen und Beamte, die hoheitlich tätig sind.

§ 2: Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht.


http://gesetze.berlin.de/jportal/portal/t/iaf/page/bsbeprod.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&fromdoctodoc=yes&doc.id=jlr-VerfArt29GBE2005pP2&doc.part=X&doc.price=0.0&doc.hl=0


Mein Konflikt

Erstens: 
Gott, an den ich nicht glaube, würde doch, wenn es ihn gäbe, nicht wollen, dass das Haar (Frauenhaar), welches Er erschaffen hat und dem Er zu wachsen gebot bzw. auszufallen, je nachdem, geschoren oder unter Tuch / Scheitel versteckt werden muß. Das macht überhaupt keinen Sinn, nicht einmal für Gott. Er hat angeblich das Universum und alles Existierende erschaffen, benötigt aber als Beweis unserer Zuneigung das Tragen einer Kopfbedeckung? Oder das Essen von Fisch am Freitag?
Zweitens:
Alle vorgebrachten Tanach-, Bibel-, bzw. Koranstellen, die die Verhüllung der Frau verlangen, sind höflich gesagt, vage und, wenn sie denn meinen, was interpretiert wird, halten wir uns denn ansonsten an jedes Wort dieser sehr alten Bücher? Nein, tun wir nicht. Wir wählen selektiv, was unseren heutigen Interessen dient.
Drittens:
Die Behauptung, Männer würden beim Anblick von weiblichem Haupthaar derart in Erregung verfallen, dass sie nicht an sich halten können und übergriffig werden müssen, zeichnet ein verzweifelt trauriges Bild vom Mann und ist hoffentlich unglaubwürdig.
Viertens:
Was löst unbedecktes Haar, respektive Arme, Beine, etc. von Männern bei Frauen aus?
Fünftens:
Was bringt gebildete Frauen dazu, das Tragen eines Kopftuches / Scheitels als gottgefällig anzusehen? Bitte, ein Kopftuch!?
Sechstens:
Beschneidung kleiner Jungs kann ich akzeptieren, auch wenn es sicher weh tut, aber es ist wenigstens hygienisch und beraubt die zukünftigen Männer keiner Genüsse. Beschneidung von Mädchen ist ein Verbrechen. Punkt. 
Siebtens:
Alle großen Weltreligionen, ins Extrem getrieben, sind frauenverachtend. Angstbesessene Männer dürfen ihrer bösartigen Unkenntnis und daraus resultierenden Arroganz freien Lauf lassen.
Achtens:
Meine Vorstellung von Freiheit besteht darin, dass jeder tun und lassen darf, das niemand anderen in seiner Freiheit einschränkt oder beschädigt. Das heißt auch, ein demokratisches Land darf nur verbieten, was die Freiheit der Vielen gefährdet. 


Meine unbeantworteten Fragen bezüglich des Kopftuchverbotes

Ich wiederhole, ich persönlich lehne das Tragen von Kopftüchern und ähnlichem im Dienst von religiösem Gehorsam grundsätzlich ab. 
Aber. Aber wenn es für andere so sehr ein Teil ihrer Selbstdefinition ist? 
Schadet es den Schülern, wenn ihre Lehrerin Kopftuch trägt? ich weiß es nicht. 
Eine Richterin mit Kopftuch und dem geleisteten Schwur aufs Grundgesetz, kann sie nicht Recht sprechen? Ich weiß es nicht. 
Verhaftet eine kopftuchtragende Polizistin keine Verbrecher?
Schaden wir uns, wenn wir Zeichen selbstempfundener religiöser Demut verbieten? Ich weiß es nicht. 
Was tun diese ausgebildeten Frauen, wenn wir ihnen bestimmte Berufe verbieten?
Politischer Islamismus ist höchst gefährlich. 
Jede Religion, die Politik bestimmt lehne ich ab. 
Aber. Aber können wir unsere liberale Demokratie durch Ausgrenzung schützen? 
Oder führt die Ausgrenzung zu dem, was wir eigentlich vermeiden wollen?
In der Konfrontation mit Extremisten könnten wir vielleicht unversehens, ohne es zu wollen, gegen unsere Absicht, selber solche werden. 

Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.  

