Lepage erzählt fragmentiert, mit weiten Kurven und abrupten Sprüngen über seine Kindheit im Quebec der sechziger Jahre, genauer in der Murraystreet 887, so der Titel des Abends.
Der sich erinnernde Mann. So könnte der Abend auch heißen.
Wir hören, dass er vor einigen Jahren eingeladen war bei einer Poesienacht ein Gedicht vorzutragen, auswendig, wie er beim Lernen scheiterte, wie er versuchte sich mit Hilfe einer mnemonischen Technik, dem Gedächtnispalast, zu helfen. Der Moment war sein Kaninchenloch, das Gedicht: Sprich Weiß!
Speak White (dt. „Sprich weiß“) ist eine rassistische Beleidigung, die anglophone Kanadier gegen jene benutzten, die in der Öffentlichkeit eine andere Sprache gebrauchten. Die Verunglimpfung inspirierte die Québecer Schriftstellerin Michèle Lalonde 1968 zu einem Gedicht in französischer Sprache. (Wiki)
Er dreht den Mittelteil der schwarzen Hinterwand, ein Kubus wird sichtbar und nun steht er vor einem etwas mehr als mannshohen Haus, eben jenem in der Murraystreet 87. Hinter den Fenstern beginnen sich Leute zu bewegen, ein Mann auf Krücken tritt langsam und ungelenk ans Fenster, er hat den Gebrauch seiner Beine und seine Verlobte bei einem Unfall verloren, eine betrunkene Frau stolpert die Treppe herauf, ihr Mann wartet ungeduldig tigernd in der rechten Wohnung im ersten Stock, im dritten links putzt eine Frau unmäßig intensiv das Fenster. Später wird sie nun nicht mehr als Miniaturvideo, sondern als sich durch Miniaturtechnologie bewegende Puppe, dasselbe Fenster von außen putzen.
Trailer zu 887
Er dreht den Kubus weiter, wir sehen die Seiten ansicht des Hauses, ein Taxi fährt von rechts auf die Bühne, hält, ein winziger roter Punkt glü auf. Sein Vater, ein Taxifahrer, sitzt in dem Auto und raucht eine Zigarette, er hat Dienstschluß, es ist sehr spät, auf dem Balkon der Wohnung Lepage, steht das Kind Robert und wartet auf das Heimkmmen des Vaters, über Funk kommt eine Meldung, das Taxi fährt nach links ab, der Erzähler schaut hinterher, sein Kind-Puppen-Ich legt er vorsichtig auf dem Balkon zum schlafen.
© NY Times
Und eine weitere Drehung, der Kubus wird aufgeklappt, das Zimmer des Autors wird sichtbar, in dem er versucht das verflixte Gedicht auswendig zu lernen.
Es wird noch einige Drehungen und Verwandlungen des "Gedächtnispalastes" geben, noch viele zauberische Details, magische Technologie, und alles im Dienst dieser verschlungenen Erinnerungsreise. Sehr persönlich, aber nicht privat, sehr mutig, sehr klug.
Ich muß an Robert Wilson denken, einen anderen großen nordamerikanischen Theaterregisseur, der sich panzert durch immer perfektioniertere Technik, Lepage, scheint mir, eröffnet uns durch das Nutzen moderner Technologie im Dienst des alten geliebten Theaters die Welt. Eine Freundin sagt:" Er humanisiert die Technik."
Und dann spricht, brüllt, wütet er gegen Ende, das nunmehr memorierte Gedicht in den Saal, einen Text über Klassenunterschiede, Ungerechtigkeit und Widerstand. Hui! Das würde sich in Deutschland, denke ich, momentan keiner trauen, vor lauter Angst veraltet und unmodern zu wirken.
Jetzt hätte ich fast vergessen, dass beim Applaus sich auch die 8 Techniker verbeugen, die diesen manchmal scheinbar fast improvisiert erscheinenden, aber minutiös geprobten Abend, miterschaffen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Stille_Revolution
Exzerpt aus dem Gedicht "Speak White":
...
Ah!
Speak white
Big deal
But to tell you about
The eternity of a day on strike
To tell the story of
How a race of servants live
But for us to come home at night
At the time that the sun snuffs itself out over the backstreets
But to tell you yes that the sun is setting yes
Every day of our lives to the east of your empires
There's nothing to match a language of swearwords
Our none-too-clean parlure
Greasy and oil-stained.