Montag, 18. Juni 2018

Bologna - Die Gelehrte, die Rote, die Fette

Bologna. Die Gelehrte, die Rote, die Fette wird sie genannt, wie würde man da Berlin nennen? Gelehrt wegen der berühmten und alten Universität, nach Parma & Salerno der ältesten europäischen überhaupt. 
Rot, vielleicht weil viele Jahre Kommunisten im Rathaus saßen oder doch wegen der vielen roten Hausfassaden. Rot, Rostrot, Gelb, Orange, verwaschen oder frisch, schattiert, bröckelnd, unter manchen Fenstern hat die durch Regen verlaufene Farbe weinende Rostflecken hinterlassen.



Die Fette, weil das Essen so reich und so gut ist. Ist es wirklich.
Die Frauen sind es übrigens nicht. Fett. Dafür besitzen viele Männer stattliche Bäuche, die sie durch enge Hemden stolz betonen. 
 
Verona hatte Süße, Ferrara Strenge, Bologna ist einfach eine große, lebendige Stadt in der eine Menge alter Gebäude steht. Es lebt sich hier sicher gut. 


 Unten schmal, oben breit, clevere Lösung für mehr Raum.

Andere Variante mit Holzunterbau.

Auffällig wie gut sich viele Frauen kleiden, nicht unbedingt teuer, aber schlicht, elegant, bequem, auch die älteren Damen, auch solche, die noch viel älter sind als ich. Wenig Leggins, wenig Sportkleidung, wenig albern bedruckte T-Shirts. Sie achten auf Farbzusammenstellung, auf ihren Körperbau, sie wirken unangestrengt modisch. Erholsam, aber es gibt natürlich sogar im Juni genug Touristen in Adiletten und zu kurzen Shorts, die das schöne Bild wieder in das gewohnte abkippen.

 Das Fenster und den Efeu gibt es wohl schon eine Weile.

 Apropos guter Geschmack, Mitra mit Kreuz und Bibel.

Kinderschuhe und Bischofsstab, Torten für jede Gelegenheit.

Ragù ala bolognese 

Spaghetti Bolognese gibt es hier nicht, das ragù ist mit Tagliatelle zu essen!
Es folgt das Originalrezept, wie es am 17. Oktober 1982 von der Acca­de­mia Italiana della Cucina bei der Han­dels­kam­mer von Bo­logna hinterlegt wurde. 
 
RAGÙ CLASSICO BOLOGNESE
 
Rindfleisch grob gehackt - 300 g
Pancetta stagionata (nicht geräuchert!) - 150 g
Karotte 50 g
Stangensellerie 50 g
Zwiebel 50 g
Geschälte Tomaten 300 g
1/2 Glas trockenen Weißwein
1/2 Glas Vollmilch
Ggf. ein Schuss Sahne
Etwas Gemüsebrühe
Olivenöl oder Butter
Salz, Pfeffer
 
Zubereitung Zwiebeln, Karotte, Sellerie und Frühstücksspeck fein hacken. In einer Kas­se­rolle mit 3 EL Öl oder 50 g Butter anschwitzen lassen. Anschließend das Hackfleisch hinzugeben. Bei ständigem Umrühren wenige Minuten bei hoher Temperatur anbraten, bis es brutzelt, dann den Wein hinzufügen, den man verdünsten lässt. Erst jetzt die Tomaten und die Gemüsebrühe hinzu­fügen. Die Temperatur auf eine kleinere Stufe herunterschalten. Das ragù zugedeckt ca. 3 Stunden köcheln lassen, gelegentlich umrühren. Erst gegen Ende die Milch hinzufügen, um die Säure der Tomaten abzuschwächen. Salzen, pfeffern.  

Zum Schluss, wenn der ragù fertig ist, kann man – entsprechend der Bologneser Gepflogenheit – die Sahne hinzufügen, allerdings nur, wenn man pasta secca verwendet. Bei den Tagliatelle ist Sahne nicht üblich.

Samstag, 16. Juni 2018

Ferrara - Backstein

Ein Stein, ein Kalk, ein Bier oder, da wir in Italien sind, ein Glas Rotwein. Ferrara, die Stadt der Familie d'Este, die Stadt der Backsteinbauten, streng, distanziert, karg, eher nordisch. Renaissance meets Bauhaus.



Ferrara, einst wichtiger Verkehrsknotenpunkt zwischen Adria, Poebene und Romagna, liegt am Zusammenfluss von Po di Primaro und Po di Volano, Lehm aus dem Fluss, Asche von verbranntem Seegrass und Meersalz wurden zu Ziegeln gebacken und verbaut in Mauern, Bögen, Säulen. Die Fassaden blieben unverputzt, die Reihung der Ziegel und ihre leicht unterschiedlichen Formen und Färbungen waren Schmuck genug.



Wiki schreibt: Biagio Rossetti war ein italienischer Architekt und Stadtplaner. Rossetti war Hofarchitekt von Ercole I. d’Este in Ferrara. Ab 1490 plante Rossetti die Erweiterung und Befestigung von Ferrara. Erstmals in Europa wurden hier – bei einem mittelalterlichen Stadtkern – breite und gerade Straßen gebaut. Die von ihm entworfene Erweiterung des Stadtkerns gilt als die erste moderne Stadtplanung der Welt. Der historische Stadtkern Ferraras wurde 1997 von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt.


Louis Kahn, der berühmte amerikanische Architekt sagte seinen Schülern: falls ihr irgendwann dringend Inspiration benötigt, fragt eure Materialien um Rat. 
"Du sagst zum Ziegelstein,'Was willst Du, Ziegelstein?' Und Ziegelstein sagt zu Dir, 'Ich mag einen Bogen.'  Und du sagst zum Ziegelstein, 'Schau mal, ich will auch einen, aber Bögen sind teuer und ich kann einen Betonträger verwenden.' Und dann sagst du: 'Was denkst du darüber, Ziegelstein?' Ziegelstein sagt: 'Ich mag einen Bogen.'''


Da gieng ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Thor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen u. ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß auch ich mich halten würde, wenn Alles mich sinken läßt
Heinrich v. Kleist an Wilhelmine von Zenge

 Die Festung der d'Estes mit Burggraben und Karpfen

 Heruntergekommenes Wohnhaus 1

 Zusammengestückelter Prachtbau mit gestreiftem Turm

  Heruntergekommenes Wohnhaus 2

 Kleine Backsteinsäule zwischen Verkehrszeichen
 Wohlerhaltenes Wohnhaus

 Kleine Backsteinkirche - Der Schrei

 Strasse in Ferrara mit zunehmendem Mond und einem Stern

Freitag, 15. Juni 2018

Verona - Das heutige Thema ist: Streifen.

VERONA


Streifen: in der Art eines Bandes verlaufende Linie, 
die sich durch eine andere Farbe von der Umgebung abhebt. 
DWDS
 
Gestreifte Kirchen. Gestreifte Häuser. Gestreifte Glockentürme.
Bauten aus Backstein erbaut im Mittelalter, an der Schnittstelle von Romanik und Gothik, auf andere, ältere Gebäude drauf, um sie herum, anstelle dieser. Die Fassaden in Streifen von Ziegelstein und Tuff oder auch Travertin. Eingesetzt wurde die Musterung aus unterschiedlichen Gründen. Bestimmte Gesteinsarten waren selten und teuer und durch die Ziegelsteinstreifen sparte man am teureren Material. Andererseits konnte man durch die Verbindung der Ziegel in der Innen- und Außenmauer die Tragfähigkeit des Baus verstärken. Manchmal wurde auch noch eine dünne, weil kostspielige Lage Marmor über den Stein gelegt. Und die Streifen machen den Bau auffälliger, grandioser.

Die Helmholtz- Illusion 
Eine gefüllte Fläche wirkt größer als eine leere Fläche. Ein Rechteck aus horizontalen Linien erscheint höher und schmaler als ein identisches Rechteck aus vertikalen Linien. 
Hermann von Helmholtz



 Streifen verbinden.

Sehr dünne Streifen.

 Sehr dicke Streifen.

Unterschiedliche Streifendicke.

 Als Bauchbinde.

 Im Innenhof.

 Von Punkten unterbrochen.


Elegant als Mittelstreifen.

 
Innen auch gestreift.


Chiesa San Zeno


Nächste Untersuchung:Röntgen
"Was ist denn Röntgen?",fragte der kleine Bär.
"Durchleuchten",sagte Doktor Walterfrosch,der Röntgenarzt.
"Was ist denn Durchleuchten?",fragte der kleine Bär.
"Durchleuchten ist,wenn der kleine Tiger in den Kasten geht und von hinten mit Licht beleuchtet wird.Das Licht leuchtet durch ihn durch und vorn bin ich.
Ich sehe durch den kleinen Tiger durch,was ihm fehlt.

Aha!Ein Streifen verrutscht",rief Doktor Walterfrosch.
Und jetzt wissen wir,was dem kleinen Tiger fehlt,und zwar:Streifen verrutscht.
"Halb so schlimm",sagte Doktor Walterfrosch."Kleine Operation,Tiger geheilt."


Janosch 

Mittwoch, 13. Juni 2018

Prall gefüllte Tage

Letzten Freitag "Unendlicher Spaß" inszeniert von Thorsten Lensing und gespielt von Ursina Lardi, Devid Striesow, Sebastian Blomberg, Jasna Fritzi Bauer und anderen im Hellerauer Festspielhaus. 
Samstag Jugendweihe und Party im Brandenburgischen. 
Sonntag und Montag Wiedersehen mit einem Lieblingsmenschen im Tessin. 
Dienstag erste Urlaubsetappe am Comer See.
Hammer!

UNENDLICHER SPASS. 
Untertitel: Eine mißlungene Belustigung 
David Foster Wallace nannte sein ungeheuer dickes und ausschweifendes Werk mit Fußnoten die Menge, Ergebnis jahrelanger Arbeit, nach einem Hamlet-Zitat: 
Alas, poor Yorick! I knew him, Horatio: a fellow of infinite jest...
Ach, armer Yorick! Ich kannte ihn, Horatio: ein Bursche von unendlichem Humor...


Unendlicher Witz, aber Gott lacht immer als letzer, oder? 
Ganz wenig Bühne, ganz viel Spiel. Auch wenn mich die Geschichte, ob ihrer amerikanischen Psychopathologisierung nicht recht reißt, habe ich solche Lust an den Spielern. Ganz frei, ganz und gar nicht privat, gänzlich verschieden, sie werden Hunde und Tennischampions mit Drogenproblemen mit gleicher Ernsthaftigkeit und wildem Witz, besonders bei Striesow, manchmal auch weit über die übliche Geschmacksgrenze hinaus. Hochleistungstheater der besten Sorte. Wie olympischer Weitsprung oder Paganini auf der Geige. Sie denken, was sie reden, sie beherrschen sich und die Bühne. Ich kann nicht wegschauen, nicht dösen, will es auch nicht. Fein. Seit langem habe ich mal wieder gedacht, bei dem würde ich gern spielen.


© David Baltzer / Agentur Zenit

BOOM
Jugendweihlinge, oder wie sie an der Schule im Brandenburgischen genannt werden "Boomlinge" sind um die 14, nicht Fleisch, nicht Fisch, nicht gebacken, nicht gebraten, oder alles auf einmal. Herrlich schlau, kindisch, wissend und ahnungslos, ein toller Lebenszeitpunkt. 
Kleines gutes Detail, einer der Feiernden, dem ersten Blick nach ein Junge, nahm seine Urkunde in Stöckelschuhen entgegen und wechselte dann in ein blaues Kleid, niemand starrte oder murmelte. Vor wenigen Jahren wäre das anders gewesen, oder? 
Zweites gutes Detail, nach stundenlangem Stehen und Laufen während der Feierlichkeiten schmerzte mein Hüfte wie blöde, man nähert sich eben nicht ungestraft den Sechzigern, aber dann habe ich zweieinhalb Stunden getanzt und weg war der Schmerz, ein Wunder!

REISE
Origlio im Tessin, Menaggio am Comer See, Verona, Bologna, Ferrara und Bergamo - eine kleine Tour durch Nord-Italien. Wie viele Ortsnamen man kennt, aus Stücken, von Malern und Rezepten. Bergomasker Tanz und Julias Balkon, Bolognese und Tasso. 
Erste Etappe: Berge und See, Wolken über den Bergen, davor, aus ihnen hervorwachsend, Dunst, Nebelschwaden, Nieselregen, Granitfelsen, laubbaumbewachsene Berghänge, Städte an Strassen ohne Bürgersteige, dafür zwischen den Häusern gußeiserne Gänge in Höhe des zweiten Stocks. Nirgends das strahlende Toscana-Rot, viel schweres Grau, zerlaufenes Gelb. Mehrmals täglich Überfälle von schwerem Jasminduft. Wir fahren im Zweisitzer Cabrio, Fiat Spider durch die Landschaft und fühlen uns wie Monica Vitti.

 Der See 1

  Der See 2

  Der See 3

Der See 4

 Ist der schön?

 An der Tür alte arabische Schriftzeichen

 Nicola ist gestorben. Er war 23.

 Jasmin im Übermaß



Mittwoch, 6. Juni 2018

Edward St Aubyn - Patrick Melrose

Keine Ahnung wie ich damals auf die Bücher gestoßen bin, wahrscheinlich durch eine Zeitungsnotiz, aber ich habe alle fünf verschlungen, obwohl ich Prosa sonst nicht mehr so viel lese, wie früher.
Ich kenne die deutsche Übersetzung nicht, der Mann schreibt sehr trocken, böse, knapp, schnell und feinst ziseliert und so britisch. Er erlaubt sich über alles Witze zu machen, weil es sonst nicht zu ertragen wäre. Und auch wenn sein Spielort der englische Hochadel ist, habe ich von anderen nicht-adligen ähnliche atemstockenmachende Geschichten über Mißbrauch, Drogenflucht, Schweigen und Wut gehört. 

Never Mind, Bad News, Some Hope, Mother's Milk, At Last - die Titel der Bücher.

Neulich wieder ein kleiner Artikel über die Verfilmung der Romane als fünfteilige Serie fürs Fernsehen, mit, und jetzt kommt der Clou, denn den hatte ich beim Lesen vorm inneren Auge, Benedict Cumberbatch. 

Läuft auf Sky und mit einem Skyticket kann man damit auf dem Computer für acht Euro zwei Monate lang Serien gucken bis zum Erblinden.

Vier Folgen hab ich jetzt gesehen. Hui! Eine Reise. Die Episoden unterscheiden sich sehr voneinander, wie eine Art Sinfonie. Schnell & laut, lyrisch & schmerzhaft, mit harten Wechseln, anschwellend.

Wie Cumberbatch im ersten Teil den Junkie bis an die Grenze des Grotesken treibt ist grandios. Das habe ich, wenn auch gröber, so nur von Leonardo Dicaprio im "Wolf of Wall Street" gesehen. 
https://www.youtube.com/watch?v=T6ZVI6Ljg2M
Das ist wahnsinnig komisch und trotzdem starrt man mit Schrecken, während sich der Titelheld erniedrigt und selbstverletzt bis zur Unerträglichkeit.
Im zweiten Teil, dem vielleicht bedrückendsten, die Geschichte des einstigen Kindes. Wo findet man so einen begabten Jungen, der mir in langen Großeinstellungen komplizierte und tragische Abläufe nur mit den Augen erzählt? Hugo Weaving, alias Mister Smith in der Matrix, ist ein angsteinflössender Bösewicht und Vater, Jennifer Jason-Leigh eine dauertrunkene, nur scheinbar anwesende Mutter.
Auf einer Dinnerparty im dritten Teil, Prinzess Margaret, aka Harriet Walter, als eingebildete, ignorante Kuh, die sich Kraft ihrer blaueen Blutsuppe alles erlauben kann. Herrlich.

Bald kommt Teil fünf!

B. Cumberbatch, der deutsche Regisseur Edward Berger und E. St. Aubyn auf einem Sofa sitzend. © The Times


Zitat von St. Aubyn aus dem Times Interview:
I’ve spent 25 years being asked if I’m Patrick Melrose,” he told the magazine. “So it’s a great deal of relief to be able to say, ‘No, Benedict Cumberbatch is.’

Montag, 4. Juni 2018

Was ist Sünde?

Was ist Sünde?
Da fragt mich ein alter, geliebter Freund tief in der Nacht:  
Was ist das für Dich, Sünde? 
Sünde?
Ein gewaltiges Wort, dass ich meist nur verniedlicht verwende. Ich sündige, wenn ich einen riesigen Eisbecher esse, zu viel trinke oder rauche. Petitessen.
Sünde?
Ich übersetze es mir mit 'Schaden zufügen', aber Wiki sagt: Der griechische Ausdruck
μαρτία (hamartia) des Neuen Testaments und das hebräische Wort chata’a oder chat'at (חַטָּאָה/חַטָּ֣את) des Tanach bedeuten Verfehlen eines Ziels – konkret und im übertragenen Sinn, also Verfehlung – und werden in deutschen Bibelübersetzungen mit Sünde wiedergegeben.
Es wird also, per definitionem, vorausgesetzt, wir wollen sündenfrei & rein sein und verfehlen unser Ziel, machen uns mancher Verfehlung schuldig. Wir verfehlen das Ziel um Haaresbreite, oder um Kilometer.
Nach der Auslegung des Tanach werden drei Formen der Sünde unterschieden:
Pesha oder Mered: Absichtlich begangene Sünde, in bewusster Auflehnung gegen Gott.
Avon: Emotional begangene Sünde, bewusst, aber nicht in Auflehnung gegen Gott.
Chet: Unbeabsichtigte Sünde
Boah! Ist das eine komplizierte Frage, besonders da ich als radikalisierter Atheist keinen gesicherten theologischen Rahmen für eine Antwort habe. Immer muß ich selber denken.
Ach, wär ich doch ein Huhn. Nee.
Die zehn Gebote helfen mir wenig. Eins bis drei, interessieren mich, da ungläubig, gar nicht. Die Sabbathruhe ist für mich eher eine gewerkschaftliche Frage. Ehre Deinen Vater und eine Mutter kommt auf die jeweiligen Personen an, meine waren ehrenwert. Du sollst nicht morden. Wenn jemand mein Stief-Kind verletzen würde, oder die Lieblingsnichte, fände ich es durchaus rechtens den Schuldigen mittels Gewalt zu strafen. Ehebrechen? Kompliziert. Das eine Mal wo es mir ernst war, habe ich nicht ehebrechen wollen. Nicht stehlen. Wenn die Not groß genug wäre, würde ich alles mitgehen lassen, was nicht niet und nagelfest wäre. Nicht falsch gegen meinen Nächsten aussagen, lügen? Manchmal notwendig, selten entschuldbar. Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört. Eigentumsfragen sind ein sehr kapitalistisches Problem, oder?
Der Mensch ist gar nicht gut
Drum hau ihn auf den Hut.
Hast du ihm auf dem Hut gehaun
Dann wird er vielleicht gut.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht gut genug
Darum haut ihm eben
Ruhig auf den Hut!
b.b.
Sünde?
Ist das ein für mich relevantes Wort? 
Ja. 
Ich sündige, wenn ich unnötig hinter meinen eigenen grundsätzlichen Erwartungen zurückbleibe, weniger tue, als ich könnte, anderen gegenüber unachtsam bin oder mich vor notwendigen Auseinandersetzungen drücke. Wenn ich nicht einschreite, wenn es nötig ist, wenn mir meine Ruhe wichtiger ist, als eine nötige Reaktion, nur weil sie mir unangenehme, für mich unvorteilhafte Folgen hätte. 
Was ist das für Dich, Sünde?  
Das, was ich tue, von dem ich weiß, dass es falsch ist, dass es nicht dem entspricht, was anständig, nützlich, erforderlich wäre, dass ich tue, weil ich zu feig, zu schwach, zu faul, zu uninteressiert, zu gierig bin, um es zu unterlassen.
Ich weiß, was das Richtige ist, aber tue das Andere. 
Meine Ausreden klingen vielleicht überzeugend, sind aber nur Ausreden, Täuschungen, manchmal Selbsttäuschungen.
Wie leicht ich es mir in der Sünde gemütlich machen kann.
Auch etwas zu unterlassen, kann Sünde sein. Die Gründe siehe oben.

Was ist das für Dich, Sünde?
Den Anderen nicht mitbedenken? Ihn mißachten?
Ohne Not, wissentlich jemandem, auch mir selbst, Schaden zufügen?
Freundlichkeit, Verständnis, Hilfe unterlassen?
Nicht zuzuhören, wenn Zuhören Hilfe wäre?
Meine Mama hat mir, Gott sei Dank, wenige weise Sprüche mitgegeben. Aber einen entscheidenden: Was immer zwei, drei oder mehr Menschen miteinander tun, bei dem alle Beteiligten wissend & einverstanden sind, kann nicht Sünde sein.
Ergo: Einverständnis nicht erfragen. 
Wenn Mißbrauch, Folter, Psychose oder Dummheit nicht unsere Sinne abgestumpft haben, ist Sünde oft mit einem diffusen Gefühl von Scham verbunden.

Todsünde ist alles Böse, Schädliche das wir Kindern antun. Und Hochmut ist auch Todsünde. Anmaßung. „Wer zu Grunde gehen soll, der wird zuvor stolz; und Hochmut kommt vor dem Fall.“ (Spr 16,18 EU). Freiheit von Zweifel führt manchesmal zum Hochmut.
Mich selbst lieben, wie meinen Nächsten. Harte Arbeit. 




Sonntag, 3. Juni 2018

Ich wollte nicht ich wär ein Huhn

Ich wollt ich wär ein Huhn
oder wie es irgendein anderer Mann möglicherweise in Bezug auf das Dritten Reich formulierte: "Warum können wir nicht alle blond, blauäugig und blöd sein?"

Ich wollt, ich wär' ein Huhn
Ich hätt' nicht viel zu tun
Ich legte vormittags ein Ei
Und abends wär' ich frei

Mich lockte auf der Welt
Kein Ruhm mehr und kein Geld
Und fände ich das große Los
Dann fräße ich es bloß
Ich brauchte nie mehr ins Büro
Ich wäre dämlich, aber froh

Ich wollt, ich wär' ein Huhn
Ich hätt' nicht viel zu tun
Ich legte täglich nur ein Ei
Und sonntags auch mal zwei

Der Mann hats auf der Welt nicht leicht
Das Kämpfen ist sein Zweck
Und hat er endlich was erreicht
Nimmt's eine Frau ihm weg
Er lebt, wenn's hoch kommt, hundert Jahr
Und bringt's bei gutem Start
Und nur, wenn er sehr fleißig war
Zu einem Rauschebart
Musik: Peter Kreuder 
Text: Hans Fritz Beckmann

Ein schrecklicher Text zu einer ebenso schrecklichen Melodie. Der innige Wunsch nach Aufgabe jeder Verantwortung in harmloser Liedform.  
Dämlich aber froh.  
Ich kenne solche Leute, sie tun mir leid oder sie machen mir Angst, je nach Situation. Aber schlimmer sind die dämlichen, aber schlechtgelaunten, die die Ursache ihrer miesen unbedachten, unüberprüften Laune vor jedwede Türschwelle legen. Die Schuld an der eigenen Unzufriedenheit wird aggressiv weggestossen, blond, blauäugig und dumm schieben sie die Schuld an ihrem Unglück auf jeden, der nicht ihresgleichen ist.
"Da sehen sie es", sagt Heinrich bitter zu Riesenfeld. "Dadurch haben wir den Krieg verloren: Durch die Schlamperei der Intellektuellen und durch die Juden." "Und die Radfahrer." ergänzt Riesenfeld. "Wieso die Radfahrer?" fragt Heinrich erstaunt. "Wieso die Juden?" fragt Riesenfeld zurück.
Das Zitat ist übrigens nicht von Tucholsky, sondern aus Erich Maria Remarques Roman "Der Schwarze Obelisk".
Lied aus dem Film "Glückskinder" von 1936 gesungen von Willy Fritsch mit Lilian Harvey, Paul Kemp und Oskar Sima. Später haben die Comedian Harmonists es berühmt macht.

Freitag, 1. Juni 2018

Anti-Raucher-Bilder

Rauchen ist schlecht für die Gesundheit. Fakt. Das weiß ich und weiß jeder Raucher. 
Und wir rauchen trotzdem. Wir steigen auf "gesunde" Zigaretten um, ganz ohne Zusatzstoffe, mit einem gesunden Indianer auf der Schachtel, wir nippeln an Elektro-Ersatz-Stängeln rum, die aussehen wie schicke Asthmainhalatoren, wir kauen Nikotingummis und kleben ebensolche Pflaster, manche hören auf, gewinnen den Kampf und sehnen sich nur gelegentlich nach den alten, verrauchten verruchten Zeiten zurück.

Der Staat aber glaubt nicht an unsere Entscheidungsfähigkeit, er will uns mit "Clockwork Orange" ähnlichen Methoden das Rauchen verekeln. Noch kriegen wir keine Stäbchen in die Augen und es erklingt keine Beethoven Musik, noch gibt es nur Bilder und Sprüche auf den Zigarettenschachteln. Gräßliche Geschwüre, riesige Operationsnarben, schwarzverkümmerte Zähne. Iiiiiiiiiih. Im Bücherschrank des Vaters einer Kinderfreundin stand sein medizinisches Lexikon, und wir haben mit Vorliebe die Bilder von besonders abstoßenden Hautkrankheiten gesucht, angestarrt, um dann schreiend wegzurennen. Ich hab mir ein schönes blaues Zigarettenetui gekauft und fülle einfach um. 
Die kunstvoll in Positur gelegten Toten, Schlaganfallopfer und Trauernden finde ich eher niedlich. Wie die Babies deren Mutter sie zärtlich anqualmt.
Mein Liebling ist der in embryonaler Haltung zusammengekrümmte Mann, der dem begleitenden Spruch nach, so den Verlust seiner Potenz betrauert. Oder der Stehende, der verwundert bedrückt an sich herunterschaut. Ist gemein, aber als Frau kann ich wenigstens in diesem Punkt unbesorgt sein.
Nun gibt es ein neues Motiv, ein Unterkörper, der Form nach eher weiblich, mit einem riesigen Brandloch, da wo sich gemeinhin das Geschlechtsteil befindet. 
Was mag das Bild bedeuten? 
Rauchen läßt Vaginas explodieren? Das stimmt nicht, da bin ich sicher. Impotente rauchende Liebhaber hinterlassen Brandlöcher? Rauche nie im Bett, die Asche die herunterfällt, könnte Deine eigene sein? Oder ist es doch ein Abbild eines schlanken Mannes? Fühlt sich Impotenz an wie eine Leere. Das ist traurig



Siehst du die Gräber dort im Tal?
Das waren die Raucher von Reval.
Und siehst du die Gräber an anderen Orten?
Das waren die Raucher von anderen Sorten.
Und siehst du die Gräber dort in der Ferne?
Das waren welche, die rauchten so gerne.
Siehst du die Gräber hinterm Strauch? 
Das sind die Nichtraucher - Die sterben auch!

Donnerstag, 31. Mai 2018

Die Stadt & die Stadt von China Miéville

"We need fantasy to think the world, and to change it."
"Wir benötigen Phantasie, um die Welt zu denken, und zu ändern."
Marxism and Fantasy: An Introduction China Miéville

Ein Krimi? Ein phantastischer Roman? Eine Parabel? Der Autor hat mal gesagt, er will sich durch alle Genres schreiben.
Es gibt eine Tote, einen Kommissar, die Polizei, Verdächtige und Ermittlungen und Verfolgungsjagden, ganz wie es sich in einem Kriminalroman gehört. 
Irgendwo auf dem Balkan, zwei Städte, Besźel & Ul Qoma, oder eine geteilte Stadt? Sie existieren nebeneinander und ineinander. Die Kinder beider Seiten lernen früh, den anderen Teil und seine Bewohner nicht zu sehen. Im Englischen klingt das besser: to unsee, sie ungesehen machen. Sie laufen nebeneinander ohne sich wahrzunehmen. Sie blenden die Hälfte der Wirklichkeit aus.
Ein bisschen ist das wie ehemals in Ost-Berlin, der Westen war allüberall und doch nicht wirklich da. Als bei meiner Aufnahme in die FDJ an der Mauer plötzlich Flugblätter über dieselbe flogen, kamen sie wie aus dem Nichts. Unter meiner Kindheitsstrasse, der Friedrichstrasse, spürte man das Beben unsichtbarer, nicht bekannter U-Bahnen, der dortige S-Bahnhof hatte hinter einer undurchdringlichen Trennwand einen weiteren Bahnsteig. Straßen hörten urplötzlich auf. Und einmal hörte ich, wie eine West-Berliner Besucherin vor dem Tränenpalast ihrer Begleiterin zurief: " Bei uns hat nicht so geregnet." 
Ja, wir wurden kollektiv darauf gedrillt den westlichen Nachbarn unzusehen.

 China Miéville © Katie Cook

Zurück zum Roman - Wer die unsichtbare Grenze "überschreitet", durch falsch gucken oder gar körperlichen Grenzübergang, wird von the Breach gepackt und verschwindet. The breach = der Bruch, die Einbruchstelle, die Verfehlung, die Rechtsverletzung.
Das Tolle ist, dass der Schreiber der beunruhigenden Metaebene nie erlaubt, aufdringlich zu werden. Diese kafkaeske Welt wird beschrieben als Alltag, unangezweifelt und gewohnt. Und wie es ein anderer Leser beschreibt: "Das Geheimnisvolle darf geheimnisvoll bleiben." Am Ende, wenn der ernsthafte "Held" gegen Ende eine Verfehlung begeht, erschrickt es ihn so sehr wie mich.
Das BBC hat den Roman gerade verfilmt. Will ich sehen.
 
http://buchwurm.org/mie9ville-china-die-stadt-die-stadt-18010/